Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 11.10.2001, Seite 2

Der Widerstand im Herbst

Nach den Anschlägen verschärfte Repression

So wie auf jeden Sommer ein Herbst folgt, so folgt auch auf den fulminanten "summer of resistance" eine Zeit der Ernüchterung und Abkühlung. Das hängt unter anderem mit den Anschlägen in den USA am 11.September zusammen, die zwar in keinerlei Zusammenhang mit der "Antiglobalisierungsbewegung" stehen, aber trotzdem wegen der Veränderung des politischen Klimas auch auf diese Auswirkungen haben werden.
Ein weiteres Element der Ernüchterung ist das bisher für westeuropäische Verhältnisse unbekannte Ausmaß der staatlichen Repression anlässlich der Gipfel in Göteborg und Genua, für die bisher noch kein rechter Umgang gefunden wurde.
In Göteborg begannen die Prozesse gegen die bei den Protesten Inhaftierten bereits im Juli. Insgesamt wurden bis zum 5.Oktober 28 Personen verurteilt, die höchste Strafe betrug fünf Jahre. Beobachter bezeichneten die Prozesse als Farce. In vielen Fällen reichten die größtenteils vagen Aussagen von Zivilpolizisten für eine Verurteilung aus.
So wollte ein Zivilpolizist, der in mehr als 20 Fällen zu Ungunsten der Angeklagten aussagte, nach mehreren Stunden den Hinterkopf eines Randalierers "wiedererkannt" haben; ein weiteres Mal marschierte er vor Gericht mit einer Eisenstange auf, von der die Staatsanwaltschaft sagte, es sei die "exakte Kopie" der "Waffe" des Angeklagten, ohne das "Original" vorweisen zu können.
Vor allem die Laienrichter machten sich zum Sprachrohr des "gesunden Volksempfindens" und setzten in mindestens einem Fall die Verurteilung gegen das Votum des Berufsrichters durch. In der BRD erregten die Fälle Sebastian (19), Hannes (20) und Björn (24) Aufsehen. Sebastian, der vom Schuss eines schwedischen Polizisten am Bein verletzt worden war, wurde wegen eines einzigen eingestandenen Steinwurfs in der ersten Instanz zu unverhältnismäßigen 14 Monaten ohne Bewährung verurteilt, was in der zweiten Instanz auf 20 Monate verschärft wurde.
Björn, gegen den als einziger Belastungszeuge der erwähnte Zivilpolizist aussagte, wurde zunächst zu 15 und dann zu 24 Monaten Haft verurteilt. Der Gewerkschaftsaktivist Hannes hingegen wurde am 3.Oktober in zweiter Instanz freigesprochen, nachdem er in erster Instanz zu 14 Monaten Haft verurteilt worden war.
Gegen die schießfreudigen schwedischen Polizisten wurde bisher keine Anklage erhoben. Der durch eine Polizeikugel lebensgefährlich verletzte schwedische Aktivist Hannes Westberg, der nur wie durch ein Wunder überlebte, steht jedoch unter Anklage.
In Genua, wo der Aktivist Carlo Giuliani von einem Polizisten ermordet wurde und wo es nach systematischen Misshandlungen durch die Polizei viele Schwerverletzte gab, saßen schließlich noch 15 junge Deutsche in Untersuchungshaft. Die gegen sie erhobene Anklage war eigentlich eine Realsatire, über die aber niemand lachen konnte, am wenigsten die Inhaftierten.
Zigarettenfilter wurden in den Augen der Staatsanwaltschaft zu "unverzichtbaren Bestandteilen zum Bau von Molotow- Cocktails", schwarze Kleidung wurde zum Beweis der Mitgliedschaft im Schwarzen Block, bunte Kleidung wurde zum Beweis der Unterwanderung von Pazifisten herangezogen, das von den Beschuldigten in Anspruch genommene demokratische Recht auf Aussageverweigerung wurde zur Begründung der Fortdauer der Untersuchungshaft verwendet.
Alles wurde zum "Beweis" gegen die Angeklagten, so dass das Ganze schließlich einem Hexenprozess ähnelte, in dem die Delinquenten ihre Unschuld beweisen mussten. Einigen einsichtigeren Richtern wurde es aber dann doch zu bunt und so wurden die 15 sukzessive in der Zeit vom 1.September bis zum 3.Oktober freigelassen. Einige Verfahren laufen allerdings weiter, Klarheit wird es erst in einem halben Jahr geben.
Die Ermittlungen gegen die DemonstrantInnen, die am 20.Juli auf der Piazza Alimonda einen Carabinieri-Jeep, aus dem heraus Carlo Giuliani ermordet wurde, angegriffen haben sollen, laufen weiter. Anhand von Videos und Fotos wurden gegen zwei weitere Jugendliche aus Genua Ermittlungen aufgenommen. Insgesamt rechnen die Ermittlungsbehörden mit 20 Verdächtigen von denen jetzt mindestens vier identifiziert sind. Die Anklagen lautet in mindestens einem Fall auf "versuchte Tötung". Einer der vier Identifizierten befindet sich im Hausarrest, ein weiterer wurde wegen "Widerstandes gegen die Staatsgewalt" angeklagt und befindet sich auf freiem Fuß. Im Laufe des Oktober sollen die beiden Neu-Identifizierten befragt werden.
Verurteilungen gab es in Italien bisher nicht. Im Laufe des September gab es Razzien und Anschläge gegen linke Zentren in mindestens 14 norditalienischen Städten, darunter auch in Genua. Mittlerweile wurde auch der Sprecher der "Tute Bianche", Luca Casarini, unter Anklage gestellt. Ein Pool von Staatsanwälten ermittelt allerdings auch gegen Polizisten wegen der schweren Übergriffe bei den Anti-G8-Demonstrationen.
Zurzeit werden Zeugen gesucht, nähere Informationen gibt es bei der Infogruppe. Sowohl in Göteborg als auch in Genua wurden die meisten Inhaftierten weit weg vom Demonstrationsgeschehen und zum Teil erst Tage nach den Ereignissen festgenommen.
An der Repression in Genua und Göteborg sieht man, dass der bürgerliche Staat tendenziell bereit ist, aus politischen Gründen Grundrechte wie das Recht von Beschuldigten auf Aussageverweigerung und die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils außer Kraft zu setzen.
Die Anschläge in den USA am 11.September scheinen diese Entwicklung zu verschärfen. Bereits im Juli 2001 veröffentlichte die Schweizer Bundespolizei eine Analyse (Das Gewaltpotenzial in der Antiglobalisierungsbewegung), in der über eine mögliche Entwicklung von Teilen des linken Flügels der "Anti-Globalisierungsbewegung" zum "Terrorismus" spekuliert wurde. Dabei wurde Militanz auf der Strasse aber noch nicht unter "Terrorismus" subsumiert.
Am 20.September stellte der EU-Innenkommissar auf der EU-Tagung der Innenminister einen Entwurf für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung des Terrorismus vor, wonach in Zukunft auch "Akte städtischer Gewalt" und die "Beschädigung ... öffentlichen Eigentums" sowie "Eingriff in ein Informationssystem" — also Hacken — unter "Terrorismus" fallen sollen. "Randale" auf Demonstrationen könnte so in Zukunft als "Terrorismus" gebrandmarkt werden.

Felix Fabian

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