Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 06.12.2001, Seite 2

Europäische Union

‘Freiheit des Unternehmertums‘

von GERHARD KLAS

Die meisten Europäer kennen die EU aus Hochglanzbroschüren, die von der Europäischen Kommission in millionenfacher Auflage in allen Mitgliedstaaten verbreitet werden. Sie sind die primäre Informationsquelle für zahlreiche Multiplikatoren: Politiker, Lehrer, Journalisten. Von einem Europa der "Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" ist dort die Rede. Doch einige EU-Bürger genießen besondere Freiheiten und Rechte. In den Werbeprospekten steht nicht geschrieben, dass an der Ausgestaltung der Europäischen Union bisher vor allem die großen Unternehmerverbände und multinationalen Konzerne auf Kosten der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen beteiligt waren.
Anstatt auf die intensive Lobbyarbeit von etlichen tausend Unternehmensvertretern in Brüssel und ihre engen Kontakten zur EU-Kommission hinzuweisen, präsentiert die EU lieber freundlich lächelnde Mitarbeiter, die anscheinend um nichts anderes als das Wohl ihrer Bürger bemüht sind. Vorläufiger Höhepunkt einer vorbildlichen Zusammenarbeit der maßgeblichen EU-Gremien mit den Wirtschaftsvertretern wird im Januar die Einführung der vielen bunten Euroscheine sein. Sie sollen nicht nur der besseren Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auf dem Weltmarkt dienen. Auch der durchschnittliche EU- Bürger darf sich laut Werbebroschüren zu diesem historischen Ereignis eines Vorteils erfreuen: künftig fällt das lästige Umrechnen von Währungen bei Urlaubsreisen weg. Ob allerdings mit der Einheitswährung auch die teuren Gebühren für Banküberweisungen ins EU-Ausland auf Inlandsniveau angeglichen werden, steht noch in den Sternen.
Insgesamt ist die EU von Maastricht, Amsterdam und Nizza sowohl in demokratischer als auch in sozialer Hinsicht ein Rückschritt gegenüber den nationalen Standards ihrer Mitglieder. Das wird sich auch in Brüssel und mit der geplanten europäischen Verfassung nicht ändern, deren Grundlage die im Dezember 2000 verabschiedete Grundrechtecharta sein soll.
Dort ist z.B. die Rede von der "Freiheit des Unternehmertums". Ein Passus, der großzügige Interpretationsspielräume für die Rechtsabteilungen der Konzerne offen lässt. Eine "Sozialpflicht des Eigentums", wie sie etwa das Grundgesetz der BRD vorsieht, ist dort mit keinem Wort erwähnt. Im Gegenteil: gegenüber den Unternehmerfreiheiten gibt es keine Garantie sozialer Rechte. Die offizielle Begründung lautete damals, man könne keine "Versprechungen machen, die in der Zukunft nicht eingehalten werden können".
Ein Recht auf existenzsicherndes Mindesteinkommen, wie es die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung auch in diesem Jahr wieder auf der Versammlung der Erwerbslosen und auf den Straßen in Brüssel fordern werden, findet sich ebenfalls nicht in den Grundrechten. Stattdessen ist die Rede von "sozialer Unterstützung", die nach "Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" erfolgen soll. Ein Hinweis, dem eine gehörige Portion Zynismus zu eigen ist. Denn gerade die Reste einzelstaatlicher Sozialnetze werden im Rahmen der "wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitlinien" der EU in allen Mitgliedstaaten zurechtgestutzt. Dazu gehören die Angriffe auf die Altersversorgung und den Kündigungsschutz ebenso wie die sukzessive Abschaffung der Arbeitslosenunterstützung.
Demgegenüber ist die in Nizza "gebilligte" Europäische Sozialagenda nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben steht. Unter belgischem Vorsitz verabschiedete die informelle Ratstagung zur "Beschäftigung und Sozialpolitik" bereits im Juli, das die "Definition" von Armut zu verändern sei. Menschen, die unterhalb von 60% eines durchschnittlichen Einkommens in einem EU-Mitgliedsland leben müssen, sollen nicht länger als "arm" bezeichnet werden, denn dies seien "irreführende Signale". Diese Menschen seien allenfalls "von der Armut bedroht". Ohnehin, so die Ratstagung weiter, sei der "Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung zunächst und vor allem Sache der Mitgliedstaaten".
Die Europäische Sozialagenda war ein Zugeständnis an die Proteste gegen den EU-Regierungsgipfel in Nizza, an denen sich dank einer starken Mobilisierung der französischen Gewerkschaften mehr als 100000 Menschen beteiligten. Auch nach der ersten Großdemonstration gegen die EU 1997, an der zahlreiche Erwerbslosenverbände teilnahmen, war in den Verträgen von Amsterdam die Rede vom "Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus" — allerdings bindend im Einklang mit den wirtschaftspolitischen Leitlinien. Dort stand damals geschrieben, dass die "Lohnkosten für wenig qualifizierte Tätigkeiten um 20—30%" gesenkt werden und mit einer "entsprechenden Kürzung der Lohnersatz- und Sozialleistungen" einhergehen sollten.
In Brüssel werden in der zweiten Dezemberwoche wieder mehr als 100000 Menschen demonstrieren. Diesmal unter dem Vorzeichen einer neuen und weltweiten Militarisierung. Für die Aufrüstung Europas werden erstmals die Stabilitätskriterien zur Währungsunion angekratzt. Mit einer Erhöhung der indirekten Steuern soll die Bevölkerung der EU für Rüstungsprogramme aufkommen, die nebenbei die Wirtschaft ankurbeln sollen. Aber auch nach innen wird den Gegnern und Kritikern der EU-Politik ein schärferer Wind entgegen wehen.
Der Kampf um ein anderes Europa, eine andere Welt, wird morgen und übermorgen noch nicht entschieden sein. Deshalb organisieren Aktivisten der verschiedenen sozialen Bewegungen wieder sogenannte Märsche. Auf ihren Etappen zwischen Brüssel und Sevilla, wo im Juni der Abschlussgipfel der spanischen Ratspräsidentschaft stattfindet, werden sie die Stimmen derjenigen repräsentieren, die mit ihren Kämpfen für verbindliche soziale Rechte ein menschenwürdiges Leben für alle anstreben.

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