Sozialistische Zeitung |
Europa hat den Tschetschenen im Speziellen und den "kaukasischen Bergvölkern" im Allgemeinen seit jeher vor allem Gleichgültigkeit
entgegengebracht. Diese These von Karl Grobe-Hagel, Redakteur der Frankfurter Rundschau und Spezialist für Russlandfragen, hat sich kurz nach der Veröffentlichung seines
Buches Tschetschenien ein langer Krieg Anfang September erneut bestätigt.
Schon 1864 griff Karl Marx in seiner Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation den "schamlosen Beifall,
die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit" an, mit der "die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord … und der Erbeutung der Bergveste des Kaukasus
durch Russland zusahen".
Damals schlug Russland die ungarische Freiheitsbewegung nieder und hatte sich dadurch als Retter der österreichisch-
ungarischen Reaktion erwiesen. Heute steht Russland in der Einheitsfront gegen den islamischen Fundamentalismus und hat dafür von Europa freie Hand im Umgang mit
tschetschenischen Separatisten bekommen.
Die leidvolle Geschichte Tschetscheniens, die nur zu Anfang der jungen Sowjetrepublik, die der Tschetscheno-Inguschetischen
Autonomen Sowjetrepublik weitgehende Unabhängigkeit einräumte, unterbrochen wurde, zeichnet Grobe-Hagel in seinem Buch detailliert nach. Dazu gehört auch die
Entwicklung der muslimischen Religion und ihr Wechselspiel mit den jeweiligen Expansionsbestrebungen des großen Nachbarn.
Schon die Islamisierung des an Bodenschätzen reichen Tschetscheniens im 18. und 19.Jahrhunderts fällt in die Zeit
der ersten ernsthaften russischen Expansion und "sie ist wahrscheinlich eine direkte Reaktion darauf", so Grobe-Hagel. Und er warnt davor, dass eine vergleichbare Entwicklung das
"Vordringen einer wesentlich radikaleren Variante des Islam zu Beginn des 21.Jahrhunderts" sein könnte des Wahhabismus, einer fundamentalistischen
Strömung des sunnitischen Islam.
Eigentlich hing ein Großteil der Tschetschenen eher dem Sufismus an, einer Form des Islam, dessen Anhänger sich
bisweilen sogar als Kommunisten bezeichneten. Das nahm allerdings mit der stalinistischen Politik der Zwangsumsiedlung spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg ein bitteres Ende.
Obwohl mehrere hundert Tschetschenen im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht mit hohen sowjetischen Ehrentiteln
ausgezeichnet wurden, benutzte Stalin einige Dutzend tschetschenische Kollaborateure, um die Tschetschenen kollektiv der Kollaboration zu beschuldigen und die Zwangsumsiedlung von
Hunderttausenden einzuleiten.
Davon versprach sich die damalige Sowjetunion eine bessere Kontrolle und Zugriff auf das rohstoff- und erdölreiche
Land. Nikita Chruschtschow, Stalins Nachfolger, rehabilitierte zwar die Tschetschenen und sie erhielten das Recht zurückzuwandern. Entschädigung für das erfahrene Leid
bot er ihnen nicht an. Parallel dazu wuchs in den Nachkriegsjahren die Anhängerschaft fundamentalistischer Religionsgemeinschaften der Tschetschenen.
Nun habe mit dem ersten Tschetschenien-Krieg Mitte der 90er Jahre vor allem die radikale Strömung des Wahhabismus,
deren reduktionistisches Verständnis des Islam dem Sufismus diametral entgegenstehe, gerade bei der jüngeren Generation vermehrt Zuspruch gefunden, so Grobe-Hagel.
Diese im Durchschnitt gut ausgebildete Generation hat keinerlei Perspektiven nicht im eigenen Land und auch nicht in
Russlands Hauptstadt, wo ca. 60.000 Tschetschenen leben, die vor allem im niederen Dienstleistungsbereich tätig sind.
Die Wahhabiten erscheinen hingegen als eine machtvolle politische Kraft, die in den Augen dieser Generation auch ihre
materiellen Versprechen durchsetzen kann. Die islamische Gerichtsbarkeit offeriert potenziell nicht nur Machtpositionen, sondern der auch in Saudi-Arabien praktizierte Wahhabismus
verfügt im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Interessengruppen in Tschetschenien über beachtliche finanzielle Mittel. Russland, Deutschland, Großbritannien und die
USA treiben mit ihrer Politik die Tschetschenen in das Lager Osama Bin Ladens, so die abschließende These des Autors.
Mit Bin Laden teilen die tschetschenischen Wahhabiten nicht nur die Religion, sondern deren Führer unterhalten zu
seiner Organisation Al Quaida schon seit Jahren freundschaftliche Kontakte.
Gerhard Klas
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