Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 07.06.2001, Seite 14

Stillstand ist Fortschritt…

Vor genau hundert Jahren formulierte Bertrand Russell sein berühmtes Paradox der Logik. Ein Fürst verspricht einem Barbier einen Sonderpreis, wenn er ein Jahr lang alle Männer im Dorf rasieren würde, die sich nicht selbst rasieren. Im ersten Jahr lässt sich der Barbier einen langen Bart stehen — und erhält keine Belohnung: er hätte sich rasieren müssen, da er sich nicht selbst rasiert hat. Im zweiten Jahr erscheint er glattrasiert beim Fürsten — aber wieder nichts, denn er hätte sich nicht rasieren dürfen, weil er sich selbst rasiert.
Wir wissen nicht, was z.B. der immer hübsch glattrasierte Dietmar Bartsch, Bundesgeschäftsführer der PDS, beim Rasieren für innere Kämpfe austrägt. Natürlich auch nichts entsprechendes von den Brie- Brüdern und all den anderen, die zur Zeit eine so blamable Wiederaufführung der reformistischen "Wir-müssen-salonfähig-werden"- Kampage versuchen, dass wir noch nicht einmal große Lust verspüren, die uralte Hegel-Marx-Glosse entgegen zu schleudern, dass alles in der Geschichte zweimal passiert — das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.
Aber wir wissen, dass die Geschichte in Deutschland ein echtes Paradox hinterlassen hat, über das nicht nur Logiker, sondern vor allem Dialektiker politisch nachdenken sollten: Der Untergang des nichtkapitalistischen (manche sagen sogar "sozialistischen") Deutschlands, der DDR, hat dem kapitalistischen Deutschland, das jahrzehntelang Bollwerk des Antikommunismus war und mit allen legalen und illegalen Mitteln verhindert hat, dass sich eine sozialistische Massenpartei entwickelt, gerade eine solche Massenpartei hinterlassen.
Der Sozialismus als gesellschaftliches Projekt ist fort, aber eine linke Massenpartei ist dafür wie ein Alien vom anderen Planeten zurückgeblieben. Dieses Faktum wurde just von einer Studie im Auftrag der PDS selbst bestätigt: immer noch fast 90000 Parteimitglieder, die aber erstens alt sind und zweitens eine Bindung an die Partei haben wie der legendäre Hollywood-Alien ET: "Ich will nach Hause…"
Die irdische, in diesem Fall westdeutsche Linke hat sich seit langer Zeit die Finger nach einer solchen Massenpartei geleckt, aber nun verzweifelt sie immer mehr daran, dass die probaten Mittel vom Entrismus, über Fraktionskämpfe bis zu Programmdiskussionen den Alien nicht zu beeindrucken scheinen.
Und die herrschende Klasse im kapitalistischen Einheitsdeutschland irritierte sich erst selbst mit den bekannten, mehr oder weniger repressiven Kampagnen à la "I-gitt, die Kommunisten", um aber jetzt auf die kluge Idee des Fürsten mit seinem Barbier zu kommen, oder besser: sich über diese zufällige Entwicklung zu freuen. Die Sonderprämie lockt und die PDS rasiert sich, entschuldigt sich für alle, die sich nichts selbst rasieren und entschuldigen können oder wollen.
Aber die Prämie bleibt genauso aus, als wenn sie das Gegenteil tun würde. Mission impossible.
Wir raten in einem solchen Fall: nichts tun. Dem Alien wird hier ebensowenig eine Heimat besorgt, wie sein Heimatplanet des stalinistischen Feudal-Sozialismus auf die Erde fallen wird. In diesem Sinne ist es gut und nicht borniert bürokratisch, wenn Genosse Bartsch sich offen dazu bekennt, den Programmentwurf der Linken gar nicht zu lesen: "Ich bin kein solcher Anhänger des Trotzkismus, dass ich das selbst lesen muss."
Dieser Republik und der Notwendigkeit, sie in eine authentisch sozialistische zu verwandeln, ist am besten gedient, wenn die PDS so bleibt wie sie ist: ein Mahnmal an die Herrschenden, dass es auch noch andere Planeten als den Kapitalismus gibt, und ein Mahnmal an die Linken, dass der Sozialismus der DDR kein Modell sein kann. Solange die PDS aufgrund ihres historischen Erscheinens aus den Trümmern eines Sieges des Kapitalismus ein wenig Pfahl im bürgerlichen Fleisch bleibt, ist es gut. Aus den Trümmern dieses Sieges allerdings eine sozialistische Massenbewegung und - partei gegen den hier und heute agierenden Imperialismus zu basteln, das wird nicht gelingen.

Thies Gleiss

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