Sozialistische Zeitung |
Zu einem Plädoyer für eine Regulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte wurde die Jahrestagung der Otto-Brenner-
Stiftung, der Funktionärsschmiede der IG Metall, Ende 2000 in Berlin. Der Hamburger VSA-Verlag machte in diesem Jahr ein Buch daraus Neue Wege der
Regulierung. Vom Terror der Ökonomie zum Primat der Politik*, in dem neben zahlreichen Beiträgen deutscher Prominenz der Gewerkschaftspolitik auch der
renommierte Soziologe Pierre Bourdieu aus Frankreich zu Wort kommt.
Neben einigen Kapiteln zur Arbeitermitbestimmung und Flächentarifverträgen, zu deren
notwendigen Verteidigung angesichts der neoliberalen Flexibilitätsoffenisive geblasen wird, schweift der Blick vieler Beiträge auch über den nationalen
Tellerrand hinaus. Am Beispiel der Textilbranche macht der Generalsekretär der Internationalen Textilarbeitervereinigung auf die entrechteten und prekären
Verhältnisse aufmerksam, in denen Frauen und Männer in den sog. "freien Produktionszonen" der Peripherie arbeiten müssen. Die
Fertigprodukte, von denen viele für die Märkte der Industrieländer bestimmt sind, sollten auf ihre Produktionsbedingungen hin überprüft
werden. Mit Hilfe der Welthandelsorganisation (WTO) und einer ihr in Form eines Beratungsgremiums assozierten Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) soll seiner
Ansicht nach auf die "Kopplung von Handel und Arbeitsrechten" geachtet werden, z.B. mit Hilfe von Sozialklauseln.
Für Rainer Falk von der entwicklungspolitischen NGO WEED sind Sozialklauseln jedoch nur
"ein Instrument mit begrenzter Reichweite". Sie könnten weder ein Ersatz für gewerkschaftliche Kämpfe sein, noch würden sie die
Ausnutzung unterschiedlicher Arbeitskosten im Rahmen der global angelegten Investitionsstrategien transnationaler Konzerne unterbinden. Die von vielen Gewerkschaften
in den Industrieländern favorisierten Sozialklauseln seien nur eines von mehreren Elementen, um günstigere Bedingungen von "gewerkschaftlicher
Verhandlungsmacht zu schaffen". Eine "groteske Überschätzung" liegt nach Ansicht von Falk dann vor, wenn von Sozialklauseln eine
"Beseitigung der strukturellen Arbeitslosigkeit im Norden, eine Unterbindung von südlicher Importkonkurrenz oder die Vermeidung unumgänglicher
Strukturwandelprozesse im Norden erwartet wird". Falk spricht sich für einen "New Deal" aus, der dem Süden "substantielle
Zugeständnisse" gewähren sollte: keine "pauschale" Liberalisierung, Abbau von Handelsbarrieren im Norden, Anerkennung einseitiger
finanzieller Transferleistungen von Nord nach Süd und eine tiefgreifende Demokratisierung der internationalen Institutionen.
Weniger Lobbypolitik, sondern eine verstärkte Orientierung an den sozialen Bewegungen in Europa
schrieb Pierre Bourdieu den deutschen Gewerkschaftern ins Gästebuch. Denn eine "soziale Bewegung in Europa ist nicht denkbar ohne eine erneuerte
Gewerkschaftsbewegung, die imstande ist, die inneren und äußeren Hindernisse, die ihrer Stärkung und Vereinheitlichung auf europäischer Ebene
entgegenstehen, zu überwinden". Vor allem die Gewerkschaftsbürokratien sieht er als ein solches Hindernis an. Sie seien "inzwischen selbst zu
staatsähnlichen Instanzen geworden … partizipieren an der Umverteilung des Reichtums, und sie garantieren den sozialen Kompromiss, indem sie verhindern, dass es
zu Brüchen und Konfrontationen kommt", so der Soziologe. Als Gegenmaßnahme spricht er sich z.B. für ein "Rotationsprinzip bei der
Aufgabenverteilung" aus, auch um die größtenteils passive Mitgliedschaft wieder zu aktivieren.
Doch wie kaum anders zu erwarten, stößt Bourdieus Appell in diesen Kreisen deutscher
Gewerkschaftsfunktionäre auf taube Ohren. Auch wenn der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel sich positiv auf die Proteste von Seattle bezieht, weist er doch
wesentliche Grundlagen des Bourdieuschen Vorstoßes zurück. Weder teile er dessen Zielsetzung zur "Einberufung von Generalständen der
sozialen Bewegungen" und "schon gar nicht die Stoßrichtung gegen nationale Beschäftigungsbündnisse unter Beteiligung der
Gewerkschaften".
Im Gegenteil: Zwickel spekuliert offen auf einen festen Platz für die Gewerkschaften in den
Institutionen, die relevante Entscheidungen zur Aufrechterhaltung der neoliberalen Weltordnung treffen. Die "sozialen Bewegungen" Bourdieus sollen ihm dabei
als Trittbrett dienen. Da verwundert es nicht weiter, dass sich Zwickel und seine Mitarbeiter im Hauptvorstand sowohl angesichts der Proteste in Genua, zu denen immerhin
ihre italienische Schwesterorganisation FIOM geschlossen aufgerufen hat, als auch zu der brutalen Polizeirepression dort in tiefes Schweigen hüllen.
Es bleibt sein Geheimnis, wie er mit dieser Sprachlosigkeit gegenüber einem eklatanten
Gewaltexzess in einem EU-Land seinem Anspruch gerecht werden will, "den Kapitalismus wie nach 1945 in den westlichen Demokratien zu zivilisieren".
Insgesamt handelt es sich um ein lesenswertes Buch, weil sich viele der Beiträge auch mit dem
Verhältnis der Nord-Gewerkschaften zu den Ländern der Peripherie beschäftigen. Wer zwischen den Zeilen liest, wird trotz der Zwickelschen
Lippenbekenntnisse allerdings nicht umhin kommen, der zweitgrößten deutschen Gewerkschaft mangelnde Lernfähigkeit und grobe Borniertheit zu
unterstellen.
Gerhard Klas
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