Sozialistische Zeitung |
Nach den Anschlägen vom 11.9. sagten einige internationale Organisationen ihre geplanten turnusmäßigen Treffen ab bzw. verlegten sie: Der
IWF verzichtet in Washington auf seine Herbsttagung, der NATO-Rat, der sich in Neapel treffen wollte, zog sich auf sein Hauptquartier in Brüssel zurück. Nur das Treffen der WTO
am 9. und 10.November bleibt erhalten seine Bedeutung wird von den Herrschenden nach den Anschlägen als eher noch wichtiger eingeschätzt als vorher. Und auch der
vorgesehene Ort, Qatar, soll möglichst beibehalten werden; sollte es dort aber zu brenzlig werden, will man am Sitz in Genf tagen.
Der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung, die für den 27.September nach Neapel, für den
28.September nach Washington mobilisiert hatte, ging damit nicht nur die physische Präsenz des Gegenstands der Proteste verloren. Sie musste sich auch inhaltlich umstellen, vom Protest
gegen die Globalisierung zum Protest gegen den Krieg.
In Neapel gelang dies auf bemerkenswerte Weise: Die Rete No Gobal, die im März mit 30.000 Leuten gegen die
gemeinsame Tagung von OECD und Weltbank auf die Straße gegangen war, brachte auch diesmal wieder, trotz der doppelt erschwerten Bedingungen, dieselbe Menschenmasse auf die
Beine zu einer von Anfang bis Ende friedlichen Demonstration, ohne Helme, ohne Schutzpolsterungen, ohne Schwarz. Das einzige Schwarz, das getragen wurde, war das einer Gruppe
von Frauen, die ein Transparent trugen "Vergessen wir nicht Sabra und Shatila" (zwei Orte im Libanon, in denen die israelische Armee 1982 ein Massaker anrichtete). Anders als im
März und als in Genua gab es auch einen gut vorbereiteten Ordnerdienst. Trotzdem zogen es die katholischen Gruppen diesmal vor, eine eigene Demonstration zu machen.
In Washington war es erheblich schwerer. Zur Demonstration gegen die IWF-Tagung hatten die Organisatoren mit 100.000
Menschen gerechnet; zur Demonstration gegen den Krieg kamen höchstens 10.000. Der Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO hatte seine Teilnahme abgesagt. Einige hundert Patrioten
sammelten sich zu einer Gegendemonstration, auf der sie die Kriegsgegner als "Verräter" beschimpften. Das von der Regierungspropaganda und den Medien erzeugte Klima,
das Kritik mit Illoyalität gleichsetzt, wiegt schwer.
Aber das ist es nicht allein. In beiden Fällen waren es vorwiegend Kräfte aus der Bewegung der
Globalisierungskritiker, die auf die Straße gingen. Sie hatten auch leicht einen gemeinsamen Nenner gefunden: Nein zum Terrorismus, Nein zum Krieg; Krieg ist nicht die Antwort. Aber
die Verbindung zu ihrem ureigenen Anliegen, der Kritik an der kapitalistischen Globalisierung, liegt nicht so ohne weiteres auf der Hand. Sie erschließt sich erst auf den zweiten Blick,
wenn man der Frage nachgeht: Warum konnte der 11.9. geschehen? Was ist das für eine Welt, in der dies möglich ist?
Dazu muss man wissen, welche Auswirkungen der Fall der Mauer, die Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF, die
erzwungene weltweite Liberalisierung der Märkte, die Entfesselung der Macht der Konzerne auf das Alltagsleben in den ärmeren Regionen der Welt hat: im arabischen Raum, in
Asien und Afrika. Und wie dort die schrankenlose Entfaltung der Militärmacht USA erlebt wird.
Der Zusammenhang erschließt sich, wenn man registriert, was sich die Geschäftsleute von Kairo bis Manila, was
die vom IWF und der Weltbank gebeutelten Bauern im Mittleren und Fernen Osten und auf dem indischen Subkontinent erzählen, deren Söhne von religiösen
Fundamentalisten rekrutiert werden: Die internationalen Finanzinstitutionen, die die Interessen der multinationalen Konzerne durchsetzen, entziehen ihnen die Existenzgrundlage und werfen sie
auf den Status kolonialer Abhängigkeit zurück; die erdrückende Militärpräsenz der USA beraubt sie der Möglichkeit, über ihre wertvollen
Rohstoffe wie Erdöl und strategische Metalle selbst zu bestimmen.
Mit Arroganz nehmen sich die USA das Recht heraus, Regierungen, die ihnen nicht mehr passen, nach Gutdünken
abzusetzen, wie es jetzt wieder in Afghanistan geschieht und dem Irak erneut droht. Aber auch Pakistan kann nicht sicher sein, dass es in einer späteren Phase des Kriegs nicht vom
Bündnispartner zum Objekt des Kriegs "gegen den Terrorismus" mutiert.
Eine marxistische Organisation in Israel, die Organisation für Demokratische Aktion (ODA), fasst die neuen
Herausforderungen für die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung in einer Stellungnahme vom 17.9. folgendermaßen zusammen:
"Das Pentagon ist das Nervenzentrum des ‚Bösen. Dort werden die Kriege geplant. Hier wurden die
Pläne gegen legitime Regierungen vieler Länder geschmiedet. Wenn einige versuchten, ihren Reichtum gerechter zu verteilen, schritt Amerika ein. Es bewaffnete und finanzierte
Gruppen, um gewählte Staatschefs zu stürzen und an ihre Stelle Diktatoren zu setzen. Kuba, Chile, Iran, Osttimor, Nicaragua und Irak wurden alle Opfer von amerikanischen
Destabilisierungskampagnen. Im Nahen Osten wurde das Osloer Abkommen zu einer tödlichen Falle für die Palästinenser. Im Irak hat die amerikanische Politik der
Sanktionen über einer halben Million Kindern das Leben gekostet.
Neben dem Pentagon haben zwei Flugzeuge die Zwillingstürme des World Trade Center zum Einsturz gebracht. Die
Selbstmordattentäter haben das Symbol der wirtschaftlichen Vormacht der USA angegriffen.
Die Anschläge bedeuten einen schweren Rückschlag für die Kampagne gegen die wirtschaftliche Diktatur
der USA. Amerikanische Multis haben in aller Welt Hunger und Arbeitslosigkeit verbreitet. Nach den Interventionen des IWF, der von den USA kontrolliert wird, sind etwa zwanzig
afrikanische Staaten in eine tiefe Schuldenkrise gestürzt. Ihre Ressourcen sind das Objekt billiger und einfacher Ausbeutung durch die Konzerne geworden, während die
Bevölkerungen an Hunger oder an Aids sterben. Lateinamerika hat aus den gleichen Gründen unter der Last seiner Schulden seine Zukunft verloren.
Der Widerstand gegen Amerikas Egoismus und Arroganz hat erst begonnen. In Seattle, Genua und Washington haben Menschen
gegen den globalen Kapitalismus protestiert.
Die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung war ein Hoffnungsschimmer, das Zeichen einer neuen
revolutionären Energie unter abhängig Beschäftigten wie Jugendlichen in den Ländern des Westens, einschließlich der USA selbst.
Diese Bewegung sieht sich heute eine doppelten Herausforderung gegenüber. Die jüngsten Terroraktionen negieren
und konterkarieren diese antikapitalistische Bewegung. Sie sind auch ein Angriff auf die Arbeitenden und Armen. Und es reicht nicht, die WTO und den IWF anzugreifen auch die US-
Regierung, ihre nationale wie internationale Politik, muss in Frage gestellt werden."
Angela Klein
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