Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 31.08.2001, Seite 2

Argentinien

Protest und Hoffnung

von GUILLERMO ALMEYRA

Der Umfang der Mobilisierungen gegen die Politik der argentinischen Regierung bzw. gegen die der Banken und des internationalen Finanzkapitals ist gewaltig und wächst weiter. Die Mobilisierungen werden von der katholischen Kirche und anderen Konfessionen unterstützt, und der Protest gegen die Lohnkürzungen umfasst auch Teile der Polizei und sogar des Heeres, das sich außerdem durch die Schließung der argentinischen Basen in der Antarktis — eine Forderung der britischen Regierung! — beleidigt fühlt.
Die Märsche, Mobilisierungen, Straßensperren und Streiks stechen vor allem durch die aktive Beteiligung der Bevölkerung, einschließlich der Studierenden und sehr junger Menschen, sowie durch die Führungsrolle hervor, die die organisierten Arbeiterschaft — Erwerbstätige wie Erwerbslose —, einige gewerkschaftliche Organisationen wie die "Kämpferische Strömung der Klasse" (CCC), vor allem aber die Central de Trabajadores Argentinos (CTA) darin spielt. Dies hat selbst die korruptesten Gewerkschaftsbürokratien wie die der CGT (Confederación General de los Trabajadores) gezwungen, sich einigen nationalen Ausständen anzuschließen. Aber es fehlen Bündnispartner unter den im Parlament vertretenen Parteien, obgleich an den Mobilisierungen viele linke Gruppen beteiligt sind.
Das Abkommen mit Finanzminister Domingo Cavallo, dem IWF und der ganzen Bande von vereinten Plünderern der Radikalen Partei und der Peronisten, die im Parlament die Mehrheit haben und an der Macht kleben, wären kein entscheidendes Hindernis, wenn der in den Mobilisierungen zum Ausdruck kommende soziale und nationale Block die Ebene des Protests überwände und ein gemeinsames alternatives Programm vorbrächte, ein Projekt für ein anderes Land.
Es müsste sagen, was mit der Auslandsschuld (mehr als 130 Milliarden Dollar in einem Land, dessen Bevölkerung kaum ein Drittel derjenigen Mexikos und ein Fünftel derjenigen Brasiliens ausmacht) geschehen soll; wie der gemeinsame Markt Mercosur zum Wohl der Arbeitenden und nicht der Großunternehmen umzubauen ist; wie der innere Markt, die Bildung, die Finanzen und auch die Hoffnung neu aufzubauen sind. Denn um einen Wandel zu erreichen, reicht der Protest nicht aus, sondern dafür ist Hoffnung nötig.
Der Widerstand kann wachsen und die Moral der von der Krise betroffenen stärken, aber er muss über sich hinauswachsen und sich in ein alternatives Projekt verwandeln, wenn man nicht will, dass andere Kräfte auf dem Rücken der Mobilisierung die Regierung übernehmen. Oder dass er in der sozialen Desintegration mündet, die sich heute in zunehmender Kriminalität und Auswanderung widerspiegelt, in einer Lösung, die keine ist, nämlich das soziale Chaos. Vor allem weil die Devisenreserven weiter aus dem Lande abfließen und die Steuereinnahmen im selben Rhythmus sinken wie die Beschäftigung.
Die Aufrechterhaltung der argentinischen Schuldknechtschaft steigert die Verzweiflung breiter Schichten von Kleinproduzenten und der (in Dollar verschuldeten) Mittelklasse in gleicher Weise wie die Aggressivität und Gier der mit dem Finanzkapital verbundenen golden boys.
Der Zusammenstoß zwischen den Klassen wird jeden Tag unerbittlicher. Alle, auch in den Stadtteilen, sind ständig mit Versammlungen und politischen Abstimmungen beschäftigt, die sich auch und vor allem außerhalb des Parlaments abspielen. Nötig ist ein Plan der nationalen Rettung und der Kriegswirtschaft, der die Kaufkraft der Arbeitenden und den inneren Markt wieder herstellt und die Deindustrialisierung stoppt. Ein Plan, der die Reichen enteignet und den Armen und dem Land wiedergibt, was ihnen geraubt wurde; ein Plan, der Verbindungen schafft zu den Arbeitenden der anderen Länder des Mercosur, um den unvermeidlichen Druck seitens der USA aufzuhalten, wenn das Land erklärt, dass seine Außenschuld bereits abbezahlt ist und daß es künftig seine Ressourcen, die bislang ins Ausland abfließen, für die Entwicklung im Inneren verwenden wird — über die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts dient der Abtragung des Schuldendienstes; die Auslandsschuld ist auf mehr als das Vierfache der nationalen Jahresproduktion angewachsen.
Dieser Minimalplan muss von einem sozialen Bündnis verteidigt werden, das dem oppositionellem Block, der heute protestiert und demonstriert, eine politische Form verleiht. Argentinien benötigt eine Alternative, eine Hoffnung.

Aus: La Jornada (Mexiko-Stadt), 19.8.2001

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