Sozialistische Zeitung |
Trotz verbaler Zugeständnisse an die Globalisierung orientiert die politische Praxis vieler linker Parteien und Organisationen in Europa nach wie vor auf nationales Terrain. Ist die
Organisierung auf europäischer Ebene notwendig?
Alain Krivine: Die ökonomischen Rahmenbedingungen, ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme werden zunehmend auf EU-Ebene koordiniert.
Alle Staaten in Europa sind mit einer großen Offensive der Bourgeoisie und der Wirtschaftsbosse konfrontiert. Fusionen von Konzernen in Europa führen zu Massenentlassungen.
Nach dem 11.September hat sich dieser Trend noch verschärft. Die Bourgeoisie versucht auch in Europa, aus der
Situation politische und ökonomische Vorteile zu ziehen. Dazu gehören militärische Aufrüstung, immer dreistere Fusionspläne, Massenentlassungen z.B. im
Luftverkehr und die weitere Einschränkung von demokratischen Freiheitsrechten. Die neuen Gesetze gegen den Terrorismus werden es den Regierungen in Europa erlauben, die in den
letzten Jahren erstarkten sozialen Bewegungen notfalls zu kriminalisieren. Dies sind einige der aktuellen Gründe, sich europaweit zu organisieren.
Warum wurde mit der EAL ein weiterer Zusammenschluss neben dem der Kommunistischen und exstalinistischen Parteien sowie der Fraktion der Vereinigten Linken im
Europaparlament ins Leben gerufen?
Alain Krivine: Unter dem Druck der Offensive bewegen sich die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung immer weiter nach rechts. Natürlich gibt es von
Land zu Land einige Unterschiede und teilweise neue Antworten auf den Klassenkampf von oben. Doch der Trend auf europäischer Ebene ist eindeutig: es findet eine Liberalisierung der
Sozialdemokratie und eine Sozialdemokratisierung der KPs statt. Auch die Grünen, die zwar niemals Teil der Arbeiterbewegung waren, aber immerhin einmal für eine
gesellschaftliche Alternative eintraten, verlieren auf ihrem Weg zur Regierungsinstitution überall ihr ursprüngliches Profil.
Während sich alle drei Strömungen Sozialdemokratie, KPs und die Grünen angesichts der
Offensive kontinuierlich nach rechts bewegen, deutet sich aber auch eine Antwort an. Sie wird von einer neuen Generation der Arbeiterklasse formuliert, die nicht in allen Ländern Europas
die gleiche Kraft und Ausstrahlung hat. Jugendliche interessieren sich zunehmend wieder für Politik, sie werden aktiv in Schulen, Universitäten und im Arbeitermilieu.
Vor allem die wachsende Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung hat in diesem Jahr mit ihren Demonstrationen in
Göteborg und Genua große Erfolge erzielt und an Anziehungskraft in Europa gewonnen. Zwischen diesen ersten Schritten einer sozialen Radikalisierung und der Rechtsentwicklung
der traditionellen Kräfte öffnet sich eine tiefe Kluft und damit auch ein politischer Raum für eine neue, radikale Linke, für die Antikapitalismus ebenso wichtig ist wie
Ökologie und Internationalismus.
Die (ehemaligen) KPs sind nicht in der Lage, bei dieser Radikalisierung eine nennenswerte Rolle zu spielen. In vielen
Ländern existieren sie als solche überhaupt nicht mehr, in anderen sind sie einer schlechten Tradition verhaftet und bereit z.B. in Spanien oder Frankreich ihre
politischen Inhalte zugunsten einer Regierungsbeteiligung aufzugeben.
Es gibt eine große Ausnahme bei den Parteien aus diesem Spektrum: die italienische Partei der kommunistischen Neugründung (PRC Rifondazione
Comunista). Welche Rolle spielt sie für die EAL?
Alain Krivine: Seit einiger Zeit, nach vielen parteiinternen Debatten, gibt es bei Rifondazione eine Wende nach Links. Der kommende Parteikongresses steht ganz unter dem
Vorzeichen eines radikalen Antikapitalismus und Internationalismus. Während ihrer Zeit im Olivenbaum, dem früher regierenden italienischen Mitte-Links-Bündnis, war das
noch unvorstellbar. Nach Paris, auf die zweite Konferenz der EAL im Dezember 2000, war die PRC trotz Einladung noch nicht gekommen. Nun haben sie zugesagt, eine Delegation nach
Brüssel zu schicken. Das bedeutet nicht, dass sie ihre Kontakte mit den anderen KPs abbrechen, aber bei uns wollen sie einsteigen und gemeinsam koordinierte Aktionen
durchführen.
Aus Deutschland ist keine Partei oder Organisation beteiligt. Warum?
Alain Krivine: Von Anfang an hatten wir beschlossen, nur radikale Organisationen der neuen Linken mit einer gesellschaftlichen Relevanz einzuladen. Sie sollten auf unser Ziel
einer Neugruppierung der radikalen, revolutionären Linken in ihren Ländern und in Europa hinarbeiten. Es geht also um ein Minimum an Repräsentanz und die Bereitschaft,
sich mit Strömungen anderer politischer Herkunft einzulassen. Leider gibt es im Moment keine radikale Organisation in Deutschland, die beide Kriterien erfüllen würde.
Eine weitere Bedingung: die Organisationen oder Parteien müssen ganz unmissverständlich für eine
antikapitalistische Alternative eintreten und jede Beteiligung an sozialliberaler Politik ablehnen. Die deutsche PDS verfügt zwar über eine gesellschaftliche Relevanz, aber entspricht
nicht diesem zweiten Kriterium. Gemeinsame politische Kampagnen mit einer "PDS in Aktion" würden wir jedoch nicht zurückweisen.
Ist die Regierungsbeteiligung auf nationaler und Länderebene ebenfalls ein Kriterium für die Teilnahme an der Konferenz der Europäischen Antikapitalistischen
Linken?
Alain Krivine: Bisher betreiben alle sogenannten Links- und Mitte-Links-Regierungen in Europa sozialliberale Politik. Dennoch ist für uns die Regierungsbeteiligung
keine Prinzipienfrage. Es geht auch nicht um absolute Mehrheiten, sondern um Koalitionsprogramme. Diese müssen nicht unbedingt "revolutionär" sein, sondern sollten
konkrete Pläne für z.B. soziale Verbesserungen und klare antikapitalistische Maßnahmen enthalten.
Allerdings sollte die Position auch stark genug sein, diese Pläne durchsetzen zu können. Und das heißt
Kampfbereitschaft, denn eine solche Koalition müsste erheblichen Druck aushalten und könnte ohne außerparlamentarische Verankerung nicht überleben. Aber heute,
unter diesen Bedingungen, wie sie z.B. in Frankreich, Belgien und Deutschland vorzufinden sind, kann es für uns keine Regierungsbeteiligung geben. Das ist ebenfalls eine Voraussetzung
zur Teilnahme an unseren Treffen. Auf diesem Hintergrund ist auch der Neueinstieg der PRC kein Zufall, sondern ein konsequenter Schritt: sie haben die Beteiligung an einem Mitte-Links-
Regierungsbündnis in Italien abgelehnt.
Welche Alternative zur bestehenden Europäischen Union strebt die EAL an?
Alain Krivine: Wir können von einem antikapitalistischen und sozialistischen Europa träumen, aber wir müssen auch konkret werden. Innerhalb der
radikalen Linken in Europa gibt es zur EU kontroverse Positionen. Die LCR ist nicht gegen Europa als solches, denn wir sind Internationalisten. Wir kritisieren die EU nicht aus einem
engstirnigen, nationalistischen Interesse heraus. Eigentlich kann man sogar sagen, dass wir "für" Europa sind und eben deswegen gegen eine EU der Maastrichter
Verträge, von denen lediglich das Kapital profitiert.
Wir stehen nun am Anfang, einen Gegenpol zu schaffen, ein Europa der sozialen Kämpfe und der Solidarität. Als
ersten Schritt brauchen wir vier, fünf gemeinsame Forderungen aus dem sozialen, feministischen, internationalistischen und antirassistischen Bereich, die eine verbindende Dynamik
entfalten können. Ein positives Beispiel sind z.B. die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung. Sie zeigen
ganz deutlich die Möglichkeit eines anderen Europa auf, das von oppositionellen Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aufgebaut werden könnte.
Uns geht es heute vor allem darum, in der Praxis eine Alternative zu entwickeln. Wir müssen als Voraussetzung für
jede weitgehende Alternative zunächst die verschiedenen oppositionellen Kräfte in Europa sammeln. Erst dann gibt es eine Grundlage für den Aufbau einer
tatsächlichen Gegenmacht. Heute ist die politische Situation noch bestimmt von reaktiven Verhaltensmustern der sozialen Bewegungen auf die Vorstöße der Regierungen.
Wir sollten Instrumente entwickeln, die der Bevölkerung in Europa direkte Möglichkeiten der Einflussnahme eröffnen anders als im undemokratischen Maastricht-
Europa.
Ist die Konferenz der Europäischen Antikapitalistischen Linken ein Ausgangspunkt für diese Alternative?
Alain Krivine: Auch wenn ich das stark hoffe, sollten wir nichts übereilen. Die Teilnehmer der Konferenz kommen aus sehr unterschiedlichen Traditionen, aus
trotzkistischen Organisationen, KPs und ökologischen Initiativen. Auch innerhalb der Parteien, die sie auf der Konferenz repräsentieren, müssen sie sich mit den
verschiedensten politischen Ansätzen auseinandersetzen. Trotz dieser nicht eben einfachen Aufgabe können sich die bisherigen Resultate sehen lassen.
Besonders interessant sind die Erfahrungen der Scottish Socialist Party, des Linken Blocks aus Portugal und der Rot-
Grünen Einheitsliste aus Dänemark. Diese Parteien sind längst mehr als die Addition verschiedener politischer Strömungen. Die Mehrheit der Mitglieder z.B. der
Einheitsliste sind Neuzugänge, die vorher mit keiner der politischen Strömungen in Verbindung standen. Das ist ein beachtlicher Erfolg, der sich bei Wahlen auch parlamentarisch
niederschlägt. Diese Neuformierungen der radikalen Linken finden in den einzelnen Ländern jeweils unter einem gemeinsamen Dach und mit einheitlichem Namen statt. In
Frankreich ist das bisher leider nicht der Fall.
Welche konkreten Aufgaben stellt sich die Konferenz?
Alain Krivine: Wir wollen eine umfassende Erklärung abgeben und uns inhaltlich auf den Abbau der Freiheitsrechte und die verschärfte Situation für
Migranten nach dem 11.September in Europa konzentrieren. Außerdem wollen wir unsere Teilnahme am kommenden Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre koordinieren,
einem internationalen Treffen im Februar, an dem voraussichtlich mehr als zehntausend Delegierte aus Parteien, Gewerkschaften, Bauernorganisationen und sozialen Bewegungen aus der ganzen
Welt teilnehmen werden. Brüssel wird ein wichtiger Schritt sein, es werden zahlreiche neue Organisationen zum Kongress kommen. Doch das wird keine leichte Aufgabe: wenn schon die
Neuformierung auf nationaler Ebene nicht gerade einfach ist, um so komplizierter ist sie auf europäischer Ebene.
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