Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 22.11.2001, Seite 11

Afghanistan

Nach dem Fall von Kabul

Die Nordallianz hat Kabul am 13.November übernommen, ohne auf großen Widerstand gestoßen zu sein. Der oft angedrohte sog. Jihad der Taliban war nirgendwo zu sehen, als die Kräfte der Allianz die Stadt erreichten. Kabul wurde eingenommen, ohne dass es zu einem ernsthaften Kampf mit den Taliban kam. Der Mythos, den die Taliban und ihre Unterstützer international verbreitet hatten, dass niemand sie besiegen kann wird nach dieser beschämenden Aufgabe Kabuls binnen weniger Tage rund um den Globus zerstört sein. Es war nicht, wie einige Medienvertreter angenommen haben, ein taktischer Rückzug, sondern Ausdruck des totalen Zerfalls der Moral unter den Taliban.
Die von den USA unterstützte Nordallianz nahm Kabul nur einen Tag nach einem öffentlichen Versprechen Bushs ein, dass die Allianz eben das nicht tun würde. Bush hatte dem auf Besuch befindlichen pakistanischen Militaerherrscher General Musharaf einen Gefallen tun wollen. Die pakistanische Regierung wirbt nun für eine UN-Friedenstruppe, die helfen soll, eine breite Regierung zu bilden; aber das geschieht vor allem, um überhaupt etwas zu sagen, nach dem Musharaf durch die Einnahme Kabuls öffentlich erniedrigt wurde.
Nachdem am 12.November ein weiteres Flugzeug in New York zerschellt war, wollten die USA verzweifelt gewinnen. Sie brauchten einen sofortigen Sieg. Das ist der Grund, weshalb das öffentliche Versprechen Präsident Bushs, dass die Nordallianz nicht in Kabul einziehen würde, fallengelassen wurde.
Der Fall von Kabul zeigt den absolut diktatorischen Charakter der Taliban, deren soziale Basis rasch zerfällt. Die gewöhnlichen Bürger Kabuls schienen erfreut über diesen Sieg. Die Nordallianz erließ als ersten Befehl, dass Frauen wieder zur Arbeit gehen können. Dies geschah, um ihren Herren in den imperialistischen Ländern gefällig zu sein. Die Mehrheit der Nordallianz vertritt gegenüber den Frauen keine andere Politik als die Taliban. Hat die Nordallianz ihre Machtbasis erst einmal gestärkt, wird sich das wahre Gesicht dieser Fundamentalisten zeigen.
Der US-Imperialismus hat einmal mehr die Taktik des "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" angewandt. Sie haben in der Vergangenheit einen hohen Preis für die Unterstützung und Förderung religiöser Fundamentalisten gegen die frühere Sowjetunion gezahlt. Sie wiederholen jetzt dieselbe Taktik, und wenn sie jetzt die Nordallianz weiter unterstützen, so ziehen sie ein weiteres Ungeheuer auf, dass in kürzester Zeit ihrer Kontrolle entgleiten könnte.
Die Niederlage der Taliban in Kabul ist kein Sieg für den US-Imperialismus. Er musste sich mit einer anderen religiös-fundamentalistischen Gruppe verbünden. Diese mag anfänglich einige kosmetische Änderungen ihres Image durchführen, aber sie wird ihr wirkliches Ziel einer islamischen Revolution in Afghanistan nicht aufgeben.
Die Taliban werden nun ihre Macht in Kandahar ebenfalls verlieren. Ihre Absicht, nach dem Rückzug in die Berge einen Guerillakrieg zu führen, wird nicht viel Gewicht haben. Osama wird vielleicht zusammen mit vielen anderen Taliban-Führern sein Leben verlieren. Aber mit dem Tod seiner bekanntesten Führer wird der religiöse Fundamentalismus nicht sterben.
Die Strategie der Taliban, sich in die Stammesgebiete an der pakistanischen Grenze zurückzuziehen, wird keinen Erfolg haben. Die Taliban sind ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. Es wird nicht mehr viel Zeit vergehen, bis sie in ganz Afghanistan die Macht verloren haben werden. Der religiöse Fundamentalismus wird eine lange Zeit brauchen, eine Staatsmacht wie im Fall des Iran und Afghanistans zu erringen. Aber der Fundamentalismus wird nicht absterben, und seine extremen Kräfte werden mit Selbstmordattentaten, Guerillaaktivitäten usw. weitermachen.
Für das Musharaf-Regime in Pakistan ergeben sich mit der Einnahme von Kabul durch die Nordallianz weitere Schwierigkeiten. Diese Aktion lief der Strategie von General Musharaf zuwider. Es scheint, dass der US-Imperialismus ein Doppelspiel gespielt hat. Einerseits hat er dem Militärregime versichert, dass er nichts gegen dessen Interessen unternehmen werde. Andererseits hat er die Nordallianz bewaffnet, damit diese es mit den Taliban aufnehmen kann. Der US-Imperialismus war sehr besorgt darum, dass seine eigenen Soldaten in diesem Krieg verschont blieben, von daher die Strategie, die Nordallianz zu bewaffnen, damit sie den Job erledigt. Sie erhielt volle Unterstützung aus der Luft, um auf Kabul vorzurücken. Nun zeigt die Reaktion von Blair und Bush, dass die Einnahme von Kabul für sie keine Überraschung darstellt und sie eben das geplant hatten.
Das pakistanische Militärregime ist von der Geschwindigkeit der Ereignisse überrascht worden. Nur pakistanische und arabische Jihad-Kämpfer waren in Kabul zurückgeblieben, um von den Kräften der Nordallianz massakriert zu werden. Ihre in Kabul liegenden Leichen zeigten die Methoden, die in Zukunft auch von der Nordallianz angewandt werden.
General Musharafs Politik, einerseits die Taliban abzulehnen, andererseits weiter die Mudjaheddin in Kashmir zu unterstützen, wird zur Zeit noch von den USA akzeptiert. Aber er wird keine andere Wahl haben, als seine Kashmir-Politik aufzugeben. In der Frage des Terrorismus sind keine zwei Linien möglich. Er muss sich entscheiden. Hört er in Sachen Kashmir nicht auf den US-Imperialismus könnte er schon bald nicht nur seine Macht, sondern auch sein Leben verlieren. Die Bush-Regierung hat Musharaf für die mutige und pünktliche Unterstützung gedankt, aber der Fall Kabuls hat vieles verändert. Er wird entscheidende Auswirkungen auf die Pakistan-Strategie des US-Imperialismus haben.
Der Brennpunkt der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit wird nunmehr auf Kabul und nicht auf Islamabad liegen. Islamabad muss den US-Imperialismus immer wieder an seine Versprechen erinnern. Die meisten dieser Versprechen werden vergessen werden. Der Fall von Kabul, und in kurzer Zeit ganz Afghanistans, wird die Psychologie des US-Imperialismus verändern.
Für uns in Pakistan kam der Fall von Kabul nicht überraschend. Der religiöse Fundamentalismus stand auf verlorenem Posten. Das pakistanische Regime hat sie im Stich gelassen, und mit religiösen Gefühlen allein kann man keinen Krieg führen. Wir haben immer wieder gesagt, dass die Taliban den Krieg in einer kurzen Frist verlieren würden. Die Taliban waren das meist gehasste Regime, das die afghanischen Massen je in ihrer Geschichte gesehen haben. Es wollte mit Gewalt eine mittelalterliche Politik durchsetzen. Aber sie hatten nie eine Massenbasis in Afghanistan. Die fundamentalistischen Kräfte waren eine winzige entschlossene Minderheit, die sich mit Hilfe der internationalen fundamentalistischen Kräfte halten konnten.
Der Fall von Kabul wird dem Land kein stabiles Regime bringen. Es wird die Situation weiter polarisieren, eine bürgerkriegsähnliche Situation wird bestehen bleiben. Jedoch werden nun die religiösen Trennlinien in den Hintergrund treten und die ethnischen Scheidelinien hervortreten. Afghanistan ist ein Dschungel verschiedener Nationalitäten mit ihrer eigenen Stammesidentität.
Dieser Wirrwarr kann auf kapitalistischer Grundlage nicht gelöst werden. Die nationalen Spaltungen können nur größer werden. Die USA werden auch nicht massiv Dollar ins Land pumpen, um es zu stabilisieren. Man wird ihnen einige Peanuts geben und sie dann unter sich lassen, damit sie weiter gegeneinander kämpfen können.
Nach fünf Jahren brutaler Herrschaft der Taliban hat die Geschichte einen weiteren Machtwechsel in Afghanistan gesehen, aber auch dieser wird nichts an der Armut der afghanischen Massen ändern.
Es könnte, sollte eine breite Regierung unter dem Einfluss des US-Imperialismus etabliert werden, eine kleine sog. liberale Zeit in Afghanistan geben. Die Nordallianz ist in einer sehr starken Position. Sie kann seine Bedingungen diktieren, aber nicht die verschiedenen kämpfenden Nationalitäten vereinen. Die Strategie des US-Imperialismus wird es sein, eine Koalitionsregierung zu schaffen, die loyal zum alternden Ex-König Zhair Shah steht. Aber diese Regierung könnte nur von kurzer Zeit, da sie nicht in der Lage sein wird, die Situation zu kontrollieren. Wir werden eine neue Phase des Bürgerkriegs sehen. Sieben Jahre lang hatte die pakistanische Regierung die Taliban unterstützt und aufgebaut, bevor sie nun plötzlich gezwungen war, sie gegen sie zu richten. Nun steht die pakistanische Regierung mit einem Mal ohne Verbündete in Afghanistan da. Sollte in Kabul eine Regierung gegen die Wünsche des pakistanischen Militärregimes installiert werden, könnte das eine neue Runde von Feindseligkeiten mit Pakistan einleiten. Ein Krieg zwischen den beiden Ländern könnte unter diesen Umständen nicht ausgeschlossen werden.
Die Labour Party Pakistan wird den winzigen Kräften der afghanischen Linken helfen, die sich derzeit bietende zeitlich begrenzte Chance zu nutzen, in Afghanistan Strukturen aufzubauen. Unsere Wochenzeitung Mazdoor Jeddojuhd plant den Druck einer monatlichen in Pushtu in enger Zusammenarbeit mit der Revolutionären Arbeiterorganisation Afghanistans.
International sollte die Linke weiter der Kriegsstrategie des US-Imperialismus und seinen Plänen, ein Marionettenregime zu installieren, entgegentreten. Der Krieg ist nicht vorbei; er ist nur in eine neue Phase eingetreten. Die Antiglobalisierungskampagne verbunden mit der Friedensbewegung muss weitergehen. Eine fundamentalistische Gruppe ist abgetreten, eine andere ist mit Hilfe der USA an die Macht gekommen. Wir haben keine andere Wahl, als gegen diesen Machtwechsel in Kabul zu opponieren, in der Hoffnung auf einen demokratisch-sozialistischen Wandel.

Farooq Tariq

Der Autor ist Generalsekretär der Labour Party Pakistan. Mehr Informationen im Internet unter www.labourpakistan.org.


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