Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 08.11.2001, Seite 12

Karl Grobe-Hagel: Tschetschenien — ein langer Krieg

Köln (Neuer ISP Verlag) 2001, 223 S., 29,80 Mark/15 Euro.

(Buchbesprechung)

Europa hat den Tschetschenen im Speziellen und den "kaukasischen Bergvölkern" im Allgemeinen seit jeher vor allem Gleichgültigkeit entgegengebracht. Diese These von Karl Grobe-Hagel, Redakteur der Frankfurter Rundschau und Spezialist für Russlandfragen, hat sich kurz nach der Veröffentlichung seines Buches Tschetschenien — ein langer Krieg Anfang September erneut bestätigt.
Schon 1864 griff Karl Marx in seiner Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation den "schamlosen Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit" an, mit der "die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord … und der Erbeutung der Bergveste des Kaukasus durch Russland zusahen".
Damals schlug Russland die ungarische Freiheitsbewegung nieder und hatte sich dadurch als Retter der österreichisch- ungarischen Reaktion erwiesen. Heute steht Russland in der Einheitsfront gegen den islamischen Fundamentalismus und hat dafür von Europa freie Hand im Umgang mit tschetschenischen Separatisten bekommen.
Die leidvolle Geschichte Tschetscheniens, die nur zu Anfang der jungen Sowjetrepublik, die der Tschetscheno-Inguschetischen Autonomen Sowjetrepublik weitgehende Unabhängigkeit einräumte, unterbrochen wurde, zeichnet Grobe-Hagel in seinem Buch detailliert nach. Dazu gehört auch die Entwicklung der muslimischen Religion und ihr Wechselspiel mit den jeweiligen Expansionsbestrebungen des großen Nachbarn.
Schon die Islamisierung des an Bodenschätzen reichen Tschetscheniens im 18. und 19.Jahrhunderts fällt in die Zeit der ersten ernsthaften russischen Expansion und "sie ist wahrscheinlich eine direkte Reaktion darauf", so Grobe-Hagel. Und er warnt davor, dass eine vergleichbare Entwicklung das "Vordringen einer wesentlich radikaleren Variante des Islam zu Beginn des 21.Jahrhunderts" sein könnte — des Wahhabismus, einer fundamentalistischen Strömung des sunnitischen Islam.
Eigentlich hing ein Großteil der Tschetschenen eher dem Sufismus an, einer Form des Islam, dessen Anhänger sich bisweilen sogar als Kommunisten bezeichneten. Das nahm allerdings mit der stalinistischen Politik der Zwangsumsiedlung spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg ein bitteres Ende.
Obwohl mehrere hundert Tschetschenen im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht mit hohen sowjetischen Ehrentiteln ausgezeichnet wurden, benutzte Stalin einige Dutzend tschetschenische Kollaborateure, um die Tschetschenen kollektiv der Kollaboration zu beschuldigen und die Zwangsumsiedlung von Hunderttausenden einzuleiten.
Davon versprach sich die damalige Sowjetunion eine bessere Kontrolle und Zugriff auf das rohstoff- und erdölreiche Land. Nikita Chruschtschow, Stalins Nachfolger, rehabilitierte zwar die Tschetschenen und sie erhielten das Recht zurückzuwandern. Entschädigung für das erfahrene Leid bot er ihnen nicht an. Parallel dazu wuchs in den Nachkriegsjahren die Anhängerschaft fundamentalistischer Religionsgemeinschaften der Tschetschenen.
Nun habe mit dem ersten Tschetschenien-Krieg Mitte der 90er Jahre vor allem die radikale Strömung des Wahhabismus, deren reduktionistisches Verständnis des Islam dem Sufismus diametral entgegenstehe, gerade bei der jüngeren Generation vermehrt Zuspruch gefunden, so Grobe-Hagel.
Diese im Durchschnitt gut ausgebildete Generation hat keinerlei Perspektiven — nicht im eigenen Land und auch nicht in Russlands Hauptstadt, wo ca. 60.000 Tschetschenen leben, die vor allem im niederen Dienstleistungsbereich tätig sind.
Die Wahhabiten erscheinen hingegen als eine machtvolle politische Kraft, die in den Augen dieser Generation auch ihre materiellen Versprechen durchsetzen kann. Die islamische Gerichtsbarkeit offeriert potenziell nicht nur Machtpositionen, sondern der auch in Saudi-Arabien praktizierte Wahhabismus verfügt im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Interessengruppen in Tschetschenien über beachtliche finanzielle Mittel. Russland, Deutschland, Großbritannien und die USA treiben mit ihrer Politik die Tschetschenen in das Lager Osama Bin Ladens, so die abschließende These des Autors.
Mit Bin Laden teilen die tschetschenischen Wahhabiten nicht nur die Religion, sondern deren Führer unterhalten zu seiner Organisation Al Quaida schon seit Jahren freundschaftliche Kontakte.

Gerhard Klas

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