Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 27.09.2001, Seite 12

Doppelte Moral

Pakistan hat ausgedient

Auf einer Reise nach Pakistan vor wenigen Jahren sprach ich mit einem ehemaligen General über militante islamische Gruppen in der Region. Ich fragte ihn, warum diese Leute, die im Kalten Krieg fröhlich Geld und Waffen von den USA angenommen haben, über Nacht zu gewaltsamen Antiamerikanern geworden sind. Er erklärte mir, sie seien nicht die einzigen. Viele pakistanische Offiziere, die den USA seit 1951 loyal gedient hätten, fühlten sich nun von der Gleichgültigkeit Washingtons gedemütigt. "Pakistan war das Kondom, das die Amerikaner brauchten, um in Afghanistan einzudringen", sagte er. "Wir haben unsere Schuldigkeit getan und jetzt glauben sie, sie können uns einfach die Toilette hinunterspülen."
Das alte Kondom wird jetzt herausgefischt, um es noch einmal zu benutzen. Aber wird es halten? Die neue "Koalition gegen den Terrorismus" braucht die Dienste der pakistanischen Armee, aber General Musharraf muss extrem aufpassen. Eine zu bedingungslose Erfüllung der Wünsche Washingtons könnte in Pakistan zu einem Bürgerkrieg führen und die Armee spalten. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich viel geändert, aber die Ironie der Geschichte ist nach wie vor am Werk.
In Pakistan selbst wurzelt die Stärke des Islamismus eher in staatlicher Patronage als in der Unterstützung durch die Bevölkerung. Mehrfach hintereinander haben die Bürgerinnen und Bürger Pakistans bei Wahlen dem Fundamentalismus eine Ansage erteilt. Diese bekamen weniger Stimmen als die religiösen Eiferer in Israel. Der Aufschwung des religiösen Fundamentalismus ist ein Erbe des ehemaligen Militärdiktators, General Zia ul-Haq, der in den 14 Jahren seiner Diktatur in Washington und London eine solide Stütze fand.
Unter seiner Herrschaft (1977—1989) wurde ein Netzwerk von "madrassahs", religiösen Internaten, aufgebaut, die mit Unterstützung der USA vom saudischen Regime finanziert wurden. Die Kinder, die dorthin geschickt wurden, wurden später als Mudschaheddin in den Kampf nach Afghanistan geschickt; ihnen wurde beigebracht, jeden Zweifel beiseite zu wischen. Die einzige Wahrheit sei die göttliche Wahrheit. Jeder, der dem Imam widerspreche, widerspreche Allah.
Die Madrassahs verfolgten ein einziges Ziel: entwurzelte fanatische Jugendliche hervorzubringen, im Namen eines freudlosen islamischen Kosmopolitismus. Die Elementarbücher lehrten, das moderne Hindiwort "jeem" stehe für jihad (Heiliger Krieg), "tay" für tope, Kanonen, "kaaf" für Kalaschnikow und "khay" für khoon, Blut.
2500 Madrassahs brachten eine Brut von 225000 Fanatikern hervor, die bereit sind, für ihren Glauben zu töten und zu sterben, wenn ihr religiöser Führer das von ihnen verlangt. Von der pakistanischen Armee über die Grenze befördert, wurden sie gegen andere Moslems in den Krieg geschickt, von denen man ihnen sagte, das seien keine richtigen Moslems.
Die talibanische Glaubensströmung folgt einer ultrasektiererischen Richtung, sie beruft sich auf die wahabitische Sekte, die in Saudi-Arabien regiert. Sunnitische Kleriker der Al-Azhar-Moschee in Kairo haben ebenso wie schiitische Theologen in Qom die Härte der afghanischen Mullahs als Schande für den Propheten angeprangert.
Doch die Taliban hätten niemals aus eigener Kraft Kabul erobern können, allein gestützt auf ihren religiösen Eifer. Sie wurden bewaffnet und befehligt von "Freiwilligen" der pakistanischen Armee. Wenn Islamabad sie fallen ließe, könnten die Taliban von der Macht entfernt werden, allerdings nicht ohne ernsthafte Probleme zu schaffen.
Die Eroberung Kabuls schreibt sich die pakistanische Armee als ihren eigenen Sieg zu. Auch heute noch reagiert der frühere Außenminister der USA, Zbigniew Brzezinski, unwillig: "Was war wichtiger vom Standpunkt der Geschichte aus?", fragte er irritiert, "die Taliban oder der Sturz des sowjetischen Imperiums? Ein paar aufgeregte Moslems oder die Befreiung Zentraleuropas und das Ende des Kalten Krieges?"
Brzezinski stand 1984 auf der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan und sagte dem Mudschaheddin: "Allah ist auf eurer Seite." Angesichts dessen ist es obszön, wenn europäische Politiker davon reden, es müsse ein Krieg zur Verteidigung der Moderne gegen die feudale Reaktion geführt werden. Der Westen hat den religiösen Fundamentalismus befördert und finanziell unterstützt, weil er ihn im Kampf gegen den Kommunismus brauchen konnte.
Wenn nun ein kurzer, heftiger Krieg gegen den neuen Feind angeordnet wird, ist der amerikanische Cäsar gut beraten, wenn er sich nicht allzusehr auf pakistanische Legionen stützte. Die Folgen könnten furchtbar sein: ein brutaler und schmutziger Bürgerkrieg, der noch mehr Bitterkeit schafft und noch mehr Akte des individuellen Terrors hervorbringt.
Islamabad wird alles tun, eine militärische Expedition gegen Afghanistan zu verhindern. Denn zum einen leben pakistanische Soldaten, Piloten und Offiziere in Kabul, Bagram und anderen Basen. Welche Order werden sie diesmal erhalten und werden sie sie befolgen? Viel wahrscheinlicher ist, dass Osman Bin Ladin den Interessen der "größeren Sache" geopfert und sein Körper tot oder lebendig seinen ehemaligen Arbeitgebern in Washington ausgehändigt werden wird. Aber wird das reichen?
Die einzige Lösung ist eine politische. Sie erfordert die Beseitigung der Ursachen für die tiefe Unzufriedenheit. Es ist die Verzweiflung, die den Fanatismus nährt, und die ist ein Ergebnis der Politik Washingtons im Mittleren Osten und anderswo. Die orthodoxe Kasuistik unter den loyalen Dienern, Kolumnisten und Hofschranzen des Regimes in Washington verkörpert am besten der persönliche außenpolitische Berater Tony Blairs und ausgediente Diplomat, Robert Cooper. Er schreibt ganz offen: "Wir müssen uns an die Vorstellung der doppelten Moral gewöhnen."
Die Maxime dieses Zynismus lautet: Wir werden die Verbrechen unserer Feinde bestrafen und die unserer Freunde belohnen. Ist das nicht einer universellen Straffreiheit vorzuziehen? Die Antwort ist einfach: Bestrafung nach diesen Maßstäben drängt Kriminalität nicht zurück, sondern fördert sie. Der Golfkrieg und der Balkankrieg waren Lehrbücher für diese Art von Blankoscheckmoral und selektiver Wachsamkeit. Israel darf sich über UN- Resolutionen hinwegsetzen, ohne Strafe fürchten zu müssen, Indien kann Kaschmir terrorisieren, Russland Grosny zerstören, aber der Irak muss bestraft werden und die Palästinenser leiden weiter.
Cooper schreibt weiter: "Ein Rat an postmoderne Staaten: Akzeptiert, dass Interventionen nun einmal die Rückkehr in die Vormoderne nach sich ziehen. Solche Interventionen lösen vielleicht die Probleme nicht, aber sie erleichtern das Gewissen. Und deshalb sind sie nicht unbedingt das Schlimmste." Versuchen Sie mal, das einem Überlebenden aus New York oder Washington zu erklären.
Die USA treiben sich selbst in einen Wahn. Ihre Ideologen reden vom "Angriff auf die Zivilisation". Aber was ist das für eine Zivilisation, die in den Begriffen der Blutrache denkt? Sechzig Jahre und mehr haben die USA demokratische Staatsoberhäupter abgesetzt, Länder in drei Kontinenten bombardiert, Atombomben auf japanische Zivilisten geworfen — und niemals am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn die eigenen Städte angegriffen werden. Jetzt wissen sie es. Den Opfern der Angriffe und deren Verwandten gilt unser tiefes Mitgefühl, in derselben Weise wie es den Völkern galt, die Opfer der US-Regierung wurden. Aber zu akzeptieren, dass ein amerikanisches Leben mehr wert sein soll als ein rwandisches, jugoslawisches, vietnamesisches, koreanisches, japanisches, palästinensisches oder irakisches — das ist inakzeptabel.

Tariq Ali

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