Sozialistische Zeitung |
Arbeitslos sein ist in diesen Zeiten nicht eben einfach, und viele fanden sich wohl in ein Wirrwarr widerstreitender Gefühle
gestürzt: eben noch von allen Seiten der volksschädlichen Faulpelzerei geziehen und darob geprügelt, finden wir uns nun nahezu lückenlos
umstellt von FreundInnen und FürsprecherInnen, denen nichts mehr am Herzen zu liegen scheint als unser Wohlergehen. Und besonders verwirrend: eben die, die
gerade noch die Keule am heftigsten schwangen, streiten nun am beredtesten für uns und unsere Interessen. Etwas überaus Dramatisches muss sich ereignet
haben, um solchen Sinneswandel auszulösen. Was war passiert?
Am 27.Juni schrieb die Frankfurter Rundschau unter dem Titel "Abgesang auf eine kleine
Revolution": "dass es nach dem Scheitern des Volkswagenmodells 5000 mal 5000 keine Gewinner gibt, dass im Grunde alle verloren haben, vor allem
jene 10.000 Arbeitslosen, die sich nach Angaben des VW-Konzerns schon bei den Arbeitsämtern in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt oder direkt beim
Unternehmen beworben hatten." Über die Schuldigen konnte kein Zweifel bestehen: "Gewerkschaften dies ist eine Lehre der gescheiterten
Verhandlungen vertreten im grauen Alltag eben in erster Linie die (Lohn-)Interessen der Arbeitsplatzbesitzer und nicht die der Erwerbslosen."
Ebenfalls am 27.Juni ließ die Hannoversche Neue Presse den Hauptgeschäftsführer des
Verbands der Metallindustriellen Niedersachsens, Dietrich Kröncke, sagen, die gescheiterten Gespräche seien "ein Schlag ins Gesicht der 10.000
Arbeitslosen, die auf einen Job gehofft hatten der zudem für drei Jahre garantiert gewesen wäre".
Bild-Hannover wusste gar zu vermelden: "Es gibt schon über 40.000 Bewerbungen bei
VW". Tags drauf allerdings stellte die HNP, "Arbeitsmarktexperten" zitierend, klar: "Da alle Arbeitsämter Bewerber an VW verwiesen
hätten und dort nur 4000 gezählt worden seien, sei diese Zahl die realistischste."
Aber ob nun 4000, 10.000 oder 40.000 mit den Hoffnungen, Chancen und der schnöden
Realität hat es eh eine besondere Bewandtnis: wenn Angebot und Nachfrage so eklatant auseinanderfallen wie auf dem Arbeitsmarkt, bleiben in der Realität
immer Legionen Enttäuschter zurück.
Im Fall "5000 mal 5000" wurden die Medien ihrer nationalen Verantwortung allerdings
gerecht, denn da war er wieder: der "Interessengegensatz" zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Erwerbslosen; die eigentliche, einzige Klassenspaltung unserer
Gesellschaft, mutwillig herbeigeführt von den Gewerkschaften, die ohne Not und aus purem Egoismus die Gemeinschaft aller Altruisten aufgekündigt und damit
zerstört haben.
Doch jenseits dieser von den "bösen Gewerkschaften" angezettelten Spaltung herrscht
eigentlich Interessenidentität zwischen Kapital und Arbeit. Bereits am 15.Mai 2001 ließ Peter Hartz, im Vorstand des VW-Konzern
zuständig für Personalwesen der staunenden Öffentlichkeit verkünden: "Unser Modell wird Aktionäre und Arbeitslose freuen."
Das Modell, das jetzt so viel Aufregung verursacht, wurde bereits im Spätherbst 1999 formuliert. In einem nur schwer erträglichen neoliberal-
sozialdarwinistisch gewendeten Management-Neusprech, das interessengeleitete Entscheidungen als bloßen Vollzug anonymer Sachzwänge vorführt,
wird dort dargelegt, um was es gehen soll: Mit einem "Wettbewerbskonzept für neue Arbeit" "an internationale Standorte verlorene
Fertigungsumfänge zurückzuholen", und zwar mittels "eines weiterentwickelten Geschäftsprozesses auf der Basis eines neuen
Arbeitsmodells mit Programmentgelt", wodurch "Deutschland im Vergleich auch zu europäischen Low-cost-Standorten voll wettbewerbsfähig
darstellbar wird" (dieses und die anderen Zitate entstammen dem Konzeptpapier).
Realisiert werden sollte dies im Wolfsburger VW-Werk, wo gerade Produktionskapazitäten
freigeworden waren, weil die Konzernleitung beschlossen hatte, die geplante Fertigung des Modells Colorado lieber an europäische Niedrigkoststandorte
"verloren" gehen zu machen. Doch um der Geltung des VW-Haustarifs zu entgehen, wäre es nötig gewesen, eine eigenständige
"Business Unit" zu gründen, eine innerhalb des VW-Konzerns unabhängige GmbH.
Es geht also wohlgemerkt nicht um die Konkurrenz zwischen verschiedenen Automobil-Produzenten,
sondern um die Konkurrenz verschiedener Fertigungsbetriebe ein- und desselben Herstellers, freilich mit dem Ziel, dass alle einzelnen "Standorte" für
sich genommen und erst recht alle zusammen den höchstmöglichen Profit abwerfen sollen.
Bei dem Modell geht es jedoch um viel mehr als eine bloße Veränderung der
Arbeitsorganisation: um "voll wettbewerbsfähig darstellbar" zu werden, "soll eine Business Unit einschließlich eines Lieferantenparks
ganzheitlich den gesamten Geschäftsprozess neu definieren und organisieren: Alle Bereiche und Funktionen des Unternehmens (einschl. Betriebsrat) würden
grundsätzlich in die Business Unit vor Ort integriert und dem Selbstregelungsmechanismus der strikten Bedarfsorientierung bis hin zum Aufgabenentfall
ausgesetzt."
Die Teams in diesem Modell sollten also nicht nur für die Fertigung im engeren Sinn, sondern
für alle vor- und nachgelagerten Bereiche, von der Beschaffung bis zur Qualitätskontrolle und zum Vertrieb, verantwortlich sein. Und weil die Teams selber
für alle Produktionsstufen verantwortlich sind, setzen sie sich gegenseitig unter Druck: "Ein Team prüft und informiert das andere Team … Standards
steigern sich, welche Qualität annahmefähig und weiterzuverarbeiten ist."
Ziel war eine Fertigung "von rund 1000 Fahrzeugen arbeitstäglich … In der Spitze
würden ca. 12001300 Fahrzeuge durch arbeitsorganisatorische Maßnahmen gebraucht."
Die Durchlaufzeiten der Kundenaufträge sollten verkürzt, die Flexibilität mittels
modernster Produktions- und Kommunikationstechnik sowie Abbau von Zwischenlagern erheblich erhöht werden. Zur optimalen Ausnutzung der
Produktionskapazitäten sollte das Ganze an sechs Tagen im 3-Schichten-Betrieb ablaufen, auch die möglichst weitgehend flexibilisiert: "Arbeitszeit wird
in diesem unternehmerischen Arbeitsmodell nicht länger durch feste Schichtpläne organisiert."
Im Klartext hätte das Arbeitszeiten von bis zu 60 und im Halbjahresschnitt bis zu 48 Stunden pro
Woche bedeutet!
Warum auch nicht: schließlich beträgt die jährliche Lebenszeit eines Menschen 8760
Stunden, doch davon werden nur 1060 im Basismodell der VW-Woche als bezahlte Grundarbeitszeit derzeit abgerufen.
Alle MitarbeiterInnen sollten "grundsätzlich" am gleichen Entgeltmodell teilnehmen und 4500 DM plus Arbeitgeberbeiträge zur
Sozialversicherung monatlich bekommen. "Halbjährlich wird der Bonus in Höhe von monatlich 500 DM ausgezahlt. Hinzu kommt eine
Ergebnisbeteiligung oberhalb des Erreichens der geplanten operativen Ergebnisse Programmeinhaltung unterstellt." Mit dem Bonus sollten sämtliche
Zulagen (für Schicht-, Feiertags-, Nachtarbeit etc. und für Überstunden) pauschal abgegolten sein.
Die Medien begleiteten die "heiße Phase" der Verhandlungen in zu erwartender Weise:
praktisch nie wurde der Gegenstand der Auseinandersetzungen und daher auch die "Rollenverteilung" korrekt dargestellt. So wurde, als VW noch auf dem
Ausschöpfen des gesetzlich Zulässigen beharrte, von Arbeitszeiten bis zu 48 (statt eben 60) Wochenstunden geschrieben; als VW seine Forderung auf 42,5
Stunden reduzierte, hieß es, es gehe um 35 Stunden "wertschöpfender Arbeit" plus 7,5 Stunden "Qualifikationszeit", obwohl VW 35
Stunden Wertschöpfung, 2,5 Stunden Qualifikation und weitere 5 Stunden forderte, die auch der Qualifikation, vor allem aber der "Nacharbeit"
(Qualitätssicherung!) und Teamabsprachen ("Kommunikationszeit") dienen sollten.
Die IG Metall allerdings beharrte bis zum Schluss auf der im Flächentarifvertrag festgelegten 35-Stunden-Woche, zuzüglich 2,5 Stunden Qualifikationszeit, die
ebenfalls bezahlt werden sollten, auf Basis des auf eine 35-stündige Wochenarbeitszeit bezogenen Monatsentgelts. Erst als die Einstellung von Arbeitslosen für
das Modellprojekt zugesagt wurde, war die IGM bereit zu akzeptieren, dass ein Teil der Qualifizierung auch in die "Freizeit" fallen könnte.
Zum anderen wurde verschwiegen, dass es derzeit überhaupt nicht um 5000 Neueinstellungen (3500
in Wolfsburg für die Produktion des Mini-Vans AMVP, weitere 1500 evtl. in Hannover für den Micro-Bus) ging, sondern um das Heuern von zunächst
1500 "Trainees" ab September 2001 bis September 2002, dann Produktionsaufnahme mit diesen 1500 und sukzessive Aufstockung auf 3500 bis frühestens
September 2003. Gesamtlaufzeit des Projekts bis September 2004.
Die IG Metall hatte also gute Gründe, die Verhandlungen um eine Rahmenvereinbarung für
dieses "Pilotprojekt" für gescheitert zu erklären:
Erstens hätten die Vorschläge des Konzernvorstands nicht nur zunächst
für die Business Unit den Haustarif außer Kraft gesetzt und sogar noch den Flächentarifvertrag (Arbeitszeit und Entgelt ins Verhältnis
gesetzt) deutlich unterschritten, was ja wohl auch Zweck der Übung war, denn: "Auf der Basis der bisherigen Tarifverträge kann es nicht ewig
weitergehen", so VW-Sprecher Fred Bärbock.
Die Rede vom "Modell-" oder "Pilotprojekt" war also durchaus ernstzunehmen:
erprobt werden sollte eine völlige Umstrukturierung der bisherigen industriellen Produktionsweise. Und natürlich wären im Erfolgsfall
sofortige Versuche zu erwarten gewesen, dies Modell zu übertragen: nicht nur auf andere VW-Werke, sondern ebenso auf andere Autoproduzenten und letztlich auf
alle Industrien, in denen es ebenfalls realisierbar erschiene.
Zweitens aber hätte das Modell "5000 mal 5000" zur Ablösung bisheriger
Arbeitsverhältnisse (Übertragung des Rechts der Anwendung der Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit unter bestimmten Bedingungen zu einem
bestimmten Entgelt auf den Kapitaleigner) durch Werkverträge geführt (Ablieferung eines fertigen Produkts mit bestimmten Merkmalen zu einem festgesetzten
Preis, wobei alle Risiken auf Seiten des Vertragsnehmers liegen). Die Kapitaleigner könnten sich dann auf die Realisierung des Profits beschränken. Fehlte nur
noch, dass die Teams der Business Unit die Produktionsmittel mieten und die Umsatzrendite gleich in cash überweisen!
Zusammengefasst: Erwerbslose zumindest die, deren Perspektive nicht "Arbeit um jeden
Preis" heißt haben dieses Mal keinen Grund, den Gewerkschaften Verrat ihrer Interessen vorzuwerfen. Und die, die in den Medien beklagen, die
Arbeitslosen habe niemand gefragt, haben uns natürlich auch nicht gefragt.
u-dur
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04