Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 08.11.2001, Seite 14

Quis custodit custodes?

Kolumne: Thies Gleiss

Es gibt in der Geschichte der Sozialdemokratie eine fast ungebrochene Regel. Sollte einer der ihren mal Verantwortlicher für Krieg nach innen oder außen werden, dann bricht ein missionarischer Übereifer aus ihm heraus, der den unbefangenen Beobachter entgeistert nach dem Doktor mit der Couch rufen lässt.
Die Noske, Zörgiebel, Severing, Herold, Scharping und jetzt Schily, und wie sie alle noch heißen, taten und tun so, als ob sie als Person alle Zweifel an Verfassungs- und Kapitalismustreue, die den Sozialdemokraten in ihrer gesamten Geschichte entgegen geschleudert wurden, in fünf Minuten ausräumen müssten. Die Gesichtszüge erstarren und aus dem Mund sprudeln Bedrohungs- und Gefährdungssuperlative, dass es dem Amateurpsychologen auf der Suche nach getroffenen Hunden, die bellen, eine wahre Freude wird. Das Klischee muss stimmen, dass der oberste Wächter die gnadenloseste Show der Wachsamkeit abzieht, damit seine Untergebenen nur keine Schwäche zeigen. Wie jüngst zu beobachten war, gibt es natürlich auch immer geifernde Medienstimmen, wenn einer von diesen sozialdemokratischen Wachhunden mal Weichheit zeigt, und sei es nur auf Badebildern — die Klischeeförderer und -bediener geben sich also die Hand.
Aber ein durchgeknallter Minister hinterlässt weiter unten eine Spur noch mehr vernebelter Beamter, weil speziell in Deutschland das Wort Dienstherr sehr wörtlich genommen wird. Denn was mussten wir gerade vom Ex-Parteigenossen Tariq Ali hören? Ihm, dem vor Jahren der Ruf voraus eilte, der schönste Mann der IV.Internationale zu sein, hat ein tumber Flughafenbulle in München den Weg in den Flieger nach London verweigert. Ja, ja "Mister Ali", wie sagt uns Schiller, mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.
Dem weltweit bekannten Schriftsteller und früheren britischen Studentenführer Tarig Ali wurde nicht nur sein Pakistaner-Aussehen zum Verhängnis. Schlimmer noch, in seinem Handgepäck wurde ein Buch gefunden, das gerade vom mit der SoZ befreundeten ISP-Verlag aus Frankfurt veröffentlicht wurde: Ein wieder aufgefundener und hübsch edierter Text von Karl Marx mit dem Titel Vom Selbstmord. Da war es mit Souveränität der Wächter restlos dahin. "Seit dem 11.September kann man mit solchen Büchern nicht mehr verreisen", soll der Beamte geraunt haben. Darauf Tariq Ali: "Wenn das so ist, dann sollten Sie die in Deutschland vielleicht gar nicht mehr drucken oder am besten gleich öffentlich verbrennen."
Die Sondervollmachten, die Otto Schily jetzt den Polizei- und Überwachungsbehörden genehmigen möchte, werden naturgemäß zu sonderbaren Reaktionen bei der Vollstreckung führen. Dem syrisch-stämmigen nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten der Grünen, Jamal Karsli, ist ja fast zeitgleich Ähnliches wie Tariq Ali passiert. Von den Hunderten Fällen unbekannter Menschen, die nicht wie Tariq Ali gerade vom Empfang beim Oberbürgermeister und Goethe-Institut in München kommen, aber ins Fadenkreuz übereifriger Wachhunde und Rasterfahnder gelangen, spricht und schreibt keine Presse. Die Sondervollmacht erfährt gerade in sonderlichen Maßnahmen ihre Regel, nicht ihre Ausnahme.
Da bleibt uns nur die Zusammenfassung seiner Erfahrung von Tariq Ali zu zitieren: "Da im verluderten Sprachgebrauch von heute zum ‚friedlichen Zusammenleben der Nationen‘ auch gehört, dass man gegen einige von ihnen Krieg führt, vermute ich, mein Münchner Erlebnis war nichts als eine kleine Kostümprobe zu dem, was noch kommt. Ich habe nur einen kleinen Kratzer abbekommen, aber aus Kratzern, um die man sich nicht kümmert, wird manchmal ein Brand."
Das Buch von Karl Marx aus dem ISP-Verlag ist im Übrigen sehr zu empfehlen.

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