Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 07.06.2001, Seite 15

Zehn Tote für Irland

Vor über zwanzig Jahren, am 5.Mai 1981, starb Bobby Sands, der erste der zehn hungerstreikenden republikanischen Häftlinge, deren Agonie des Fastens eine entscheidende Wende in der Geschichte der republikanischen Bewegung und Nordirlands kennzeichnete.

Bobby Sands, Francis Hughes, Ray McCreesh, Patsy O‘Hara, Joe McDonnell, Martin Hurson, Kevin Lynch, Kieran Doherty, Tom McElwee und Mickey Devine starben zwischen dem 5.Mai und dem 20.August. Ihre Forderungen, die "5 Forderungen", lauteten: keine Gefängniskleidung; keine Arbeit im Gefängnis; das Recht auf einen Besuch in der Woche; Vereinigungsmöglichkeit mit anderen politischen Gefangenen; Wiederherstellung des Begnadigungsrechts. Die Forderungen sollten ein Gefängnisstatut wieder etablieren, von dem ihre vor 1977 verurteilten Kameraden profitiert hatten.
Um den Hungerstreik zu verstehen, muss man bis auf das Ende der 60er Jahre zurückgehen, als die Bürgerrechtsbewegung die Rechtsgleichheit für die nationalistische Bevölkerung im kleinen in Nordirland von den Briten geschaffenen künstlichen Staatsgebilde mit elementaren Forderungen beanspruchte: Wahlrecht für alle bei den Kommunalwahlen, Recht auf Arbeit und auf Wohnung.
Die brutale Unterdrückung friedlicher Demonstrationen und die Jagd auf "Papisten" seitens der Unionisten und ihrer Milizen 1969 hatte zwei Konsequenzen: die Flucht nach Süden von hunderten terrorisierter Familien und die Wiedergeburt der Irisch- Republikanischen Armee (IRA), die seit dem Scheitern der Kampagnen der 50er Jahre marginalisiert worden war.
Nach der Ankunft britischer Truppen, die angeblich die nationalistische Bevölkerung schützen sollten, brechen alle Illusionen zusammen. Zu den Schikanen der Loyalisten kommt nun noch die polizeiliche und militärische Repression dazu. Die IRA bildet den einzigen Schutz für die katholischen Viertel, und die Jugend strömt massenhaft in ihre Reihen.
Seit 1972 schicken Schnellgerichte hunderte zu äußerst schweren Strafen verurteilte junge Leute in das Gefängnis von Long Kesh bei Belfast. Nach einem Hungerstreik von 35 Tagen erhalten sie einen Status, der dem von Kriegsgefangenen nahe kommt.
Es ist eine Labour-Regierung, die diesen Status für alle nach dem 1.März 1976 verurteilten Gefangenen wieder außer Kraft setzt. Die britische Regierung hat den Waffenstillstand gebrochen und bemüht sich die Weltmeinung vom mafiosen und terroristischen Charakter des nationalen Befreiungskampfs zu überzeugen. Sie muss also mit einem Gefangenenstatus brechen, der ihrer These widerspricht.
Sie lässt neue Baracken in Long Kesh errichten, den berüchtigten H-Block, um dort diejenigen einzusperren, die nicht mehr denselben Status haben werden wie ihre Kameraden. Sie werden als Kriminelle behandelt, was für die republikanischen Aktivisten nicht akzeptabel ist.
Am 14.September 1976 ist Kieran Nugent der erste IRA-Kämpfer der unter dem neuen Regime verurteilt wird. Er weigert sich, Anstaltskleidung zu tragen und wird nackt in seine Zelle verbracht.
Dies ist der Anfang eines äußerst beschwerlichen Kampfes, währendessen die gefangenen Kämpfer von IRA und INLA [Irish National Liberation Army, der bewaffnete Arm der Irish Republican Socialist Party (IRSP)] ausgehungert und nackt unter dünnen Decken in eiskalten Zellen leben, ohne das Recht auf Hofgang, praktisch von der Welt abgeschnitten, von den Wärtern geschlagen und gedemütigt.
Es folgt ihre Weigerung, die Zellen zu verlassen, und ein Hygienestreik, dem sich ihre Kameradinnen im Frauengefängnis von Armagh anschließen. Ab 1978 bleiben die Häftlinge in den stinkenden Zellen eingeschlossen.
Trotz des unerschöpflichen Einfallsreichtums bei der Kommunikation mit anderen Zellen und der Außenwelt wird die Situation unerträglich. Am 27.Oktober 1980 verkündet [die mit der IRA verbundene Partei] Sinn Féin den Beginn eines Hungerstreiks. Er wird [nach 53 Tagen] im Glauben an Versprechen beendet, die nie gehalten werden.
Bobby Sands beginnt seinen Hungerstreik am 1.März 1981 auf der Grundlage der oben genannten 5 Forderungen, und der Hygienestreik wird beendet. Alle wissen, dass Bobby Sands bis zum Ende gehen wird. Am 10.April wird er bei einer Nachwahl von Fermanagh-South Tyrone ins britische Unterhaus gewählt. Die Gefangenen können sich nicht zurückhalten und trotz der Anweisung, ruhig zu bleiben, um vor den Wärtern versteckte Radios zu verbergen, hallt das Gefängnis von ihren Freudenschreien wider. Alle denken, dass die Unterstützung der nationalistischen Bevölkerung, die sich bereits in gewaltigen Demonstrationen gezeigt hat und durch die Wahl bestätigt wurde — trotz der Kandidatur der gemäßigt-nationalistischen SDLP im selben Wahlkreis —, Bobby retten wird.
Ein Abgeordneter in Westminster! Es war eine schmerzhafte Entscheidung für die seit 1922 abstensionistische republikanische Bewegung, denn sie erkennt die Legitimität des Ministaats im Norden nicht an. Aber Thatcher schert sich nicht um die internationale Meinung. Ob gewählt oder nicht, Bobby Sands widersetzt sich dem britischen Empire. Er hat die Frechheit gehabt zu beweisen, dass die republikanische Bewegung keine Bande isolierter Krimineller ist.
Die Europäische Menschenrechtskommission interveniert, viel zu spät, und versucht, Bobby Sands am 24.April zu besuchen, aber sie ist nicht fähig, von London die Anwesenheit [der Sinn-Féin-Führer] Gerry Adams und Danny Morrison zu erzwingen, die Sands verlangt hatte.
Bobby Sands stirbt am 5.Mai. Die folgenden vier Monate sind schrecklich; es gibt eine Reihe von Demonstrationen, aber die Hungerstreikenden sterben einer nach dem anderen: Francis Hughes am 12.Mai, Ray McCreesh am 21., Patsy O‘Hara (INLA) am 22.Mai. Der Juni bietet einen Aufschub, aber am 8.Juli stirbt Joe McDonnell, Martin Hurson am 13.Juli, Kevin Lynch (INLA) am 1.August. Kieran Doherty, wenngleich am 11.Juni als Abgeordneter gewählt, stirbt am 2.August.
Eine bleierne Decke aus Verzweiflung und ohnmächtiger Wut legt sich auf die nationalistischen Ghettos. Tom McElwee stirbt am 8. und Mickey Devine (INLA) am 20.August. Die Familien der anderen Streikenden geben, nervlich am Ende und unter dem Druck seitens der katholischen Kirche und der britischen Behörden, die Genehmigung zur künstlichen Ernährung der Hungerstreikenden, die ins Koma gefallen sind. Der Hungerstreik hat keinen Sinn mehr, er wird beendet.
Aber die Folgen des Hungerstreiks werden immens sein. Er hat die nationalistische Bevölkerung zusammengeschweißt und eine weltweite Solidaritätsbewegung ins Leben gerufen. Er hat Jahre der Propaganda zunichte gemacht und die "Kriminalisierung" scheitern lassen: die britische Regierung sieht sich, nachdem sie kaltblütig zehn junge Männer ermordet hat, der Verurteilung durch die Weltöffentlichkeit gegenüber.
Innerhalb der republikanischen Bewegung sollte sich auch einiges ändern. Die junge Generation hat ihre totale Hingabe und ihre politischen Fähigkeiten bewiesen. 1986 übernimmt sie das Ruder der Bewegung auf der Grundlage des Programms "Armalite [Sturmgewehr] und Stimmzettel". Ohne dem bewaffneten Kampf abzuschwören bricht sie definitiv mit der abstensionistischen Politik. Nur eine kleine Minderheit um Ruairi O‘Bradeigh bleibt bei der Position des bewaffneten Kampfes als alleiniges Mittel zur Befreiung, spaltet sich ab und bildet die Continuity IRA.
1987 wird Gerry Adams zum Abgeordneten von West-Belfast gewählt. Im August 2000 schließt das Gefängnis von Long Kesh seine Pforten nach der Freilassung des letzten Häftlings.
Der Hungerstreik hat die Strategie der republikanischen Bewegung völlig verändert und seine einschlagende Wirkung hat ihn zu einem der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des noch lange nicht beendeten Konflikts in Nordirland gemacht.

Mireille Terrin

Aus: Rouge, Nr.1924, 24.5.2001.



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang