Sozialistische Zeitung |
Wenn sich am 14. und 15.Dezember die Ratsherren der EU im Schloss Laeken bei Brüssel versammeln, werden nur neue, spektakuläre
Entscheidungen wie die über die Erstellung einer europäischen Verfassung, oder die europäische Antiterrorismuskonvention Eingang in die Medienberichterstattung finden,
oder auch die Fortsetzung des Gerangels um eine Neuabgrenzung der Kompetenzen im Zusammenhang mit der Osterweiterung, die den reichen Mitgliedstaaten den Fortbestand ihrer Dominanz
in der EU sichert.
Anderes, was bereits Routine ist, findet nicht einmal Erwähnung: so das alljährliche Abnicken der
Beschäftigungspolitischen Leitlinien, die faktisch den Rahmen für die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Einzelstaaten liefern. Im Zusammenhang mit der neuen Rezession und
den Massenentlassungen, die Banken, Fluggesellschaften und andere Großunternehmen vornehmen, verdienen sie dennoch unsere Aufmerksamkeit. Man könnte ja meinen, die neue
Entlassungswelle, die die Arbeitslosenzahlen ein weiteres Mal in die Höhe treiben wird, müsste die Ratsherren dazu bewegen, sich den Bankrott ihrer bisherigen Wirtschafts- und
Beschäftigungspolitik einzugestehen.
"Vollbeschäftigung" lautete vollmundig das Ziel der EU auf dem Gipfel in Lissabon im Juni 2000. Gemeint
war damit das Herausdrängen von Jugendlichen und Langzeiterwerbslosen aus dem Bezug von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hinein in einen "ersten Arbeitsmarkt",
der keine existenzsichernden Jobs mehr bietet. Maßstab dieser Vollbeschäftigungspolitik sollte der Anteil der Erwerbstätigen an den Erwerbsfähigen sein. Seit
Lissabon strebt die EU eine Quote von 70% an (jetzt: 63%). Der neue Vollbeschäftigungsbegriff kaschiert, dass es nicht mehr darum geht, jedem einen Arbeitsplatz zu vermitteln, sondern
dass die Lohnabhängigen sich in die Arbeitsplätze teilen sollen, die nicht da sind.
Auf diese Weise sollte Erwerbslosigkeit rein statistisch abgebaut werden, ohne neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die neue
Wirtschaftskrise macht einen Strich durch diese Rechnung: trotz einer rabiaten Herausdrängung aus dem Leistungsbezug und Abdrängung in frühkapitalistische
Beschäftigungsverhältnisse wird die Erwerbslosigkeit sprunghaft ansteigen. Die Seifenblase neosozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik, ein Kernstück des Projekts
"Neue Mitte", zerplatzt.
Doch die Ratsherren sind sich einig: einen Grund zur politischen Umkehr gebe es nicht. Im Gegenteil, mehr denn je wird die
Beschäftigungspolitik diktiert von der Wirtschaftspolitik es ist ratsam, sich diesen Mechanismus auf EU-Ebene genauer anzusehen.
Als im Juni 1997 die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit und Ausgrenzung durch Sternmärsche und eine Großdemonstration in Amsterdam die
Massenarbeitslosigkeit und Armut in Europa zu einem öffentlichen Skandalthema machten, und als die frischgebackene französische Linksregierung sich daraufhin gezwungen sah,
ein Beschäftigungskapital im Amsterdamer Vertrag durchzusetzen, das wenige Monate später durch einen Beschäftigungsgipfel in Luxemburg konkretisiert wurde, konnten
sich die EU-Regierungen eine Weile damit brüsten, sie hätten die Proteste ernstgenommen und darauf reagiert. Die Märsche aber beachteten nicht die wohlfeilen Reden,
sondern studierten den Vertragstext von Amsterdam. Und entdeckten darin folgende Passage:
"Die Mitgliedstaaten tragen durch ihre Beschäftigungspolitik dazu bei, die angestrebten Ziele zu verwirklichen …
in einer Weise, die mit den großen wirtschaftspolitischen Orientierungen der Mitgliedstaaten und der Union kompatibel ist…" (Kap. VIII des Amsterdamer Vertrags).
Die wirtschaftspolitischen Orientierungen aber werden vom Rat der Wirtschafts- und Finanzministern (Ecofin) der EU
festgelegt. Sie dienen dazu, "weitreichende Reformen zu lancieren mit dem Ziel, die Ausgaben umzuschichten, den Steuerdruck zu mindern und gleichzeitig die Haushalt zu
sanieren" (vgl. die Webseite der belgischen Ratspräsidentschaft: www.eu2001.be). Die Beschäftigungspolitik ist ihnen untergeordnet.
Die Arbeits- und Sozialminister unterliegen den Zwängen, die die Wirtschafts- und Finanzminister formulieren. Ihr
eigener Handlungsspielraum reduziert sich immer mehr auf die Art und Weise, wie sie den Auftrag des Ecofin, das Recht auf Stütze im Fall von Erwerbslosigkeit und Armut in eine neuen
Form des Arbeitsdienstes zu verwandeln, umsetzen. Die Großen Wirtschaftpolitischen Orientierungen (GOPE) werden alljährlich von den Ratsherren im Juni verabschiedet; die
Beschäftigungspolitischen Leitlinien im Dezember. Liest man beide nebeneinander, stellt man fest, dass die Kernsätze der Beschäftigungspolitischen Leitlinien bereits in den
GOPE vorgeschrieben sind; der Rest darum herum ist Prosa.
Die Wirtschaftspolitischen Orientierungen enthalten seit 1998 das Programm und die Kernargumentation für die EU-weite
Zerschlagung des Systems der Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und Armut und für die Einführung eines Niedriglohnsektors; sie haben seitdem zu gleichgerichteten
Beschäftigungspolitiken in Frankreich, Belgien, Großbritannien und Deutschland (Reform des SGB III) geführt bzw. führen dahin. Ihr Kernsatz lautet:
"Um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen eine Lohnspreizung nach unten müssen die
Lohnkosten für die gering qualifizierten Tätigkeiten um 2030% gesenkt werden, wie dies in den USA in den 70er und 80er Jahren erfolgte. Damit eine solche
Maßnahme in Europa greift, müssen in ähnlichem Umfang die Arbeitslosenunterstützung und die Leistungen aus der Sozialhilfe reduziert werden, um die
,Armutsfalle zu vermeiden…
Eine solche Senkung der Lohnkosten wäre in der EU schwer durchzusetzen, es ist aber möglich, auf dem Weg von
Tarifverhandlungen dahin zu gelangen, insbesondere durch die Aufnahme von Einstiegslöhnen für Langzeitarbeitslose."
Die wahre Verantwortung für den Abbau des Sozialstaates liegt damit beim Ecofin. Richtigerweise müssten sich
die Erwerbslosen mit ihren Protesten gegen die Wirtschafts- und Finanzminister wenden, nicht gegen die Arbeitsminister. In Deutschland sollten sie vor dem Ministerium Eichel, nicht vor dem
Ministerium Riester demonstrieren.
Seit dem Gipfel von Göteborg arbeitet der Ecofin auch an der Definition eines fünften Kriteriums des
Stabilitätspakts: ausgeglichene Einzelhaushalte für die Renten- und die Krankenkassen. Das bedeutet, dass die Privatisierung in diesem Bereich ebenfalls europaweit koordiniert
werden wird.
Der Ecofin ist der wirkliche Architekt der Europäischen Union. Seit über 40 Jahren bastelt er europäische Gesetze (Verordnungen und Direktiven), deren oberstes
Ziel der Erhalt und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts, die
Einführung des Euro und die systematische Zerstörung der bestehenden sozialen Sicherungssysteme aus den Zeiten des Sozialstaatsgebots sind. In ihrer Euphorie über die
Einführung einer gemeinsamen Währung (1990) ließen sich die Wirtschafts- und Finanzminister dazu hinreißen, die Oberhoheit über die Währung an die
Europäische Zentralbank abzutreten. Das war mit einem Machtverlust verbunden, den sie mit der Schaffung der "Eurogruppe" zu kompensieren versuchten. Die Eurogruppe
ist eine informelle Struktur der Wirtschafts- und Finanzminister der Eurozone.
Der Ecofin gibt die Großen Wirtschaftspolitischen Orientierungen seit 1997 heraus. Sie beeinflussen (wie die
Beschäftigungspolitischen Leitlinien auch) die nationalen Entscheidungen über ein bürokratisches System von "Empfehlungen" an die Einzelstaaten, die
anschließend einen Bericht über deren Umsetzung abliefern müssen. Verfehlen sie ihr Ziel, werden sie (auch öffentlich) gerügt. Die Mitgliedstaaten haben ein
System der multilateralen Kontrolle akzeptiert, das die Staaten zwingt, anderen Staaten Rechenschaft abzulegen. Das Urteil der "Gleichen" kann sehr hart sein. So wurde Irland
öffentlich der schlechten Wirtschaftspolitik bezichtigt, weil es die GOPE von 1999 und 2000 nicht umgesetzt, sich vor allem der Aufforderung zur Lohnmäßigung widersetzt
und die Mindestsozialleistungen angehoben hatte.
Das System von Empfehlungen und Rechenschaftslegung wurde seit Amsterdam in verschiedene "Prozesse"
gegossen:
den Prozess von Luxemburg (1997) mit der Erstellung der Beschäftigungspolitischen Leitlinien. Diese werden
von der EU-Kommission vorbereitet; sie müssen "den wirtschaftpolitischen Orientierungen Rechnung tragen". Danach sind die Regierungen gehalten, jährlich einen
Nationalen Aktionsplan Beschäftigung (PAN Empl.) zu erstellen, in dem sie die wichtigsten Maßnahmen zur Umsetzung der EU-Vorgaben auflisten. Kommission und Rat
prüfen die Aktionspläne und leiten daraus Empfehlungen für die Mitgliedstaaten ab; die Kommission erstellt den Bericht und daraus folgend die neuen Leitlinien; der Rat
nickt sie ab;
den Prozess von Cardiff (1998) zur Beschleunigung der Steuerreformen sowie der Liberalisierung der öffentlichen
Dienste und der Kapitalmärkte;
den Prozess von Köln (1999) mit der Erstellung der Charta der Grundrechte, die an die Stelle der
Europäischen Sozialcharta tritt;
den Prozess von Lissabon (2000) zur Neudefinition der Armutsgrenze.
Die Ratsherren streben an, diesen Gesamtkomplex in Laeken 2001 zu erweitern und zu einer Routine zu machen.
Das Regelwerk der EU-Gesetze erleichtern dem Ecofin seine Handlungsweise als supranationale Einrichtung, die niemandem
außer den Ratsherren verantwortlich ist:
Europäisches Recht bricht nationales Recht. Seit über 40 Jahren sind die Mitgliedstaaten
übereingekommen, alles was sie auf europäischer Ebene entscheiden, in nationale Gesetze umzusetzen. 80% der Gesetze, die in eine Parlamenten der Mitgliedstaaten abgestimmt
werden, sind solche Umsetzungen europäischer Beschlüsse;
die Verordnungen und Direktiven betreffend den Binnenmarkt und den Euro wurden im Geheimen und unter starkem
Einfluss der Marktoperateure vorbereitet; der Beschluss wurde mit qualifizierter Mehrheit gefällt;
die europäischen Sozialverordnungen haben haushaltspolitisch keine Relevanz. Außerdem unterliegen alle
sozialpolitischen Entscheidungen (im Gegensatz zu den wirtschaftpolitischen) dem Prinzip der Einstimmigkeit. Ein einzelner Staat kann mit seinem Vetorecht alles blockieren.
Der Ratsgipfel von Lissabon erklärte im März 2000: "Es ist inakzeptabel, dass in der EU so viele Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben." Auch das
schien Hoffnung auf eine ernsthafte Politik der Armutsbekämpfung zu machen. Doch eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten ist mit der Logik der Großen
Wirtschaftspolitischen Orientierungen und des Stabilitätspaktes unvereinbar. Deshalb muss auch das Wörtchen "Armutsbekämpfung" anders als gewohnt gelesen
werden.
Nicht um die Behebung von Armut geht es, sondern um die Schönung der Statistik: es gibt umso weniger Arme, je tiefer
die Armutsgrenze angesetzt wird. Und wenn dies alles im Konsens mit den Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und anderen Nicht-Regierungsorganisationen passiert, kann sogar der
Schein gewahrt werden, es werde tatsächlich Armut bekämpft. Dafür sind neue Mechanismen der Einbeziehung der sog. Zivilgesellschaft erforderlich ein
Instrumentarium, das erstmals bei der Erstellung der Grundrechtecharta erfolgreich erprobt wurde.
Der Rat hat in Lissabon erstmals "Leitlinien für die soziale Eingliederung" erstellt, die nach derselben
Methode funktionieren, wie die anderen Leitlinien auch und Teil des Räderwerks der GOPE sind: Es werden strukturelle Indikatoren für den Kampf gegen die soziale Ausgrenzung
definiert, danach Empfehlungen an die Mitgliedstaaten, denen folgen Berichte der Staaten über die Umsetzung der Empfehlungen (Nationale Aktionspläne für die soziale
Eingrenzung, PAN Incl.), deren Bewertung und neue Empfehlungen, die sich daraus ergeben.
Der Gipfel in Laeken wird neue Indikatoren für die Definition der Armutsgrenze festlegen. Der Rat der Arbeits- und
Sozialminister bereitet am 3.Dezember den entsprechenden Bericht an den Rat vor.
Bisher definierte die EU die Armutsgrenze als Einkommen unterhalb von 50% des Durchschnittseinkommens bzw. 60% des
mittleren Einkommens jedes Landes. Die Bindung an das Durchschnittseinkommen soll nun gelockert und statt dessen eine Reihe anderer, "weicher" Maßstäbe
eingeführt werden: die Möglichkeiten zur Beteiligung an der Erwerbsgesellschaft, Zugang zu Dienstleistungen und neuen Technologien, Möglichkeiten des Rückgriffs
auf familiäre Unterstützung, die Aktivierung der Armen, die Einspannung der Wohlfahrtsverbände u.a. in den Prozess der Armutsbekämpfung, etc. Letzten Endes wird
die Untergrenze von der Grundrechtecharta gebildet, die ein Recht auf soziale Leistungen ausschließt. Die Europäische Sozialcharta ist offiziell kein Bezugspunkt mehr.
Die wesentlichen Entscheidungen, die das Alltagsleben und die soziale Sicherheit der BewohnerInnen der EU bestimmen,
werden seit langem hinter verschlossenen Türen gefällt, die Rolle der nationalen Parlamente dabei ausgehebelt, das Europaparlament hat eh in diesen Fragen kaum mitzureden. Je
unsozialer die Entscheidungen ausfallen, desto deutlicher tritt der zutiefst undemokratische Charakter der EU hervor: Geheimdiplomatie, wachsende Ungleichheit zwischen Ländern und
Regionen, die Abgehobenheit der Brüsseler Technokratenelite, ihre Ergebenheit gegenüber dem Runden Tisch der Europäischen Industriellen und dem Europäischen
Unternehmerverband UNICE, der Zwang zum Konsens. All diese Missstände werden in konzentrierter Form auf den Tisch kommen müssen, wenn dieser Zustand noch durch eine
europäische Verfassung abgesegnet werden soll.
Marie-Paule Connan/Angela Klein
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
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