Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 31.08.2001, Seite 2

‘Wir brauchen einen wie Wallraff‘

In einem Streitgespräch mit Günter Wallraff, sagte der ehemalige Chefredakteur von Bild, Hans-Hermann Tiedje, er habe "mindestens zehn Mal in unserer Redaktion gesagt: Wir brauchen einen wie Wallraff. Wo sind Reporter, die hingehen, beobachten, alles in sich reinziehen und es dann Punkt für Punkt zu Papier bringen? Die Erlebnismitteilungen schreiben. Und nicht Feuilletonisten, die theoretisch über irgendetwas schwafeln."
Wieso aber hatte ausgerechnet die Zeitung Metall Wallraff beauftragt, in Betrieben zu arbeiten, um über sie zu berichten? Waren die Betriebsräte und Vertrauensleute der IG Metall nicht am besten geeignet hierüber zu informieren? Die Metall- Redaktion wunderte sich darüber, dass sie zwar sehr viele Leserbriefe erhielt, diese jedoch politische, soziale, wirtschaftliche Fragen betrafen, aber die eigenen Probleme am Arbeitsplatz kaum jemals zur Sprache brachten. Die Redaktion wollte deshalb einen Journalisten vor Ort hierüber für die Zeitung schreiben lassen.
Die Redaktion hatte nicht damit gerechnet, dass viele Betriebsräte nach der Veröffentlichung von Wallrafs Reportagen in "ihrer" Zeitung nicht sehr glücklich waren. Immerhin schilderte Wallraff, dass sich der durch Schicht- und Nachtarbeit, Überstunden, Lärm und Arbeit am Fließband verursachte Stress bis ins Privatleben und sogar auf das Sexualleben auswirkte.
Einige Betriebsräte behaupteten, all dies würden nur journalistische Intellektuelle so sehen, die an körperlicher Arbeit nicht gewöhnt seien. Mitglieder der Redaktion begleiteten Wallraff zu Diskussionen mit den Betriebsräten, die allerdings nicht leugnen konnten, dass die in den Reportagen angeführten Tatsachen der Wahrheit entsprachen.
Es gab jedoch auch Vorfälle, die den IG-Metall-Vorstand auf den Plan riefen. So die Reportage über einen Stahlbetrieb in Paderborn mit etwa 3000 Beschäftigten, von denen nur 30 organisiert waren, und in dem katastrophale Zustände herrschten. Da niemand es dort wagte, Metall zu verteilen, fuhren Redaktionsmitglieder schon zur ersten Schicht frühmorgens nach Paderborn, um dies selbst zu tun.
Als die Metall-Redaktion der sowjetischen Gewerkschaftszeitung Trud die Erlaubnis erteilte, Wallraffs Reportage nachzudrucken, forderte die Betriebsleitung des Paderborner Stahlwerks vom IGM-Vorstand eine Entschädigung von einer Million Mark, weil ihr durch diese Veröffentlichung Stahlaufträge für die UdSSR entgehen würden.
Die letzte Fortsetzung der Wallraff-Reportage über ein deutsches "mitbestimmtes" Stahlwerk durfte allerdings aufgrund des Drucks seitens des Arbeitsdirektors auf den IGM-Vorstand (in dem Aufsichtsratsmitglieder dieses Stahlwerks saßen) von Metall nicht mehr veröffentlicht werden.
Brauchen wir aber heute nicht wieder einen Wallraff, der über die wirkliche Lage in den Betrieben berichtet, in denen die Erwerbslosigkeit missbraucht wird, um durch erpresserischen Druck auf die Beschäftigten, diese zu zwingen, durch gewerkschaftlichen Kampf erzielte Errungenschaften "freiwillig" aufzugeben? Und könnten wir so nicht auch erfahren, ob es tatsächlich keine Alternative zu den Zwängen der Weltmarktkonkurrenz gibt?
Oder hat der NGG-Gewerkschaftssekretär Jürgen Hinzer nicht doch Recht, wenn er behauptet, es käme allein auf den gewerkschaftlichen Willen zum Widerstand an, ob die Arbeitenden bereit sind, sich zur Wehr zu setzen. Immerhin hat er durch Mitorganisierung von hundert Streikkämpfen und sein Wagnis, sich mit dem Weltkonzern McDonald‘s anzulegen, in dessen 1100 deutschen Niederlassungen es nur 50 gibt, die einen Betriebsrat haben, bewiesen, dass die Bereitschaft zu kämpfen durchaus vorhanden ist.

Jakob Moneta

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