Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 08.11.2001, Seite 14

Perspektiven des Sozialismus

Sehr viel allgemeiner kann ein Thema nicht formuliert werden: "Sozialismus als Systemalternative — oder: Ist die Bewegung schon alles?" Doch genau darum ging es bei dem Tagesseminar des Linken Dialogs Köln am 1.November. 35 Interessierte nahmen teil, und inhaltlich war das ganze nicht nur anspruchsvoll, sondern immer wieder auch recht konkret.
Vier Referenten waren geladen, was zusammen mit den beiden Moderatoren des Seminars mit 100% ein leider höchst männerlastiges, aber davon abgesehen glücklich zusammengesetztes Podium ergab.
Michael Löwy, marxistischer Philosoph aus Paris, sprach zuerst und kennzeichnete das den Kapitalismus der Gegenwart bejahende Bewusstsein als eine "Religion der Verzweiflung". Der Marxismus werde schon seit hundert Jahren für "endgültig tot" erklärt und ist doch recht lebendig geblieben — wenn es auch auf vielen Gebieten der kritischen Besinnung bedarf, insbesondere in Sachen Ökologie und in Hinblick auf jene Unterdrückungsformen, die nicht im Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital aufgehen. Es gelte der gegenwärtigen falschen abstrakten Universalität, die die Herrschenden der reichen Industrieländer der ganzen Welt aufzwingen wollen eine neue, konkrete Universalität entgegenzusetzen, die die ganze Vielfalt der menschlichen Verschiedenheiten einschließt.
Am Beispiel des Beteiligungshaushalt in Porto Alegre im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul zeigte Löwy, wie Bewusstseinsbildungsprozesse auf breiter Basis zustandekommen können, wenn die Selbstaktivität und Selbstorganisation von unten politisch systematisch gefördert wird.
Ausgangspunkt des zweiten Referenten, Harald Neubert, eines Historikers aus Berlin und ehemaligen SED- und heutigen PDS- Mitglieds, war die Feststellung, dass das Ende der Periode von 1917 bis 1989/90 die Linke in eine nachhaltige Defensive gebracht hat. Er hinterfragte die traditionelle marxistische Position zur Rolle der Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt — was eine spannende und differenzierte Diskussion auslöste — und forderte die Differenzierung und Erweiterung dieses Subjektbegriffs. Er forderte auch einen neuen Internationalismus mit einer Pluralität von Formen und Inhalten, der über den Zusammenhalt "gleichartiger" Parteien hinausgeht und von kritischer Solidarität geprägt ist.
In Zusammenhang mit der Programmdebatte in der PDS hob Neubert die Wichtigkeit von "Reformen revolutionären Inhalts" und des macht- und eigentumspolitischen Bruchs mit dem Kapitalismus hervor, der im Programmentwurf I der Vorstandsmehrheit (Brie-Klein-Brie-Entwurf) nicht mehr gesehen werde. Obwohl sich diese Sichtweise in der PDS anscheinend durchsetzt, bezeichnete er die Entwicklung der PDS als noch "offen", was hie und da freundschaftliche Heiterkeit auslöste.
Ekkehard Lieberam, Jurist aus Leipzig und Mitglied des Marxistischen Forums in der PDS, kam noch konkreter auf die Auseinandersetzungen in der PDS zu sprechen und sprach von zwei Konzepten, zwei Wegen, zwei Zielformulierungen. Der Brie-Klein-Brie-Entwurf der "Modernisierer" sei nur scheinbar ein Abschied von Theorie schlechthin, nur handele es sich eben um eine Theorie aus nichtmarxistischen Versatzstücken. Im Gegensatz zum gültigen Programmentwurf von 1993 entkoppeln die "Modernisierer" allerdings die Analyse und die Folgerungen, Bewegung und Ziel. Das gültige Programm sagt klar, dass bei Strafe des Untergangs ein Ausweg aus dem Kapitalismus gefunden werden muss. Der Spielraum für Reformen sei sehr eng geworden, daher stehe Widerstand und in diesem Zusammenhang die Entwicklung von Gegenmacht im Vordergrund.
Unser Redakteur Christoph Jünke, vorgestellt als Historiker aus Bochum, erinnerte, Leo Kofler folgend, daran, dass es der "Vierte Stand" und die Arbeiterbewegung waren, die die Demokratie erkämpft hatten, die dann für die bürgerliche Herrschaft funktional wurde. Die sozialistische Arbeiterbewegung wurde wiederum zur Erbin dieser Tradition, denn durch den Widerspruch zum egoistischen Besitzinteresse war der emanzipative Anspruch des Bürgertums zum uneingelösten Versprechen geworden Ursprünglich ging es um die Selbstentfaltung der Individuen — und gerade das ist ohne die Überwindung des Kapitalismus nicht möglich.
Während aber die Sozialdemokratie nur die politische, "formale" Demokratie als Freiheit von Willkürherrschaft auf ihren Fahnen stehen ließ, beschränkte sich der Stalinismus auf die Proklamierung der Freiheit von materieller Not — die Freiheit zu etwas, nämlich zur Selbstentfaltung der Menschen zu ihrem Menschsein, von Marx und Engels in den Mittelpunkt des kommunistischen Ziels gestellt, blieb auf der Strecke.
Heute ist die sozialistische Perspektive erschüttert, und es gelte außer der Betonung der emanzipatorischen Werte, die den Maßstab der Kritik an den bestehenden Zuständen liefern, die Klippen der Anpassung wie auch der sektiererischen Abschottung zu umschiffen.Eine Reihe von Gesichtspunkten kamen in den Referaten und in der Diskussion zur Sprache, die hier nicht einmal gestreift werden können.
Nicht zuletzt die neue Lage seit dem 11.September und seit Beginn des imperialistischen Feldzugs "gegen den Terrorismus". Bei aller Vielfalt der vertretenen Meinungen: Hier waren sich die Anwesenden einig in der Gegnerschaft zu diesem Krieg. Die Tatsache, dass sich die PDS bislang nicht eingereiht hat in die politischen Handlanger dieses Feldzugs wurde von allen positiv hervorgehoben. Viele — gerade auch anwesende PDS-Mitglieder — warnten aber vor den Einfallstoren: Etwa wenn der Segen der UNO in ihrer heutigen Verfassung ausreichen sollte, um die Partei zu einem Schwenk zu bewegen…

Manuel Kellner

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