Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 27.09.2001, Seite 14

Stimmen der Linken

Konkret, Oktober 2001:

Sie haben geerntet, was sie gesät haben, mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Wer wäre verantwortlich für den Zustand der Welt und was auf ihr möglich ist, wenn nicht die Macht, die sie zugerichtet hat? Die seit 1945 die mächtigste war und seit zehn Jahren sich für allmächtig halten durfte?
Daß die Allmacht eine Phantasie war und ihre Macht nur solange sicher, wie die Sojetunion sie al ihr einziger, zuverlässig schwächerer Widerpart verbürgte, bekommen die Vereinigten Staaten von Amerika seit Breshnews Ende mit immer fürchterlicheren Schlägen eingebleut. Ami allein zu Haus: Die USA sind der am meisten gefürchtete, noch mehr gehaßte Staat der Erde; seine wenigen sogenannten Freunde sind seine innigsten Feinde. Heute morgen waren im Radio die Kondolenzen des Kanzlers, des Außenministers, der Fraktionsvorsitzenden zu hören. Krokodile, sagt die Legende, weinen, um ihre Mahlzeiten anzulocken, wie kleine Kinder.

Hermann Gremliza

Jungle World, 19.9.

Viva la muerte

Die bürgerliche Herrschaft hat einen Trumpf im Ärmel: den spektakulären Terrorismus. Dessen gesellschaftliche Bedeutung hat Guy Debord analysiert. 1988 schrieb er: "Diese so vollkommene Demokratie stellt selber ihren unvorstellbaren Feind her, den Terrorismus. Sie will nämlich lieber, dass man sie nach ihren Feinden und weniger nach ihren Ergebnissen beurteilt." In diesem Vergleich schneidet sie gut ab: Wer wollte bezweifeln, dass die bürgerliche Herrschaft der der islamischen Fundamentalisten vorzuziehen ist?
Aber sie schneidet auch nur in diesem Vergleich gut ab. Die Möglichkeit eines guten Lebens für alle — diese Möglichkeit hat sie nicht eingelöst, und sie arbeitet an der Abschaffung des Gedankens daran. Und dennoch existiert diese Möglichkeit jenseits aller Ideologien, die das Gegenteil behaupten.
In Deutschland jedoch hat sich das Bürgertum in Abgrenzung von der französischen Revolution seiner eigene Ideologie geschaffen. Es sieht das Glück im Aufgehen in der Gemeinschaft… Im Himmel der deutschen Ideologie hat es sein Glück gesucht, doch lediglich Vernichtung gefunden. Und darin liegt seine tiefere Verwandtschaft mit den Fundamentalisten, die ihr Glück in einem anderen Himmel suchen, aber auch nur den Tod finden.
So ist es kein Wunder, dass die Warnungen in Deutschland vor dem "Feindbild Islam" besonders laut sind… Und weil das deutsche Establishment den USA nie verzeihen wird, dass sie ihm den Griff nach der Weltmacht in zwei Weltkriegen vereitelt haben, droht nun erneut eine urdeutsche Friedensbewegung, die sich durch zwei Dinge auszeichnen dürfte: dass sie Deutschland schon präventiv als das eigentliche Opfer halluziniert… — was dem deutschen Staat gegen die "internationale Völkermordzentrale" USA neue hegemoniale Möglichkeiten verschafft.
Und dass auch ihre linke Komponente augenzwinkernd mit den Islamisten gemeinsame Sache macht, indem sie in einem klassischen Akt der Rationalisierung den Anschlägen auf das World Trade Center die besten antikapitalistischen Absichten unterstellt…

Carlos Kunze

Robert Kurz

Aufgestörte westliche Intellektuelle entblöden sich nicht, den Terrorismus als Ausdruck eines "vormodernen" Bewusstseins zu bezeichnen, das die Epoche der Aufklärung verpasst habe und deshalb die wunderbare westliche "Freiheit zur Selbstbestimmung", den freien Markt, die liberale Ordnung und überhaupt alles Gute und Schöne der westlichen Zivilisation in Akten des blinden Hasses "verteufeln" müsse. Als hätte es nie eine intellektuelle Reflexion über die "Dialektik der Aufklärung gegeben" und als hätte sich der liberale Begriff des Fortschritts in der katastrophalen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht längst blamiert, kehrt in der Verwirrung über den neuartigen Akt des Wahnsinns die ebenso arrogante wie ignorante bürgerliche Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts als Gespenst zurück. Im krampfhaften Versuch, die neue Dimension des Terrors einem fremden Wesen zuzuschreiben, fällt das westlich-demokratische Räsonnement endgültig unter jedes intellektuelle Niveau.
Aber die Tatsache des inneren Zusammenhangs aller Erscheinungen in der globalisierten Gesellschaft lässt sich so billig nicht wegdefinieren: Nach fünfhundert Jahren blutiger Kolonial- und Imperialismusgeschichte, nach hundert Jahren einer gescheiterten staatsbürokratischen Industrialisierung und nachholenden Modernisierung, nach fünfzig Jahren destruktiver Integration in den Weltmarkt und zehn Jahren unter der absurden Herrschaft des neuen transnationalen Finanzkapitals gibt es in Wahrheit keinen exotischen orientalischen Raum mehr, den man als fremd und äusserlich begreifen könnte. Alles, was heute geschieht, ist unmittelbar oder vermittelt ein Produkt des zwanghaft vereinheitlichten Weltsystems. Die One World des Kapitals ist selber der Schoß, der den Mega-Terror gebiert.
Es war die militante Ideologie des westlichen ökonomischen Totalitarismus, die den ebenso militanten neo-ideologischen Wahnvorstellungen den Weg geebnet hat. Das Ende der staatskapitalistischen Ära und ihrer Ideen wurde zum Anlass genommen, die kritische Theorie überhaupt zum Schweigen zu bringen. Die Widersprüche der kapitalistischen Logik durften nicht mehr zur Sprache kommen, sie wurden für nicht existent und die Frage der sozialen Emanzipation jenseits des warenproduzierenden Systems für irrelevant erklärt. Mit dem vermeintlich endgültigen Sieg des Markt- und Konkurrenzprinzips begann die intellektuelle Reflexionsfähigkeit der westlichen Gesellschaften zu erlöschen. Die Menschen dieser Welt sollten identisch werden mit kapitalistischen Funktionen, obwohl die Mehrheit bereits als "überflüssig" abgestempelt war.
Während die finanzkapitalistischen Krisenmechanismen des Shareholder Value Milliarden von Menschen in Armut und Verzweiflung stürzten, sang die Mehrheit der globalen Intelligentsia wie zum Hohn das Lied des marktwirtschaftlich-demokratischen Optimismus. Sie haben jetzt die Quittung bekommen: Wenn die kritische Vernunft verstummt, tritt an ihre Stelle der mörderische Hass. […]
Das Imperium wankt. Innerhalb weniger Monate hat sich der Mythos der ökonomischen Unverwundbarkeit durch den Zusammenbruch der "New Economy blamiert. Jetzt ist der Mythos der militärischen Unverwundbarkeit zusammen mit dem Pentagon in Flammen aufgegangen. Das utilitaristische Denken der Funktionseliten versucht sogar aus dieser Katastrophe noch Nutzen zu schlagen. Denn mitten im Absturz der Finanzmärkte hat man plötzlich den Stoff für eine Dolchstoßlegende: Nicht die herrschende Ordnung ist obsolet, wenn weitere Finanzblasen platzen und womöglich die Weltmarktwirtschaft kollabiert, sondern der "externe Schock" des Terrorschlags soll dann die Ursache gewesen sein - so Wim Duisenberg, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Das Systemversagen wird in die externe Bosheit der fremdartigen "Ungläubigen" umdefiniert, aber dadurch nicht ungeschehen gemacht.
Gleichzeitig rollt eine Welle der ebenso hysterischen wie schmalzigen Kriegspropaganda, als schrieben wir den August 1914. Überall melden sich zuhauf Freiwillige, mitten im Crash steigen die Aktien der Rüstungsindustrie, fast schon macht sich Hoffnung auf eine Kreuzzugs-Konjunktur breit. Aber klandestine Gruppen von Männern, die mit Messern und Teppichschneidern bewaffnet sind, fordern nicht die Massenmobilisierung und Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte heraus. Der Terror stellt kein äußeres Gegenimperium auf derselben Ebene von Staatlichkeit und Kriegswirtschaft dar. Er ist die innere Nemesis des globalisierten Kapitals selbst. Deshalb kann er keinen neuen Rüstungsboom hervorrufen. Auch militärisch wird der Kreuzzug ins Leere gehen. Ob mögliche "Vergeltungsschläge" der USA wie gehabt aus zehn Kilometern Höhe irgendeine Zivilbevölkerung dezimieren oder ob Bodentruppen unter hohen Verlusten durch entlegene Bergregionen irren, wie es die Armee der Sowjetunion in Afghanistan erfahren musste: Aus dem Pseudo-Krieg gegen die von ihm selbst hervorgebrachten Dämonen der Weltkrise wird der Kapitalismus keine Nahrung für sein Fortleben mehr saugen können.
Es sind auch Stimmen der Vernunft zu hören, von Feuerwehrleuten in New York bis zu einzelnen Journalisten und Politikern, die wenigstens sagen, dass ein Krieg völlig sinnlos wäre. Aber diese Vernunft droht hilflos zu bleiben und von der Welle der Irrationalität weggeschwemmt zu werden, wenn sie nicht zu einer Analyse der Krisenverhältnisse findet. Es gibt nur einen Weg, dem Terror wirklich den Nährboden zu entziehen: die emanzipatorische Kritik am globalen Totalitarismus der Ökonomie.

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