Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 25.10.2001, Seite 16

‘Von Natur aus unnatürlich‘

Terry Eagleton über den Begriff der Kultur, die Dialektik von Kultur und Natur und die Aktualität von Kulturkriegen

*Terry Eagleton: Was ist Kultur? Eine Einführung, München (C.H.Beck) 2001, 190 Seiten, 34 DM.

Einstmals, so der britische Kulturtheoretiker Terry Eagleton in seinem neuesten Werk*, in Zeiten der revolutionären Aufstiegsperiode bürgerlicher Sozialphilosophie waren Aufklärung, Zivilisation und Kultur Synonyme. Es galt, die Freiheit zum ganzen Menschen, zum Humanum zu erkämpfen, und Aufklärung, Zivilisation und Kultur waren gleichermaßen Mittel wie Ziel dieses Emanzipationsprozesses.
Bald schon jedoch, im Laufe des 19.Jahrhunderts, wurden aus Synonymen Antonyme. Mit Durchsetzung nicht nur der ideellen, sondern vor allem auch der reellen bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft und ihren neuen Ausgrenzungen, bekam "Aufklärung" einen elitären Charakter und "Zivilisation" einen entsprechend imperialistischen Beigeschmack. Der aufkommende romantische Antikapitalismus opponierte dagegen, indem er die "Kultur" als organische Lebensform gegen die "Kultur" als zivilisatorische Wertvorstellung, als "hohe Kultur" ausspielte und sich auf die Seite der "zurückgebliebenen" und unterdrückten Kulturen stellte. Mit militantem Partikularismus wehrte man sich gegen Nationalismus und Kolonialismus sowie das "Aufkommen einer Anthropologie im Dienst imperialer Mächte", schreibt Eagleton in seinem so eleganten wie knappen Durchmarsch durch zwei Jahrhunderte umkämpfter (Begriffs-)Geschichte.

Kampf der Kulturen

Heute bedeutet Kultur im allgemeinen "die Bejahung einer spezifischen — nationalen, sexuellen, ethnischen, regionalen — Identität, nicht deren Überschreitung. Und da sich jede dieser Identitäten als unterdrückt empfindet, hat sich das, was einst als Reich der Übereinstimmung gedacht wurde, in eine ‚Kampfzone‘ verwandelt. Mit einem Wort: Die Kultur ist nicht mehr ein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems. Sie ist nicht mehr ein Mittel, das politische Tagesgezänk hinter sich zu lassen, eine höhere oder tiefere Dimension, in der wir einander rein als Mitmenschen begegnen könnten; vielmehr hat sie selbst in das Lexikon des politischen Konflikts Einzug gehalten."
Sie wird zum "Schlachtfeld", zur "gängige(n) Münze des politischen Ringens": "Während hohe Kultur das wirkungslose Gegenteil von Politik darstellt, ist Kultur als Identität die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Für jene ist diese von einem unbedarften Sektierertum und allzu irdisch, für diese ist hohe Kultur von einer betrügerischen Interesselosigkeit und allzu ätherisch. So scheinen wir zwischen einem leeren Universalismus und einem blinden Partikularismus hin- und hergerissen zu sein. Ist KULTUR zu unbehaust und körperlos, so ist Kultur allzu begierig nach einer lokalen Wohnstatt."
Damit erweist sich Eagletons Buch auch als treffender Kommentar zum 11. September und dem sich daran anschließenden und kulturell aufgeladenen Krieg der vereinten one world gegen Afghanistan. Denn für den gebürtigen Iren und international bekannten Marxisten ist der Kampf zwischen KULTUR und Kultur nicht nur ein begriffsmäßiger. Er ist real und global, keine akademische, sondern eine weltpolitische Frage. Kultur als Ästhetik und Kultur als Anthropologie "repräsentieren praktisch den Unterschied zwischen dem Westen und seinem (!) Anderen". Zu Recht weist Eagleton jedoch auf zweierlei hin.
Erstens geht es hierbei nicht um jenen platten Kampf zwischen entwickelter und unterentwickelter Welt, den so viele allzu schnell erkennen wollen. Es handelt sich dabei vielmehr um einen immanenten Kampf innerhalb des transnationalen Kapitalismus, um einen Kampf zwischen einem vermeintlich universalistischen, nichts desto trotz herrschenden Liberalismus und einem vielfältigen Partikularismus unterschiedlichsten Charakters — "Nationalismus, Nativismus, Identitätspolitik, Neofaschismus, religiöser Fundamentalismus, Familienwerte, kommunitarische Traditionen, die Welt der Öko-Krieger und New-Age-Adepten".
Zum zweiten kann es nicht darum gehen, für die eine oder andere Seite einseitig Partei zu ergreifen, denn Marktkultur und militanter Partikularismus sind eben nur zwei verschiedene Seiten einer abzulehnenden Medaille — sie sind die Sackgasse, in die uns die herrschende Kulturkrise gebracht hat. So verständlich also der Aufstand der unterdrückten Kulturen ist, er tendiert ins Barbarische:
"Es kann keine politische Emanzipation für unsere Zeit geben, die nicht auf irgendeiner Ebene der Aufklärung verpflichtet ist, sosehr sie sich an dieser Herkunft stören mag. Diejenigen aber, die ausgeschlossen worden sind, müssen notgedrungen als unzivilisiert erscheinen, da ihr Kampf um Anerkennung oft kollektive oder militante Formen annimmt, die für eine liberale Kultiviertheit degoutant sind. Daraus folgt, dass der Ausschluss dieser Gruppen desto gerechtfertigter erscheint, je lautstärker sie gegen ihren Ausschluss protestieren. Man sollte aber im Kopf behalten, dass es andere, weniger bewunderungswürdige Aspekte liberaler Kultiviertheit waren, die ihnen diese Militanz zuallererst aufgezwungen haben. Kulturen, die um Anerkennung kämpfen, können es sich in der Regel nicht leisten, differenziert oder selbstironisch zu sein, und für diesen Mangel muss man diejenigen verantwortlich machen, die sie unterdrücken. Differenziertheit und Selbstironie bleiben jedoch Vorzüge."
Kultur als wesentlich verselbstständigte ist symptomatisch für eine Teilung, die sie überwinden will. "Sie ist selbst die Krankheit, für deren Lösung sie sich hält."

"Gemeinsame Kultur"

Was aber ist Eagletons Lösung des kulturellen Dilemmas? Mit den Postmodernisten wähnt er sich einig in der Analyse dessen was ist, in der Frage jedoch, wie es sein sollte, geht er andere, radikalere Wege. Für ihn liegt die Perspektive einer Lösung in der Rückkehr zu radikaler Politik, denn Radikale erkennen "eine solche Alternative zwischen partiellen Interessen und globaler Unparteilichkeit in dem Maße nicht mehr an, wie Frauen, ethnische Minderheiten oder die Arbeiterbewegung in der Förderung ihrer eigenen Interessen und Ziele letztlich auch die Möglichkeit einer globalen Emanzipation erblicken. Partikulare gesellschaftliche Gruppen können heute gerade in ihrer Parteilichkeit das Substrat von gemeinsamen Interessen bilden. Die Gesellschaft ist nicht von einem privilegierten Standpunkt über ihr zu einer Totalität zu machen, sondern nur von einem untergeordneten Standpunkt in ihr."
Radikale Politik kann für ihn nur ein Rückgriff sein auf die Traditionen sozialistischer Politik, für die "Universalität nicht die Alternative zum Lokalen, sondern in ihm präsent (ist). Das, wofür man in Bradford kämpft, ist für die Kämpfenden in Bangkok nicht gleichgültig, mögen auch die Auseinandersetzungen hier wie dort unterschiedliche Formen annehmen. Kultur als universaler Wert und Kultur als spezifische Lebensform sind nicht zwangsläufig Gegensätze. Dies wird mitunter von jenen vergessen, die den Illiberalismus der Unterdrückten mit dem Hinweis auf deren politische Situation entschuldigen möchten."
Eine neue "gemeinsame Kultur" ist ihm in Anlehnung an Raymond Williams keine von wenigen geschaffene und von vielen übernommene, sondern eine durch kollektive Praxis ständig veränderte "Ethik der gemeinsamen Verantwortung", die auf "umfassende(r) demokratische(r) Teilhabe auf allen Ebenen des sozialen Lebens einschließlich der materiellen Produktion sowie gleichberechtigte(m) Zugang zum Prozess der Kulturerzeugung" beruht und "konzertiertes sozialistisches Handeln voraus(setzt)".
Die Spur dieser "Kultur der Opposition" reicht im 20.Jahrhundert von der sowjetrussischen Avantgarde über die Weimarer Republik bis in die 60er Jahre und deren Gegenkultur. Die Erfahrung dieser Experimente zeige jedoch, dass, sobald die sie tragenden politischen Kräfte besiegt waren, auch diese oppositionelle Kultur zu welken begann. Über Erfolg und Misserfolg radikaler Kultur entscheidet deswegen nicht die Kultur selbst, sondern letztlich "das Schicksal einer breiteren politischen Bewegung".

Gegen den Kulturalismus

Dass Terry Eagleton nur in einer Rückbesinnung auf sozialistische Aufklärung und Aktion den möglichen Ausweg aus der umfassenden Kulturkrise erblickt, macht sein Buch zu einer erfrischenden Provokation des herrschenden Kulturbetriebs und dessen linker Parteigänger. Wirklich verdienstvoll ist es jedoch in einem anderen, damit zusammenhängenden Aspekt: in Eagletons genüsslicher Kritik des postmodernen Kulturalismus und seiner damit verbundenen Rehabilitierung des Naturhaft-Biologischen.
Der heutzutage vorherrschende Kult um den Körper und dessen Manipulierbarkeit ist für Eagleton nicht nur Produkt einer umfassenden Fetischisierung. In ihm manifestiert sich vor allem ein erbarmungsloser Voluntarismus, der Glaube, dass man alles schaffe, wenn man nur wolle. Dieser Fetischismus gipfele im postmodernen Kulturalismus, in "der Lehre, dass alle menschlichen Angelegenheiten eine Sache der Kultur sind".
Für Eagleton ist das kaum mehr als idealistische Haarspalterei: "Die Adrenalindrüsen der Armen mögen oft kräftiger arbeiten als die der Reichen, weil die Armen mehr unter Stress leiden, doch kann Armut Adrenalindrüsen nicht dort erschaffen, wo keine sind. Das ist die Dialektik von Natur und Kultur." Und: "Natürlich unterscheiden sich menschliche Körper nach Geschichte, Geschlecht, Ethnizität, physischen Fähigkeiten und dergleichen. Sie unterscheiden sich aber nicht in jenen Fähigkeiten — Sprache, Arbeit, Sexualität —, welche sie befähigen, überhaupt erst in ein potenziell universales Verhältnis zueinander einzutreten."
Seit den 60er Jahren, so Eagleton, wurde stattdessen "die Politik spektakularisiert, die Warenwelt ästhetisiert, der Konsum erotisiert und der zwischenmenschliche Verkehr semiotisiert". Seitdem erscheint die Kultur als neue "Dominante" der Gesellschaft, "auf ihre Weise so verankert und alles durchdringend wie im Mittelalter die Religion, im 19.Jahrhundert in Deutschland die Philosophie oder im viktorianischen Britannien die Naturwissenschaften. ‚Kultur‘ bedeutete, dass das soziale Leben ‚konstruiert‘ war und damit auf eine für radikale Aktivisten wie für Konsumexperten annehmbare Weise veränderlich, vielfältig und fließend. Doch war Kultur damit auch und erst recht zur ‚zweiten Natur‘ geworden, absolut essentialistisch und von massiver Dauerhaftigkeit. Der fortgeschrittene Kapitalismus hat den unwahrscheinlichen Trick geschafft, seine eigenen Lebensformen durch Berufung nicht auf ihre Dauer, sondern auf ihre Vergänglichkeit zu naturalisieren."
Dieser Verklärung von Kultur zur Pseudo-Natur setzt Eagleton die Erinnerung an den ursprünglichen Wortsinn der Kultur entgegen, denn etymologisch leitet sich der Begriff der Kultur aus der Natur ab, bedeutet so viel wie Urbachmachung und Tätigkeit und fügt das zusammen, was wir gewohnt sind zu trennen — Basis und Überbau.
Natur ist entsprechend stets kulturell vermittelt, so wie Kultur stets auf dem Umgang mit der Natur mittels der Arbeit beruht. Menschen sind mehr als die Produkte ihrer Umwelt, sie sind aber auch nicht die Schöpfer eines willkürlichen Selbstentwurfs. Mensch-Sein heißt gleichermaßen Selbstüberwindung wie Selbstverwirklichung und die Idee der Kultur bezeichnete von daher stets eine doppelte Zurückweisung:
"Verworfen werden der organische Determinismus und die Autonomie des Geistes. Die Idee der Kultur verwahrt sich gegen den Naturalismus wie gegen den Idealismus; gegen jenen besteht sie darauf, dass es in der Natur etwas gibt, das über sie hinausschießt und sie aufhebt; gegen den Idealismus insistiert sie darauf, dass auch das edelste menschliche Tun seine bescheidenen Wurzeln in der Biologie des Menschen und seiner natürlichen Umwelt hat."
Kultur und Natur sind also sinnvoll nur dialektisch zu verstehen und zu behandeln, nur im Blick auf die menschliche Totalität, das Gattungswesen Mensch. "Von Natur aus unnatürlich", überschreitet die menschliche Natur "das Maß einfach vermöge dessen, was sie ist. Eben dies unterscheidet die Menschen von Tieren, deren Leben streng durch ihre Gattungsbedürfnisse begrenzt ist."
Noch immer ist die Diskussion um eine marxistische Anthropologie unterentwickelt und tabuisiert. Dass auch Eagleton, der bisher eher selbst zu den Kulturalisten neigte, umzudenken beginnt, das liegt vor allem an seiner politisch-theoretischen Verarbeitung des letzten Jahrzehnts. 1996 (1997 auch auf deutsch) veröffentlichte er seine so glänzende wie scharfe Abrechnung über Die Illusionen der Postmoderne. Dort beklagte er sich, dass man "zwar im Allgemeinen von menschlicher Kultur, aber nicht von menschlicher Natur sprechen (darf), von Geschlecht, aber nicht von Klasse, vom Körper, aber nicht von Biologie, von Jouissance, aber nicht von Gerechtigkeit, von Postkolonialismus, aber nicht vom Kleinbürgertum".
Das neue Buch kann als Fortsetzung dieses bereits zum Klassiker gewordenen Werkes gelten, denn nun redet er über all das. Und er tut dies, weil uns die immanenten Grenzen des linken Zeitgeistes bei der Lösung der vor uns stehenden Probleme massiv behindern. Identitätskulturen sind zwar eine Protestform gegen die Entfremdungen der Moderne, verewigen dieselben jedoch gleichzeitig durch die Art ihres zersplitterten Protestes. Doch nicht nur das. Kulturalisten sind im Grunde auch politisch konservativ: "Wenn Kultur wirklich unsere Natur von Grund auf prägt, dann scheint es in dieser Natur nichts zu geben, was sich einer unterdrückenden Kultur gegenüberstellen könnte."
Kein Zweifel, "Kultur" hat eine einstmals ungeahnte politische Bedeutung erhalten. Das hat sie unbescheiden und überheblich werden lassen, denn: "Die hauptsächlichen Probleme, mit denen wir es in diesem neuen Jahrtausend zu tun bekommen werden — Krieg, Hunger, Armut, Krankheit, Verschuldung, Drogen, Umweltverschmutzung, die Entwurzelung ganzer Völker —, sind keineswegs besonders ‚kulturell‘. Es sind nicht in erster Linie Fragen der Werte, der Symbolik, der Sprache, der Tradition oder der Zugehörigkeit und erst recht nicht der Künste. Kulturtheoretiker haben als Kulturtheoretiker herzlich wenig zur Lösung dieser Probleme beizutragen … Wie alle anderen materiellen Dinge haben diese Fragen gewiss eine kulturelle Seite; sie sind mit Glaubensüberzeugungen und Identitäten verknüpft und zunehmend in doktrinäre Systeme verstrickt. Aber ‚kulturelle‘ Probleme sind es nur, wenn man den Begriff bis zur Bedeutungslosigkeit aufbläht."

Christoph Jünke

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