Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 11.10.2001, Seite 8

Sechs Tage danach

Wie fühlen gewöhnliche Pakistani?

Ich schreibe aus meiner Vaterstadt, Toba Tek Singh, 300 km entfernt von Lahore in Zentralpunjab gelegen. Es ist ein vorwiegend ländliches Gebiet. Es gibt kein Feudalstruktur, das Einkommen kommt vorwiegend aus dem Anbau von Baumwolle, Weizen, Rohrzucker und Mais. In den 70er Jahren war es ein Zentrum der Bauernbewegung, die von der stalinistischen Linken geführt wurde.
Am 23.März 1970 fand hier eine Bauernversammlung mit einer halben Million Menschen statt.
Heute ist die Stadt in der Hand der religiösen Fundamentalisten. Auf dem großen Platz im Zentrum sieht man Wandbilder von Märtyrern — die Jugendlichen, die in den letzten Jahren im Heiligen Krieg in Kashmir getötet wurden. An jeder Ecke gibt es Koranschulen.
Die religiösen Fundamentalisten haben noch nicht die Wahlen zur Stadtverwaltung gewonnen; die PPP und die Moslemliga, die beiden größten bürgerlichen Parteien, haben dort immer noch die Mehrheit. Aber auf der Straße gehört die Macht den religiösen Fundamentalisten.
Viele Jugendliche aus Arbeitermilieus wurden in den letzten Jahren für den Heiligen Krieg in Afghanistan oder im Kashmir gewonnen. Die Jugendlichen finden keine Arbeit, aber wenigstens finden sie in den Koranschulen und in den militärischen Ausbildungslagern das Nötigste, was sie zum Leben brauchen.
Javaid Hashmi, der Zentralvorsitzende der Moslemliga, hat mir erzählt, er werde häufig in Familien eingeladen, deren Söhne im Heiligen Krieg gefallen sind. Wenn er zu ihnen kommt, wird er gebeten, nicht sein Beileid auszudrücken, sondern die Familie zu dieser großen Leistung zu beglückwünschen. Dann werden Süßigkeiten gereicht als Geste des Glücks, das der Familie widerfahren ist.
Das passiert in allen Dörfern, aus denen diese Jugendlichen normalerweise kommen, im ganzen zentralen und südlichen Punjab, woraus sich der größte Teil des Nachwuchses dieser religiösen Organisationen rekrutiert.
Nach dem Anschlag auf die amerikanischen Städte war ich vier Tage in Lahore. Dort fühlen viele Arbeiter und einfache Leute Freude und Glück darüber, dass den Amerikanern endlich einmal eine Lektion erteilt wurde.
Es gab auch Sympathie für die Opfer des Anschlags. Es war keine fanatisierte Stimmung oder eine vorbehaltlose Unterstützung für die religiösen Fundamentalisten.
In Toba Tek Singh aber war die Stimmung fanatisch. Ich traf dort meinen alten Vater. Ein Händler sein Leben lang, kämpft er jetzt mit den Banken, weil er Kredite zurückzahlen soll, die er einst aufgenommen hat in der Hoffnung, die Landwirtschaft werde mehr Geld abwerfen. Er wurde enttäuscht.
Alles was er unternommen hat, um sein ständig sinkendes Einkommen aufzubessern, hat nichts gefruchtet. Sein Leben lang stand er treu zur konservativ-bürgerlichen Moslempartei.
Als ich ihm sagte, ich verurteilte die Angriffe und was mit der Taliban-Regierung geschehen werde, sagte er: "Hier findest du niemanden, der dich unterstützt."
Er glaubt, die Taliban werden den Amerikanern eine weitere historische Lehre erteilen und die Tage des Militärregimes in Pakistan seien gezählt, weil sie den Amerikanern in die Hände spielen.
Er sagte: "Ich bin sehr glücklich über das, was in Amerika passiert ist. IWF und Weltbank haben mein Leben zerstört; ich bin jetzt den Banken ausgeliefert, weil diese Institutionen mein Agrobusiness zerstört haben. Ich kann den Preis der Unkrautvertilger nicht zahlen, weil die staatlichen Subventionen gestrichen wurden, mein Orangengarten ist dadurch zerstört."
Sechs Tage nach den Anschlägen scheint es, dass viele glücklich und stolz sind, dass endlich jemand den Job getan hat, den sie hätten tun müssen. Unter den Massen gibt es einen großen Hass gegen den amerikanischen Imperialismus.
Die Stimmung wendet sich zugunsten der Fundamentalisten. Wenn die Amerikaner angreifen, wird das Militärregime mit außergewöhnlichen Demonstrationen und Protestkundgebungen unter der Führung der religiösen Fundamentalisten konfrontiert sein.

Farooq Tariq (18.9.2001)

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