Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 27.09.2001, Seite 12

‘Man braucht keine NATO-Armee, um die Taliban loszuwerden‘

Interview mit Tariq Ali

• Glauben Sie, dass dieser Angriff eine direkte Folge der internationalen Politik der USA gegen die moslemische Welt war?
Tariq Ali: Darüber gibt es keinen Zweifel. Viele Jahrzehnte lang haben die arabischen Völker die Folgen des US-amerikanischen und israelischen Staatsterrorismus am eigenen Leib erfahren. Die anhaltende Besetzung Palästinas, die Sanktionen und Bomben gegen den Irak, die Bombardierung einer Aspirinfabrik im Sudan — was war das alles, wenn nicht Staatsterrorismus?
Die traditionellen Politiker in der arabischen Welt waren nicht in der Lage, darauf zu antworten. Deshalb haben kleine Gruppen religiöser Moslems beschlossen, zurückzuschlagen, in der einzigen Weise, die sie kennen. Der terroristische Angriff auf das Pentagon ist ein Ausdruck von Schwäche und Verzweiflung. Aber man muss auch verstehen, dass die Menschen bereit sind, ihr eigenes Leben zu opfern. Dagegen kann man sich nicht verteidigen. Deshalb gibt es nur eine politische, keine militärische Lösung.

• Die Angriffe richten sich mehr noch gegen das Selbstvertrauen als gegen das Leben von Amerikanern. Wie glauben Sie, wird sich das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West und zwischen dem Westen und der arabischen Welt ändern?
Tariq Ali: Die amerikanische Regierung hat weite Teile der Welt bombardiert. Erinnern Sie sich an Hiroshima und Nagasaki? Erinnern Sie sich an Nordkorea, wo kein Stein auf dem anderen blieb? Erinnern Sie sich an die Bomben über Vietnam? Die Bomben über Bagdad? Belgrad? Früher konnten die USA sicher sein, dass die kommunistischen Regime das US-amerikanische Hauptland nie angreifen würden. Heute wird der Feind von der Theologie, nicht von Ideologie geführt. Allah kann gutheißen, was Marx und Lenin nie erlaubt hätten. Und der Feind von heute hat einst für die CIA und das Pentagon gearbeitet.
Was das Kräfteverhältnis betrifft, glaube ich nicht, dass es sich ändern wird. Die USA beherrschen die Welt, Europa folgt ihnen und Russland und China beeilen sich, im Krieg gegen den Terrorismus mit dabei zu sein. Putin hat gerade mit westlicher Hilfe die Tschetschenen zu Staub zermalmt. China hat seine eigenen Probleme mit Tibet. Im Namen des globalen Krieges gegen den Terrorismus werden noch viel schlimmere Dinge passieren. In der arabischen Welt wird die Opposition wachsen, die Regime in Saudi-Arabien und Ägypten könnten darüber stürzen. Was passiert dann? Direktherrschaft durch die NATO? Ein neuer Kolonialismus? Was wird das lösen? Deshalb bestehe ich darauf: Nur eine politische Lösung bringt uns weiter.

• Im Westen gibt es eine eingefahrene Vorstellung vom "arabischen" Charakter: das ist ein Terrorist, der Bomben legt und Menschen umbringt. Wir wissen, dass das nicht wahr ist — natürlich gibt es Terroristen in der arabischen Welt, aber es gibt rechte Terroristen auch in den USA. Wie kann die moslemische Welt diese Image ändern?
Tariq Ali: Der Fakt ist, dass die USA jedes arabische Regime — mit Ausnahme von Libyen und dem Irak — in der Tasche haben. Die Taliban wurden mit US- amerikanischem Geld und Waffen in Pakistan ausgebildet, bewaffnet und trainiert, damit sie den Kampf gegen die Kommunisten unterstützen. Das Talibanregime könnte ohne die Unterstützung der pakistanischen Armee nicht existieren. Diese Armee hängt völlig am Tropf der USA. Man braucht keine NATO-Armee, um die Taliban loszuwerden.
Zum zweiten: es gibt Millionen von arabischen Amerikanern. Detroit hat die größte arabische Bevölkerung außerhalb der arabischen Welt. Eine Dämonisierung der Araber wäre von jedem Standpunkt aus total unproduktiv.

• Ein großes Problem dieser Bewegungen ist der sog. Fundamentalismus. Die "moderne Welt" kann nicht glauben, dass es immer noch Regierungen gibt, die der Religion verpflichtet sind und einen Heiligen Krieg glauben führen zu müssen. Welche Alternativen hat die arabische Welt? Ist der Terrorismus ein realer Weg, Krieg zu führen?
Tariq Ali: Der islamische Fundamentalismus ist eine Antwort auf den Zusammenbruch des "Kommunismus" und die Hegemonie der USA. Aber überall sind die meisten islamischen Parteien gegen die Taliban. Das Problem ist, dass die USA den Mangel an Demokratie in der arabischen Welt unterstützen und dies immer getan haben. Ihre bevorzugten Herrscher sind Könige und Sultane oder solche vom Schlage Saddam Husseins, bevor sie sich gegen ihn gewandt haben.
Sie fürchten, die Demokratie werde Regierungen hervorbringen, die den US-Interessen nicht gewogen sind — d.h. Israel und ein billiger Ölpreis. Da ihnen verwehrt wird, sich ihre Regierung selbst auszusuchen, wenden sich viele Menschen dem Himmel zu und geben den Theologen eine Chance. Auch deshalb bestehe ich darauf, dass die Lösung eine politische sein muss.
Schauen Sie, was im Iran heute passiert. Hier werden Wahlen zugelassen und die Reformer gewinnen an Boden. Die Hardliner sind zwar noch an der Macht, aber es findet im Iran heute eine entwickelte Debatte im Untergrund statt. Viele Menschen der neuen Generation haben die Nase voll von der Theologie. Sie wollen ein normales Leben führen. Das ist der Iran, den die USA jahrelang unter Quarantäne gesetzt haben. Ägypten, Algerien und Saudi-Arabien aber sind ganz anders. Hier bringt das Fehlen der Demokratie Fundamentalismus hervor.
In Algerien haben die Islamisten die Wahlen gewonnen. Man hätte sie regieren lassen sollen. Die Wirklichkeit hätte sie gezwungen, die wahnwitzigsten Konzepte einer Islamischen Republik aufzugeben. Stattdessen ist die Armee marschiert (unterstützt von Frankreich) und das Ergebnis war ein grauenhafter Bürgerkrieg, der Hunderttausenden von Algeriern das Leben gekostet hat. Für mich sind diese Leben ebensoviel wert wie die amerikanischen.

• Glauben Sie, dass die Angriffe von Osama Bin Laden angeordnet wurden? Es gibt auch Stimmen, die von Beziehungen zur extremen Rechten in den USA sprechen. Wie glauben Sie, wird sich das Image der Taliban jetzt ändern?
Tariq Ali: Ich weiß nicht. Bin Laden hat den Angriff gelobt, jede Verwicklung darin aber abgestritten. Er hat gesagt, er weiß, dass die Amerikaner ihn töten wollen und er ist bereit zu sterben, aber er warnt davor, dass sein Tod Hunderte seiner Sorte hervorbringen wird. In der pakistanischen Stadt Lahore ist Osama der populärste Name für neugeborene Söhne. Das ist ein Ausdruck von Verzweiflung, die viele spüren, die keine Fundamentalisten sind. Solange man das nicht versteht, wird es weitere Katastrophen und Tragödien geben.

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