Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 08.11.2001, Seite 13

Bürgerkrieg in Kolumbien

Vertreibung und Mord als Mittel neoliberaler Entwicklungspolitik

Während die Welt gebannt auf den jüngsten von den USA begonnen Krieg schaut, geraten andere Konflikte aus dem Blickfeld — oder gar nicht erst hinein, obwohl sie kaum weniger Opfer fordern. Einer dieser vergessenen Kriege, die von der Weltöffentlichkeit nicht als solche wahrgenommen werden, ist der in Kolumbien.
Auch wenn Krieg ein sehr starkes Wort ist, im kolumbianischen Falle ist es angesichts der zu beklagenden zivilen Opfer gerechtfertigt, von einem Krieg zu sprechen. Allein in den ersten zehn Tagen des letzten, von der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo bereits als "schwarzer Oktober" bezeichneten Monats, wurden in 22 Massakern mindestens 147 Zivilisten getötet, etwa genauso viele, wie bis zu diesem Zeitpunkt im Krieg in Afghanistan. Einen entscheidenden Unterschied gibt es allerdings: Während in Angriffskriegen wie dem in Afghanistan vorwiegend militärische Ziele angegriffen werden (sollen) und zivile Opfer zynisch als "Kollateralschäden" in Kauf genommen werden, sind in Kolumbien Zivilisten von vorn herein primäre, wenn nicht alleinige Ziele der Angriffe. Die Paramilitärs oder "autodefensas" (Selbstverteidiger), wie sie sich selbst nennen, sind allerdings weder ein Haufen Verrückter, die wahllos Leute niedermetzeln (auch wenn das von außen so aussehen mag, insbesondere angesichts der ermordeten und gefolterten Kinder, Frauen, Alten usw.), noch besorgte Bürger, die sich nur vor den Angriffen der Guerilla schützen wollen (wie sich die autodefensas (AUC) selber gerne darzustellen versuchen). Der Krieg in Kolumbien hat sehr rationale Gründe und folgt einer Logik, die nur mit einem Rückblick in die Geschichte zu verstehen ist.

Kampf um Land

Fast alle Konflikte in Kolumbien hatten und haben ihren Ursprung im Kampf um Land. Das beginnt mit der Conquista, der brutalen Kolonialisierung des Landes durch Spanien, bei der ein Großteil der indigenen Bauern, die das Land besiedelt und kultiviert hatten, von ihrem Land vertrieben wurden, welches in Haziendas und Latifundien umgewandelt wurde. Gegen diese Vertreibungen und die Armut, die sich aus den ungerechten Landbesitzverhältnissen und der Abhängigkeit der als Tagelöhner arbeitenden Campesinos ergaben, erhoben sich Anfang des 19.Jahrhunderts Simon Bolivar und seine Truppen mit dem Ziel einer grundlegenden Landreform, die das Land denen zurückgeben sollten, die es bearbeiten. Dieses Versprechen, auf das sich die neue Republik gründete, wurde nie eingelöst.
Auch heute noch ist Landbesitz die größte Machtquelle — und dementsprechend heiß umkämpft. Die kolumbianische Oligarchie der beiden Staatsparteien, der liberalen und der konservativen Partei, hat sich nach dem desaströsen Krieg in den 40er/50er Jahren (genannt "La Violencia" — Die Gewalt) die Macht in einem historischen Kompromiss untereinander aufgeteilt. Diese Übereinkunft, sich in der Ausübung des Präsidentenamts abzuwechseln sowie kaum sichtbare Unterschiede in der praktischen Politik, verbunden mit einer extrem repressiven Bekämpfung aller, die den Interessen dieser Oligarchie im Wege stehen, machen einen friedlichen, demokratischen Wandel unmöglich. Der hauptsächliche Unterschied beider Parteien besteht in der Verquickung mit jeweils unterschiedlichen Clans, die sich untereinander im Kampf um Land und Einflusssphären bis aufs Blut bekriegen, was auch der Grund für "La Violencia" war.
Einig sind sich beide jedoch in der Bekämpfung von sozialen Bewegungen, insbesondere denen der Campesinos. So einigten sich 1973, auf einem Höhepunkt der Aufstände und Landbesetzungen der schwarzen, indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinschaften, die liberale und konservative Partei auf ein Gesetz, dass es der schwarzen und indigenen Bevölkerung verbot, Land in bestimmten (ökonomisch interessanten) Gebieten zu besitzen. Die dortige Bevölkerung wurde auf minderwertiges Land zwangsumgesiedelt.
Handfeste ökonomische und ideologische Gründe gingen bei der fortgesetzten Vertreibung der Landbevölkerung Hand in Hand: Die von US-Präsident John F. Kennedy Anfang der 60er Jahre initiierte "Allianz für den Fortschritt" hatte zum Ziel, durch eine Industrialisierung den Lebensstandard der Bevölkerung Lateinamerikas zu verbessern, um so den Befreiungsbewegungen, die insbesondere nach der kubanischen Revolution überall im Aufwind waren, den Boden zu entziehen.
Die von der kolumbianischen Regierung eingeladenen Berater konstatierten, dass der Haupthinderungsgrund für die "Entwicklung" und Industrialisierung Kolumbiens die angeblich ineffiziente kleinbäuerliche Landwirtschaft und der Arbeitskräftemangel in den Städten sei. Aus ihren Vorschlägen zur Verbesserung der Effizienz und zur Freisetzung der Campesinos als Arbeitskräftereservoir für die Industrie entwickelte sich der "Via Gran Propriedad", die Proklamation des Wegs des Großgrundbesitzes, als angestrebtes Ziel und Fortsetzung der mit der Conquista begonnenen Tendenz.
Die hierbei hinderlichen Campesinos wurden mittels Krieg von ihrem Land vertrieben. Nüchterne Zahlen drücken dass Ausmaß dieser von oben initiierten Landflucht aus: Während vor 50 Jahren 70% der Bevölkerung auf dem Land lebte, sind es heute nur noch 25%. Auch das Ergebnis der Vertreibungen kann sich sehen lassen: heute besitzen 0,38% der Bevölkerung, das sind ca. 5000 Großgrundbesitzer, 45% des Landes. Ein guter Teil davon ist das Land der 2,8 Millionen Vertriebenen (das sind fast 15% der Gesamtbevölkerung), die es heute in Kolumbien gibt. Ein Sprecher der IMCORA, der Anfang der 60er Jahre gegründeten Kommission für die Wiederumverteilung des Landbesitzes, brachte es auf den Punkt: "Es gibt nicht Vertriebene, weil es Krieg gibt, sondern es gibt Krieg, damit es Vertriebene gibt."

Plan Colombia

Diese Politik der fortgesetzten Vertreibungen als Mittel der "Entwicklungshilfe", mit dem Ziel, die Landkonzentration zu vergrößern, wird im Zeitalter der Globalisierung sogar verschärft weitergeführt. Der neueste Plan, der mehrere Ziele auf einen Schlag erfüllt, nennt sich Plan Colombia. Dieser Plan, ursprünglich 1998 als Teil der Friedensverhandlungen zwischen der Guerilla der FARC und der Regierung gedacht, dann vollständig verändert, ausgearbeitet von der kolumbianischen und US- amerikanischen Regierung und deren Experten, sieht die Zerstörung von Kokapflanzungen durch das Versprühen von hoch konzentrierten Unkrautvernichtungsmitteln von Hubschraubern und Militärinterventionen in Konfliktgebieten vor.
Dieser Plan ignoriert vollständig die Gründe für den Anbau von Koka: Koka ist eine alte Kulturpflanze, die zu Heil- und Kultzwecken seit Jahrtausenden genutzt wird und nichts mit dem gefährlichen Kokain gemein hat, zu dem es durch chemische Extraktion gemacht werden kann. Und den großflächigen Anbau zum Zwecke des Handels gibt es erst seit 1978, weil aufgrund der mangelnden Vermarktungsmöglichkeiten und des Preisverfalls auf den Weltmärkten für die üblichen Früchte vielen Campesinos gar nichts anderes übrig blieb, als Koka anzubauen.
Dieses Problem soll theoretisch mit Geldern für die "soziale Kompensation" gelöst werden — die übrigens ca. 17% der für den Plan Colombia bewilligten Gelder ausmachen. De facto aber sind diese Gelder Teil des Problems. Mit ihnen werden nämlich agroindustrielle Megaprojekte gefördert, die die übrig gebliebenen Subsistenzstrukturen der Campesinos durch Monokulturen für den Export ersetzen sollen. Die Pflanzen, die angebaut werden sollen, sind zudem häufig fatal für den Boden und die Umwelt, wie die afrikanische Palme und der Eukalyptus, die den Boden extrem austrocknen bzw. versauern, so dass er in wenigen Jahren unbrauchbar wird.
Die Umstellung auf Exportproduktion von Agrargütern, die jetzt schon in vollem Gange ist, hat auch Auswirkungen auf den lokalen und nationalen Markt. 30 Millionen Tonnen Nahrungsmittel müssen importiert werden (gegenüber 320.000 1990), während Campesinos ihre Produkte nicht absetzen können, weil Vermarktungsstrukturen fehlen und weil ihre Waren gegen die Dumpingpreise der Industrieländer, die ihren Überschuss auf diese Weise loswerden, nicht konkurrenzfähig sind.
A propos ineffiziente kleinbäuerliche Landwirtschaft: kleine Farmen von unter 100 Hektar produzieren 70% der Nahrungsmittel, große Fincas von über 100 Hektar dagegen nur 1% — und das trotz der erheblich schlechteren Böden des Campesino-Lands.
Die flächendeckenden Sprühungen von Gift tun ein übriges, um die Landflucht und Vertreibungen fortzusetzen: Selten werden Kokapflanzungen getroffen, die sich meist versteckt im Dschungel befinden, aber die angebauten Nahrungsmittel wie auch die Böden werden verseucht.
Als Plan zur Bekämpfung der Drogen, als der er der Öffentlichkeit verkauft wird, ist der Plan Colombia ganz offensichtlich ungeeignet. Falls jemand an der wahren Zielrichtung dieser Interventionsstrategie gezweifelt haben sollte, so wurde er spätestens nach den Ereignissen des 11.September eines besseren belehrt: Plötzlich sprach zumindest in den USA niemand mehr über den Plan Colombia als Maßnahme zur Bekämpfung des Kokaanbaus, sondern als Strategie gegen den "Terrorismus" der Guerilla, insbesondere der FARC, im Rahmen der eilig aus dem Boden gestampften "Allianz gegen den Terror".
Dabei hat die kolumbianische Regierung eifrige Helfer: Die Paramilitärs, die sich im Aufwind wähnen, beziehen sich auf ihrer Website mit einem Zitat von Bush auf den von den USA ausgerufenen weltweiten Kreuzzug gegen den Terrorismus, um ihre jüngsten Massaker zu rechtfertigen.
Aber noch andere Gründe spielen eine Rolle für die jüngste Welle der Gewalt: Die sog. Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC, an denen beide aus unterschiedlichen Gründen teilnehmen, denen aber niemand wirklich traut, sind mal wieder ins Stocken geraten. Die FARC will ihre Gebiete schützen, weiß aber, dass die Regierung längst den Krieg vorbereitet; die Regierung Pastrana will Zeit gewinnen und den offenen Krieg nicht vor den Wahlen nächstes Jahr beginnen, weil sie die letzten mit dem Versprechen gewonnen hat, den Konflikt durch Verhandlungen mit der Guerilla zu lösen. Die Zivilbevölkerung traut dem sowieso nicht, weil sie weiß, dass sie nur Manövriermasse im Spiel der Mächtigen ist.
Nach der Ermordung der ehemaligen Kulturministerin — was der FARC angelastet wurde, diese aber abstritt — sah es so aus, als würde es zu einer offenen Intervention kommen, bevor sich die Regierung entschloss, die Verhandlungen wieder aufzunehmen und den Vertrag über das Gebiet der Guerilla zu verlängern. Aufgehört hatten das beiderseitige Säbelrasseln und die Gefechte auch während der Friedensverhandlungen ohnehin nie.
Die Paramilitärs wiederum tun alles ihnen mögliche, um den Friedensprozess zu stoppen und sich gleichzeitig als legitime Akteure zu etablieren, die an den Verhandlungen gleichberechtigt teilnehmen kann. Ihre jüngsten im Internet veröffentlichten Erklärungen zeigen ihre Ziele deutlich: So schreiben sie, dass es "keinen nachhaltigen Frieden mit den Guerillas geben wird, solange es keine nationale Vereinbarung gibt, an denen alle Kolumbianer teilnehmen, einschließlich der autodefensas".
Die Armee ihrerseits versucht, den Eindruck zu erwecken, alle bewaffneten Akteure zu bekämpfen, also auch die Paramilitärs, was übrigens Teil der letzten zwischen Regierung und FARC abgeschlossenen Vereinbarungen ist, gegen die die autodefensas Front machen. Allerdings ist es hinreichend bekannt und belegt, dass Militär und Paramilitär zumindest eng verknüpft, in vielen Fällen sogar identisch sind: Vielfach ist es vorgekommen, dass Armeeangehörige nur das Abzeichen am Arm wechselten und dann die Zivilbevölkerung umbrachten.
Dabei besitzen die Paramilitärs durch Drogenhandel und Gelder der Großgrundbesitzer sowie Landbesitz eine eigene ökonomische Basis. Ursprünglich als Privatarmee der Großgrundbesitzer gegen Landbesetzer und aufständische Campesinos gebildet, wurden sie später als Strategie der Regierung benutzt, das Image der durch zahlreiche Massaker ins Gerede gekommenen Armee zu verbessern, indem sie die Drecksarbeit den formal eigenständigen Paramilitärs überließ. Damit schließt sich jener Teufelskreis, in dem Landbesitz eine entscheidende Rolle spielt: Um Land zu bekommen und zu verteidigen, ist Krieg gegen die Campesinos notwendig, um diesen Krieg zu finanzieren, ist mehr Land nötig.
Allerdings sind es nicht nur Großgrundbesitzer und nationale Bourgeoisie, die ein Interesse daran haben, in Kolumbien militärisch aufzuräumen und zu befrieden: Auch wenn die Landwirtschaft ein Schlüsselsektor ist, hat Kolumbien einiges mehr zu bieten — gerade für internationale Investoren. Zu nennen wären u.a. Goldminen, Öl und billige Arbeitskräfte für die wachsende Maquiladora-Industrie (Fabriken, in denen meist junge Frauen völlig ungeschützt zu Niedrigstlöhnen schuften).
Wen wundert‘s, dass die meisten Vertreibungen und Massaker in diesen ökonomisch besonders interessanten Gebieten stattfinden, während der FARC ein riesiges, aber wenig ausbeutbares Gebiet überlassen wird? Im Zuge der Verhandlungen um die FTTA (Free Trade Area of the Americas), die amerikanische Freihandelszone, die sich nach Willen der Verhandlungsführer von Alaska bis Feuerland erstrecken soll, muss sich auch Kolumbien als ein Land mit "gutem Investitionsklima" für internationale Investoren präsentieren.
Kein Wunder, dass von vielen Kolumbianern der Plan Colombia als "bewaffneter Arm" der FTAA empfunden wird, als militärische Seite derselben Medaille, mit dem Ziel der Befriedung und Zurichtung des Landes für die Interessen der multinationalen Konzerne. Und dabei stört nicht nur die Guerilla.

Miriam Fischer

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