Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 11.10.2001, Seite 6

Gewerkschaftslinke

Politik nicht den Vorständen überlassen

Welche Rolle sollen die deutschen Gewerkschaften angesichts einer internationalen Bewegung gegen die Folgen der kapitalistischen Globalisierung, der neuen Militäroffensive und einer politisch bankrotten rot-grünen Regierung spielen? Gerhard Klas sprach im Vorfeld des Stuttgarter Kongresses der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken mit Ewald Wehner, der gemeinsam mit Heinz-Günther Lang ehrenamtlich das Sekretariat der Initiative organisiert.

"Welche Gewerkschaften haben Zukunft" heißt das Motto des IV.Kogresses zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken. Geht es dabei auch um das Verhältnis von betrieblicher-und außerbetrieblicher Gewerkschaftspolitik?
Ewald Wehner: Im letzten Jahr hatten wir drei Arbeitsschwerpunkte. Einmal die Mitbestimmung in Betrieben im Zusammenhang mit der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, zweitens die Tarifpolitik, drittens die Sozialpolitik. Natürlich ist auch die Frage der abhängig Beschäftigten, die keinen ausgesprochenen Arbeitnehmerstatus haben, Bestandteil unserer Arbeit. Man wird allerdings immer abwägen müssen, wo die Möglichkeiten einer aktiven Einflussnahme am größten sind. Nach dem Arbeitsrecht sind diejenigen ausgegrenzt, die keine lohnabhängigen Arbeitnehmer sind, z.B. Scheinselbstständige mit einem Gewerbeschein. Wir wollen unsere Arbeit nicht nur auf die Arbeitnehmer im klassischen Sinne beschränken, sondern auch de facto abhängig Beschäftigte mit einbeziehen.
Doch wir messen auch der klassischen betrieblichen Gewerkschaftsarbeit nach wie vor eine zentrale Bedeutung bei. Und zwar eine betriebliche Gewerkschaftsarbeit, die aus mindestens drei Elementen besteht: der Existenz aktiver Betriebsräte, die sich nicht als Co-Manager und auch nicht als Moderatoren zwischen Kapital und Arbeit verstehen, sondern als Interessenvertreter und Teil gewerkschaftlicher Gegenmacht. Das zweite Standbein sind die gewerkschaftlichen Vertrauensleute, die mit den Betriebsräten kooperieren und die personelle Ressource für zukünftige Betriebsratsmitglieder darstellen. Die dritte Komponente wird die betriebsnahe Bildungsarbeit sein, die nicht abgehoben ist, sondern an betrieblichen Konflikten orientiert.

In einigen Gewerkschaftsverbänden im Ausland macht derzeit der Begriff des "social movement unionism" Furore, der eine sehr weitgehende außerbetriebliche Orientierung beinhaltet. Ist das auch Thema für die Gewerkschaftslinke in der Bundesrepublik?
Ewald Wehner: Die Diskussion um zukünftige Gewerkschaftsarbeit wird auch solche Konzepte umfassen. Ein Anstoß kann die sogenannte Zukunftsdebatte sein, die gerade in der IG Metall stattfindet. Wir haben schnell erkannt, dass eine solche Debatte nicht auf die IG Metall beschränkt ist, sondern auch in anderen Gewerkschaften geführt wird. Wir wollen uns rechtzeitig einmischen. Diese Konferenz wird nicht der Schlusspunkt, sondern der Beginn einer Diskussion um das zukünftige Gewerkschaftsverständnis sein. Wo auch immer die Aktionsfelder gewerkschaflicher Arbeit liegen, in unserer kapitalistischen Gesellschaft, müssen Gewerkschaften Gegenmacht bleiben.

Was unterscheidet den Ansatz der Gewerkschaftslinken von der Zukunftsdebatte der IG Metall?
Ewald Wehner: Die gewerkschaftliche Meinungsbildung soll eigentlich durch die aktiven Mitglieder in den Jahreshauptversammlungen, Bezirkskonferenzen und Gewerkschaftskongressen stattfinden. Diese sind bei der Zukunftsdebatte jedoch umgangen worden. Statt dessen hat der Vorstand versucht, mit empirischen Umfragen ein Meinungsbild zu erstellen, sowohl bei organisierten als auch bei unorganisierten Beschäftigten der Metallbranche, deren Aussagen ebenbürtig behandelt werden.
Dieses Verfahren lässt befürchten, dass sich die IG Metall auf scheinbar demokratische Umfrageergebnisse stützen wird, um damit einer sogenannten Modernisierung der Gewerkschaft das Wort zu reden. Es gibt seit Jahren eine politische Auseinandersetzung zwischen den Modernisierern und den Traditionalisten. Zwischen diesen Polen bewegt sich auch im Moment die Zukunftsdebatte in der gesamten IG Metall. Die ehrenamtlichen Aktivisten, die in der IG Metall eine wichtige Rolle spielen, sind in diese Debatte nicht ausreichend mit einbezogen.

Die Gewerkschaftsstrukturen sind nicht nur bei der IG Metall Stein des Anstosses. Lauten Protest löste z.B. die jüngste Gehaltserhöhung — nahezu eine Verdopplung — der geschäftsführenden Vorstände der weltweit größten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di aus. Frank Bsirske, der Vorsitzende von ver.di, verdient nun fast ebensoviel wie der Bundeskanzler. Gleichzeitig ist nicht genügend Geld vorhanden, um in den neuen Bundesländern das nötige Gewerkschaftspersonal zu finanzieren. Ist das ein Interventionsfeld für die Gewerkschaftslinke?
Ewald Wehner: Ich würde das nicht so sehr an den Einkommen der Spitzenfunktionäre festmachen. Wenn die Inhalte bei ver.di stimmen würden, gäbe es möglicherweise überhaupt keine vergleichbare Diskussion darum. Die Kritik an den Gewerkschaften, die auch die ganze ver.di-Gründung begleitet hat, bezieht sich nicht so sehr auf organisatorische und institutionelle Formen, sondern auf die mangelnde inhaltliche und programmatische Positionierung. Allein das Organisationsgerüst und die Existenz von gewerkschaftlichen Managern bietet noch nicht die Gewähr, dass Gewerkschaften ihre Aufgabe als Gegenmacht erfüllen können. Dazu gehört ein inhaltliches Konzept, dass bei ver.di auch deshalb notwendig wäre, weil es eine identitätsstiftende Wirkung hätte. Denn ver.di ist ein zusammen geflickter Teppich aus einer Standesorganisation, der Beamtengewerkschaft, der militanten IG Medien und anderen Gewerkschaften. Es wäre dringend geboten, eine politisch-programmatische Diskussion zu führen. Dies wird vom ver.di-Apparat, der im Moment vor allem mit sich selber beschäftigt ist, offensichtlich nicht angestrebt.
Zur Gehaltserhöhung: Wenn sie zu einer Vereinheitlichung der verschiedenen Gehaltsstufen zwischen der ÖTV, der größten Einzelgewerkschaft, die in ver.di aufgegangen ist, und der IG Medien, die nach meiner Kenntnis recht sparsam mit ihren Gehältern umgegangen ist, führt, dann besser auf einem hohen als auf einem niedrigen Niveau. Niemand hat in den Vorständen das Gelübde der ewigen Armut abgelegt und viele setzen ihre Arbeitskraft massiv ein. Wofür ich kein Verständnis habe: die Sekretäre und Mitarbeiter sind von der Gehaltserhöhung völlig ausgeschlossen. Es wäre eine Provokation, nur die Spitzenfunktionäre einzubeziehen und alle anderen auszuschließen.

Welche Strukturen innerhalb der Gewerkschaften müssten mittel- und langfristig verändert werden, damit die Gewerkschaften ihrer ureigensten Aufgabe — der Interessenvertretung der Lohnabhängigen — wieder gerecht werden können?
Ewald Wehner: Wenn man als Struktur die Summe der Regelungen in einer Gewerkschaftsatzung versteht, dann ist Demokratie formal garantiert. Das Problem ist die praktische Umsetzung. Einige gewerkschaftliche Vorstände, z.B. die des DGB und der großen Einzelgewerkschaften, machen eine Politik, die sich nicht mehr an Beschlüssen orientiert, die nach mühsamen Diskussionen auf Jahreshauptversammlungen und Bezirkskonferenzen zustande gekommen sind. Sämtliche Beschlüsse des "Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit", die Politik des DGB bei der Nivellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, sind zum Teil den gewerkschaftlichen Beschlüssen völlig entgegengesetzt.
Das Demokratiedefizit ist aber keine Frage der Institutionen und entsprechender Regelungen innerhalb der Gewerkschaften, die ja vorhanden sind. Sondern es ist vielmehr eine Frage der Kritik- und Durchsetzungsfähigkeit der haupt- und ehrenamtlichen Funktionäre, die nicht in der vordersten Linie stehen, also der Bezirksvorstände und Betriebsräte, den aktiven Mitglieder der Gewerkschaft, die als Delegierte Einfluss nehmen können. Sie akzeptieren anscheinend, dass die von ihnen gewählten Vorstände sich oft nicht an die gewerkschaftlichen Beschlüsse halten.

In Frankreich und Italien gibt es Anzeichen dafür, dass die neue Bewegung gegen die Folgen der kapitalistischen Globalisierung die festgefahrenen Strukturen der Gewerkschaftsbürokratie ankratzt. Unter welchen Bedingungen wäre ein solches Szenario auch in Deutschland denkbar?
Ewald Wehner: Voraussetzung wäre, dass die Politik der Gewerkschaften nicht dem Apparat überlassen bleibt. Die mittlere und untere Funktionärsschicht darf die Vorstandspolitik in bestimmten Fällen, z.B. bei den Ergebnissen des Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit nicht länger akzeptieren. Aufgabe der Gewerkschaftslinken wäre es z.B., die innergewerkschaftliche Demokratie dadurch zu beleben, dass sie Kritikfähigkeit befördert und das Bewußtsein dafür schärft, die Politik nicht allein den Vorständen zu überlassen. Mag sein, dass dies in Italien und Frankreich ausgeprägter ist. Andererseits ist die Zahl der Mitglieder dort im Vergleich zu den bundesrepublikanischen Gewerkschaften sehr niedrig — in Frankreich sind weniger als 10% der Arbeitnehmer organisiert.
Eine positive Entwicklung gibt es in diesem Zusammenhang mit der internationalen Bewegung. Ver.di ist dem internationalen Netzwerk ATTAC beigetreten und soll auch mit Gewerkschaftsfunktionären an deren Bundeskongress Mitte Oktober in Berlin teilnehmen. Auch einige DGB-Kreise beteiligen sich aktiv an ATTAC. IG-Metall-Chef Klaus Zwickel hat sogar an den Protesten gegen den EU-Regierungsgipfel in Nizza vergangenen Dezember teilgenommen.
Es gibt schon hoffnungsvolle Ansätze, auch wenn sie sich nur langsam weiterentwickeln. Die Gewerkschaften nehmen zunehmend zur Kenntnis, dass eine nur auf nationale Ebene ausgerichtete Politik nicht erfolgreich sein kann. Die Internationalisierung ihrer Politik ist allerdings ein schwieriger Weg, der auch durch die innige Verbindung der deutschen Gewerkschaften mit den Sozialdemokraten gebremst wird. Das ist einer Integration der deutschen Gewerkschaften in die internationale Protestbewegung nicht sehr förderlich.

Diese Grenzen wurden nach Genua besonders deutlich. Zwickel, der sich zuvor als Fürsprecher der neuen Bewegung weit aus dem Fenster gelehnt hatte, hielt es nicht für nötig, auch nur ein Wort über Genua zu verlieren. Dabei sind auch zahlreiche Kollegen der italienischen Metallarbeitergewerkschaft FIOM, die mit mehr als 10000 Mitgliedern an den Protesten teilgenommen hat, mit der offenen Brutalität der Polizeikräfte konfrontiert worden. Ist auch das ein Kennzeichen für die sozialdemokratische Dominanz in der deutschen Gewerkschaftspolitik?
Ewald Wehner: Ich finde das bedauerlich. Auf unserem Kongress in Stuttgart wollen wir uns in einer Stellungnahme zu den Ereignissen in Genua positionieren und uns zu der neuen Protestbewegung bekennen. Denn sie ist bisher die einzige hoffnungsvolle Antwort auf die Folgen der Globalisierung des Kapitals. Wir wollen sie auch aktiv unterstützen. Allerdings sind wir als Gewerkschaftslinke bis jetzt noch nicht in der Lage, Massen in Bewegung zu setzen. Doch mit Solidaritätserklärungen können wir vielleicht dazu beitragen, dass solche Bewegungen gestärkt werden.

Anfang November wird die Arbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft der PDS, die sich als Mitglied der Gewerkschaftslinken versteht, ebenfalls eine Gewerkschaftstagung in Mannheim abhalten. Könnte, nachdem die SPD ihre Rolle als "politischer Arm" der Gewerkschaften verloren hat, die PDS diese Rolle im Parlament übernehmen?
Ewald Wehner: Ich stelle in Frage, dass die SPD jemals der politische Arm der Gewerkschaftsbewegung gewesen ist. Sie war niemals Instrument der Gewerkschaften. Im Gegenteil, sie hat häufig die Gewerkschaften gebremst und auf einen reformistischen Kurs gebracht. Die PDS ist da noch nicht ganz entschieden. Ich war selbst von der PDS zur Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes als Sachverständiger beim Bundestagsausschuss für Arbeits- und Sozialordnung benannt.
Mit großem Interesse verfolgen wir auch die Programmdiskussion in der PDS, die noch lange nicht ausgestanden ist. Wir brauchen keine zweite sozialdemokratische Partei und müssen uns deshalb mit der PDS auseinandersetzen. Im großen und ganzen haben wir ein gutes Verhältnis zu Mitgliedern der PDS, die dort Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit machen. Es gab bis jetzt noch keinen Anlass für die Gewerkschaftslinken, sich mit der PDS zu streiten. Das mag vielleicht in Ostdeutschland, angesichts der Politik des stellvertretenden Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern (PDS), anders aussehen.

Die Bundesregierung hat mittlerweile mehrfach betont, die Bundeswehr aktiv an militärischen Auslandseinsätzen zu beteiligen. Auch auf der kommenden Konferenz soll der neue Militarismus der Bundesregierung zur Sprache kommen. Könnte dieses Thema zur Stärkung der Gewerkschaftslinken führen?
Ewald Wehner: Die Gewerkschaftslinke hat sich schon anlässlich des NATO-Kriegs im Kosovo aktiv eingeschaltet und massiv den DGB kritisiert, der die völkerrechtswidrige Militärintervention im Sinne der SPD unterstützt hat. Wir haben als Gewerkschaftslinke damals einen Kongress in Frankfurt am Main organisiert. Auch die jetzt durchgeführten Militärschläge werden eine Rolle auf unserem Kongress spielen und wir sind bemüht, auch dazu eine Resolution verfassen. Es gibt eine Resolution des ver.di-Landesbezirksvorstandes in Baden-Württemberg, die sich explizit in den Kontext der Friedensbewegung stellt.
Seit dem Jugoslawienkrieg ist die Sensibilisierung innerhalb der Gewerkschaften größer geworden. Sie wirkt sich hoffentlich auch im Hinblick auf die von Bush verfolgte Kriegspolitik aus. Unterhalb der Bundesvorstandsebene des DGB kenne ich eine Reihe von Entschließungen, Resolutionen und Stellungnahmen, die in diese Richtung gehen. Wir werden voraussichtlich unseren Kongress vorzeitig beenden, um geschlossen an der am gleichen Tag stattfindenden Antikriegsdemonstration in Stuttgart teilnehmen zu können.

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