Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 11.10.2001, Seite 7

Wie können die USA dieses tragische Volk bombardieren?

An diesem Wochenende sind wir Zeugen eines der epischsten Ereignisse seit dem Zweiten Weltkrieg, sicherlich seit Vietnam. Ich spreche nicht von den Ruinen des World Trade Center in New York und den grotesken Szenen, die wir am 11.September gesehen haben, eine Gräueltat, die ich letzte Woche als ein Verbrechen gegen die Menschheit beschrieben habe. Nein, ich meine die ungewöhnlichen, fast unglaublichen Vorbereitungen, die jetzt von der mächtigsten Nation, die jemals auf Gottes Erden existiert hat, getroffen werden, um das am meisten zerstörte, hungergeplagte und tragischste Land der Welt zu bombardieren. Afghanistan, zehn Jahre lang von der russischen Armee vergewaltigt und verwüstet, von seinen Verbündeten — uns natürlich — im Stich gelassen, sobald die Russen geflohen waren, steht im Begriff, von der einzig überlebenden Supermacht angegriffen zu werden.
Ich beobachte diese Ereignisse mit Unglauben, nicht zuletzt weil ich Zeuge der russischen Invasion und Besatzung gewesen bin. Wie sie für uns gekämpft haben, diese Afghanen, wie sie unseren Worten geglaubt haben! Wie sie Präsident Carter vertraut haben, als er ihnen westliche Hilfe versprochen hat! Ich traf sogar den zuständigen CIA-Angestellten in Peshawar, als er mit den Ausweispapieren eines — mit einer unserer Raketen abgeschossenen — sowjetischen Piloten herumwedelte, die aus dem Wrack seiner MIG geborgen worden waren. "Armer Kerl", sagte der CIA-Mann, bevor er uns in seinem Privatkino einen Film über GIs vorführte, die Vietcongs durchlöcherten.
Und ja, ich erinnere mich an das, was mir die sowjetischen Offiziere sagten, als sie mich damals in Salang verhaftet haben. Sie würden in Afghanistan ihre internationale Pflicht erfüllen, sagten sie mir. Sie würden "die Terroristen bestrafen", die die (linke) afghanische Regierung stürzen und ihre Bevölkerung vernichten wollten. Klingt das nicht irgendwie vetraut?
Ich arbeitete 1980 für die Times, und südlich von Kabul schnappte ich eine sehr irritierende Nachricht auf. Eine Gruppe religiöser Mudschaheddin-Kämpfer hatte eine Schule angegriffen, weil das linke Regime durchgesetzt hatte, dass Mädchen neben Jungen gleichwertig ausgebildet werden sollten. Also bombardierten sie die Schule, ermordeten die Frau des Schulleiters und hackten ihm den Kopf ab. Es war alles wahr.
Aber als die Times die Story brachte, beschwerte sich das Außenministerium bei der Auslandskorrespondenz, dass mein Bericht die Russen unterstützen würde. Selbstverständlich. Weil die afghanischen Kämpfer die guten Jungs waren. Weil Osama Bin Laden eine guter Junge war. Charles Douglas-Home, der damalige Herausgeber der Times, bestand immer darauf, dass die afghanische Guerrilleros in den Hauptschlagzeilen als "Freiheitskämpfer" bezeichnet würden. Es gab nichts, was man mit Worten nicht zustandebringen konnte.
Und so ist es auch heute. Präsident Bush droht nun den umnachteten, ignoranten, ultrakonservativen Taliban mit derselben Strafe, die er auch Bin Laden zugedenkt. Bush sprach ursprünglich von "Gerechtigkeit und Bestrafung" und darüber, die Anstifter der Gräueltaten "der Gerechtigkeit auszuliefern". Aber er sendet keine Polizisten in den Mittleren Osten; er schickt B52-Bomber. Und F16- und AWACS-Flugzeuge und Apache-Hubschrauber. Wir werden Bin Laden verhaften. Wir werden ihn vernichten. Und das ist in Ordnung, wenn er der Schuldige ist. Aber B52-Bomber unterscheiden nicht zwischen Turban tragenden Männern, oder zwischen Männern und Frauen, Frauen und Kindern.
Ich schrieb letzte Woche über die Kultur der Zensur, die dabei ist, uns zu ersticken, und über die persönlichen Attacken, die jeder Journalist, der die Wurzeln dieser Krise hinterfragt, ertragen muss. Letzte Woche, erhielt ich in einer nationalen europäischen Zeitung ein neues und bezeichnendes Beispiel dafür, was dies bedeutet. Ich wurde beschuldigt, antiamerikanisch zu sein, und wurde dann darüber informiert, dass Antiamerikanismus gleichzusetzen sei mit Antisemitismus.
Die Aussage ist natürlich klar. Ich bin mir nicht ganz sicher, was Antiamerikanismus ist. Aber die USA zu kritisieren, gilt heute als moralisches Äquivalent zum Hass gegen die Juden. Es ist OK, Schlagzeilen zu schreiben über den "Islamischen Terror", oder mein französisches Lieblingsbeispiel "Gottes Wahnsinnige", aber es ist eindeutig außerhalb des Erlaubten zu fragen, warum die USA von so vielen Arabern im Mittleren Osten verabscheut werden. Wir dürfen den Mördern eine muslimische Identität geben: wir dürfen für das Verbrechen auf den Mittleren Osten mit dem Finger zeigen — aber wir dürfen keine Gründe für das Verbrechen andeuten.
Aber kehren wir zurück zu dem Wort "Gerechtigkeit". Beim erneuten Betrachten dieser Pornografie eines Massenmords in New York muss es viele Menschen geben, die meine Meinung teilen, dass dies ein Verbrechen gegen die Menschheit gewesen ist. Mehr als 6000 Tote; das ist ein Srebenica des Massakers. Sogar die Serben haben die meisten Frauen und Kinder verschont, als sie ihre Männer ermordeten. Die Toten von Srebrenica verdienen — und bekommen — internationale Gerechtigkeit in Den Haag. Also ist das, was wir brauchen, gewiss ein Internationaler Gerichtshof, um mit der Art Mörder abzurechnen, die am 11.September New York verwüstet haben.
Dennoch ist "Verbrechen gegen die Menschheit" kein Ausdruck, den man von Amerikanern zu hören kriegt. Sie bevorzugen "terroristische Gräueltat", was nicht ganz so wirkungsvoll ist. Wieso, frage ich mich? Weil über ein terroristisches Verbrechen gegen die Menschheit zu sprechen Tautologie wäre? Oder weil die USA gegen internationale Gerechtigkeit sind? Oder ist es, weil sie sich gezielt der Schaffung eines internationalen Gerichtshofs widersetzt haben, mit der Begründung, dass eines Tages auch Bürger ihres eigenen Landes vorgeladen werden könnten?
Das Problem ist, dass Amerika eine eigene Version der Gerechtigkeit haben will, ein Konzept, das in der Western- und Hollywood-Version des Zweiten Weltkriegs zu wurzeln scheint. Präsident Bush spricht davon, sie auszuräuchern, von den alten Flugblättern, die einst Dodge City zierten: "Gesucht, tot oder lebendig". Tony Blair erzählt uns jetzt, dass wir Amerika beistehen müssen, genauso wie uns Amerika im Zweiten Weltkrieg beigestanden hat. Ja, es ist wahr, dass Amerika uns dabei geholfen hat, Westeuropa zu befreien. Aber in beiden Weltkriegen zogen es die USA vor, erst nach einer langen und — im Fall des Zweiten Weltkriegs — sehr profitablen Periode der Neutralität einzugreifen.
Verdienen die Toten von Manhattan nicht Besseres als das? Es sind weniger als drei Jahre her, seit wir mit 200 Cruise Missiles einen Angriff auf den Irak gestartet haben, weil er die UN-Waffeninspekteure hinausgeworfen hatte. Zwecklos zu sagen, dass nichts erreicht wurde. Mehr Iraker wurden getötet, die UN- Inspekteure kehrten nie zurück, die Sanktionen wurden fortgesetzt, irakische Kinder starben weiterhin. Keine Politik, keine Perspektive. Taten, nicht Worte.
Und da stehen wir heute. Anstatt Afghanistan zu helfen, anstatt zehn Jahre zuvor dem Land unsere Hilfe zukommen zu lassen, seine Städte und Kultur wiederaufzubauen und ein neues politisches Zentrum zu schaffen, das über eine Stammeskultur hinausgegangen wäre, ließen wir es in Stich. Sarajevo konnte wiederaufgebaut werden. Nicht Kabul. Eine Art Demokratie konnte in Bosnien errichtet werden. Nicht in Afghanistan. Schulen konnten in Tuzla und Travnik wiedergeöffnet werden. Nicht in Jalalabad. Als die Taliban kamen und alle Gegner beseitigten, Dieben die Arme abhackten und untreue Frauen zu Tode steinigten, betrachteten die USA sie als eine Kraft der Stabilität nach Jahren der Anarchie.
Bushs Drohungen haben praktisch die Evakuierung aller westlichen Hilfskräfte erzwungen. Jetzt schon sterben deswegen Afghanen. Die Dürre und der Hunger töten weiterhin Millionen — ich meine Millionen —, und täglich werden zwischen 20 und 25 Afghanen von den 10 Millionen Landminen zerrissen, die von den Russen zurückgelassen wurden. Selbstverständlich sind die Russen niemals zurückgekehrt, um die Minen aufzuräumen. Ich schätze, diese B52-Bomben werden ein paar von ihnen hochgehen lassen. Aber das wird wahrscheinlich die einzige humanitäre Hilfe sein, die wir dort in der nächsten Zukunft sehen werden.
Man betrachte das erstaunlichste Bild dieser ganzen letzten Woche. Pakistan hat seine Grenzen zu Afghanistan geschlossen. Genauso der Iran. Die Afghanen sollen in ihrem Gefängnis bleiben. Außer sie schaffen es, sich durch Pakistan durchzuschlagen und an den Strand von Frankreich oder an die australischen Gewässer gespült zu werden, oder durch den Tunnelkanal zu klettern, oder ein Flugzeug nach Großbritannien zu entführen, um sich den Zorn unseres Innenministers zuzuziehen. In welchem Fall sie zurückgeschickt werden müssten, abgewiesen, Zugang verwehrt. Es ist eine wahrhaft schreckliche Ironie, dass der einzige Mann, den wir aus Afghanistan haben wollen, der Mann ist, von dem man uns versichert, er sei der böse Geist hinter dem größten Massenmord der amerikanischen Geschichte: Bin Laden. Die anderen können zu Hause bleiben und sterben.

Robert Fisk

Robert Fisk ist seit 1976 einer der anerkanntesten Journalisten und Korrespondenten für den Mittleren Osten. Er arbeitet für den Londoner Independent. Seine Arbeit wurde mehrfach preisgekrönt. Er ist auch der erste Journalist, dem es 1993 gelungen ist, Osama Bin Laden zu interviewen.

http://msanews.mynet.net/Scholars/Fisk/

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