Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 06.12.2001, Seite 8

Zur Ideologie und Geschichte islamistischer Bewegungen im arabischen und mittelasiatischen Raum

Von den Moslembrüdern zu den Taliban

Der Terroranschlag vom 11.September hat weltweit eine Debatte über die Lage der islamischen Welt und die Politik des "Islamismus" (Integrismus, islamischer Fundamentalismus etc.) ausgelöst, die immer dann aufkommt, wenn wichtige Ereignisse nicht in die üblichen "modernen" Schablonen der Verstehbarkeit passen. Dabei wird gerne übersehen, dass die sozialen und ideologischen Bewegungen im "Haus des Islam" seit über hundert Jahren in engem Zusammenhang mit den Entwicklungen in Europa und der westlichen Welt stehen und in erheblichen Maße — wenn auch unter Benutzung der eigenen kulturellen Codes — auf diese reagieren. Dies gilt insbesondere unter den Bedingungen einer forcierten kapitalistischen Modernisierung, wie sie durch die Globalisierung erzwungen wird. Überall in der Dritten Welt gibt es riesige Befürchtungen, auf Dauer "abgehängt" zu werden.
Seit der Eröffnung des Suez-Kanals 1869 begann unter den europäischen Mächten, vor allem Großbritannien und Frankreich, ein Kampf um die Aufteilung der arabischen Welt. England machte ab 1882 Ägypten und den Sudan zu Kolonien, Frankreich eroberte sich nach und nach den ganzen Maghreb; das Deutsche Reich verbündete sich gegen die Westmächte mit der "Hohen Pforte" in Istanbul. Man wollte die Hand auf den Weg nach Indien halten. Der Sultan war gleichzeitig der Träger des Kalifenamts, das die spirituelle Einheit der muslimischen Welt verkörperte; seit dem russisch-türkischen Krieg von 1768—1774 war der Sultan im Friedensschluss von Küçük Kainarca als "souveräner Kalif der muhammadanischen Religion" (und damit auch der im Russischen Reich lebenden Muslime) international anerkannt worden.
Doch die europäische Eroberung der arabischen Staaten war auch (wie in anderen Gegenden der Welt) mit einer Ausbreitung sozialdarwinistischer und rassistischer Stereotypen, Denk- und Verhaltensweisen verbunden. Sie schrieb der französische Graf Henri de Chambord schon 1861: "All diese orientalischen Völker nehmen nur den Schein der Zivilisation an; im ersten besten Augenblick findet sich der Barbar wieder."
Die Herabwürdigung der arabischen Welt zum Objekt europäischer kolonialer Ausbeutung und die Behauptung, der Fortschritt sei alleine Sache Europas, führten unter bestimmten muslimischen Intellektuellen, die damals schon mit der Behauptung der "Modernisierungsfeindlichkeit des Islam" konfrontiert waren, zu einer Infragestellung der eigenen Lebenpraxis. Ein Teil von ihnen begann die Vorstellung zu entwickeln, das Verderbnis sei deswegen über ihre Welt gekommen, weil man vom wahren Islam abgefallen sei, weil man zahllosen Spielarten des Mystischen, Magischen und Kultischen anhinge. Daher gelte es, wieder an den "klassischen Islam" der Zeit des Propheten anzuknüpfen und die gegenwärtige Kultur zu "reinigen". Man unternahm den Versuch einer Art Aussöhnung der Moderne mit der Theologie, um der islamischen Welt einen besonderen Zugang zur Moderne zu verschaffen.
Gleichzeitig suchte man (ähnlich der europäischen Klassik) wegen der Beschleunigung der Geschichte nach einem überzeitlichen Ideal; und so wie die Europäer dieses in der klassischen Antike (Goethe und Schiller bei den Griechen) fanden, so gingen die Muslime auf die Epoche Mohammeds zurück. Diese intellektuelle Bewegung wird salafiya (Klassik) genannt; sie steht durchaus im Zusammenhang mit vergleichbaren Strömungen des fin de siècle (Nietzsche), dessen historischen Pessimismus sie teilt. Denn die vorherrschende Lebensweise wurde hier wie dort als dekadent beschrieben und verworfen. Die meisten Kritiker der vorherrschenden Lebenspraxis blieben gleich den meisten europäischen Konservativen recht skeptisch, ob eine "wirkliche Umkehr" gelingen könne und wie eine solche ggf. zu bewerkstelligen sei.
In den ersten beiden Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts entstanden dann im Osmanischen Reich und im arabischen Raum die wichtigsten politischen und ideologischen Strömungen, die — bei allen Umbrüchen — bis heute fortwirken. Schon sehr früh entwickelten sich die verschiedenen Spielarten des Liberalismus, deren Hauptforderungen auf die Errichtung einer konstitutionellen Ordnung (Parlament oder Versammlung) und der Herstellung eines nationalen Marktes (den die Kolonialmächte verhinderten) hinausliefen. Sie paktierten in vielen Fällen mit den Vertretungen der jeweiligen Kolonialmacht.
Die zweite Strömung waren die städtischen Republikaner oder Nationalisten, die in der Nachfolge der französischen positivistischen Soziologen Comte und Durkheim in der Ethnie, Sprache und Geschichte einen "objektiven Tatbestand" sahen, dem sich letztlich kein Mitglied der Gesellschaft entziehen könne. Ob der Islam ein solcher Tatbestand sei, war umstritten, jedoch galt er nicht als ausreichend, um eine einheitliche Nation zu schaffen. Daher mussten in starkem Maße auch vorislamische Gesichtspunkte (Reich der Pharaonen, Pfauenthron, Reiche im Zweistromland) zur Identitäts- und Nationenbildung herangezogen werden.
Die dritte Strömung bildeten jene, für die die (westliche) politische Theorie noch keinen endgültigen Namen gefunden hat, die aber mittlerweile gemeinhin als "Islamisten" bezeichnet werden. Für sie war, sofern sie die "Modernisierung" der Religion zu einer politischen Ideologie vollzogen, der Islam ein Merkmal einer revolutionären Identität, die zur Machtergreifung durch das Volk führen konnte. Der Islam sei der einzig wahre politische Ausdruck des Volkes gegenüber dem Herrscher. Diese Vorstellung brachte sie in einen Gegensatz zum traditionellen Gelehrtentum, das sich als der Wahrer der islamischen Wissenskultur verstand. In einem Akt der Empörung — meinten sie —, könnten Volk und Staat zusammenkommen und auf den ethischen Prinzipien des Islam eine Art "gläubige Gemeinschaft" verwirklichen. Wenn der Mensch sich seiner islamischen Natur bewusst würde, gewänne er die Möglichkeit zur Freiheit und könnte die alte unterdrückerische Ordnung abschütteln.
Die Anhänger dieser ideologischen Strömung kamen außer aus den traditionellen kleinbürgerlichen Gruppen der Handwerkern und Kaufleute vor allem aus den Deklassierten in den Städten; sie alle litten unter der kolonialen Ordnung und ihren Fragmentierungsprozessen. Ideologisch bestehen einige Ähnlichkeiten mit der "Konservativen Revolution".
Es ist also völliger Unsinn, von "Mittelalter" oder "mittelalterlichem Denken" zu reden, wie dies aktuell bei Journalisten in Mode gekommen ist. Die Verhältnisse in Arabien oder Afghanistan mögen archaisch sein, doch die jeweiligen politischen Diskurse gehören zur Moderne.
Der Erste Weltkrieg brachte eine tiefe Erschütterung auch der muslimischen Welt. Er führte zur Zerschlagung der wichtigsten Macht im Haus des Islam, des Osmanischen Reiches, das auf der Seite der "Mittelmächte" gestanden hatte; Palästina und das Zweistromland wurden zwischen den Siegermächten Frankreich und Großbritannien aufgeteilt. Doch der Kampf des türkischen Nationalisten Kemal Pascha (Atatürk) gegen die Besetzung Anatoliens erbrachte schließlich die Gründung der modernen Türkei, wobei besonders nationale Minderheiten einen hohen Blutzoll zu entrichten hatten.

Weltkrieg und Muslimbrüderschaft

Kemal Pascha setzte nun auf ziemlich radikale Weise das Programm der städtischen Nationalisten in die Tat um: westliche Verfassung, Trennung von Staat und Religion, Verbot von Turban und Schleier, etatistische Wirtschaftspolitik. Durch die Auflösung des Kalifats 1924 und das Verbot der islamischen Orden 1925 rief er in der islamischen Welt Bestürzung, ja ein Gefühl eines Epochenbruchs hervor.
In Ägypten kam es zu Ende des Krieges zu massiven Protestbewegungen gegen den britischen Kolonialismus, an dem sich erstmals nicht nur Städter, sondern auch andere Sektoren der Bevölkerung beteiligten. Der Druck wurde so stark, dass das Land unter einem König 1922 in die (kontrollierte) Unabhängigkeit entlassen wurde, wiewohl die Wirtschaft (Baumwolle) weiterhin von Briten dominiert blieb. Die Unabhängigkeit brachte einen massiven Modernisierungsschub, da nun viele Stellen in Staat und Verwaltung mit Einheimischen zu besetzen waren. In der Kultur der Großstadt griff eine gewisse "Entislamisierung" um sich; nun wollte man "Ägypter" sein und sich vom Makel des altmodischen Islam und des Dorfes befreien. Die Kluft zum traditionellen Leben auf dem Land vergrößerte sich rasch.
Die nationalstaatliche Entwicklung geriet ab 1928 mit der Weltwirtschaftskrise, die Ägypten mit voller Wucht traf, ins Wanken. Dadurch wurde die Integration von vom Land freigesetzer Menschen in den Städten gestoppt; Massenarbeitslosigkeit breitete sich aus. In vielen Fällen war ein Überleben nur durch die Neubelebung der islamischen Solidaritätsorganisationen möglich. Unter diesen Bedingungen wurde 1928 vom Volksschullehrer Hassan al-Banna (1906—1949) die "Moslembrüderschaft" gegründet, die zur ersten islamistischen Bewegung mit Masseneinfluss wurde.
Es handelte sich hier vor allem um eine soziokulturelle Bewegung, die all jene zusammenfassen sollte, die einerseits vom peripheren Kapitalismus ausgeschlossen waren, andererseits aber auch nicht mehr zur traditionellen Gesellschaft gehörten. Man bildete damals schon ein Netzwerk aus Moscheen, (Koran- )Schulen, sozialen Einrichtungen, Klubs und Sportvereinen, in denen eine neue "Gemeinschaft des Islam" angelegt werden sollte.
Aus der Moslembrüderschaft ging auch einer der wichtigsten islamistischen Ideologen hervor, dessen Bücher seit den 70er Jahren in der ganzen muslimischen Welt Verbreitung fanden: Sayyid Qutb (1906; Nasser ließ ihn 1966 hängen). Qutb entstammte einer bäuerlichen Familie, deren "Rückständigkeit" er immer wieder schilderte; desweiteren geißelte er den auf dem Land herrschenden Aberglauben und die Macht der Großgrundbesitzer. Die sozialrevolutionären Passagen seines Werkes führten immer wieder dazu, dass er auch von Linken rezipiert wurde.
In den 30er Jahren, als sich die Moslembrüder auch in anderen arabischen Ländern gegründet hatten, führten die Kämpfe um das Land in Palästina (Generalstreik der Araber 1936) Qutb zu zahlreichen Schriften, den denen die Juden der Verschwörung gegen den Islam bezichtigt werden (z.B. "Soziale Gerechtigkeit im Islam", 1947). Seine Ansichten radikalisierten sich nach Gründung des Staates Israel; in seinen "Hauptwerken", die zumeist im Gefängnis geschrieben wurden (z.B. "Wegsteine") lassen sich deutliche antisemitische Passagen finden.
Mit Zuspitzung des Konflikts um Palästina ab 1933 verwandelten sich die Muslimbrüder mehr und mehr in eine politische Strömung. 1936 verabschiedeten sie ein 50-Punkte-Programm, in dem gewissen ("zersetzenden") Entwicklungen der kulturellen Moderne der Kampf angesagt wurde: So sollte die blühende Filmindustrie in Ägypten, die sich an Hollywood ausrichtete, zensiert und die Geschlechtertrennung konsequent durchgeführt werden. Politisch wurde das "Parteiwesen" verurteilt und mehr "islamischer Geist" in der Verwaltung gefordert. In seiner Zeitung An-Nadir definierte al-Banna den Islam als "Kult und politische Führung, Religion und Staat, Spiritualität und Praxis, Gebet und Kampf, Gehorsam und Herrschaft, Koran und Schwert; man kann keines der Elemente vom jeweils anderen trennen". Seit 1937 hatte die Organisation auch Kampfgruppen aufgebaut, die sich in die politischen Auseinandersetzungen einmischten, sich aber insbesondere als Sittenwächter gerierten.
Als die Nationalkonservativen um Ali Mahir 1937 die Wahlen gewannen, gelang es der Bruderschaft über die Mahir- Familie sogar Zugang zum neuen König Faruk zu bekommen. Auch im Erziehungswesen und sogar an der Al-Ahzar-Universität konnten sie sich festetzen. Die Monarchie bediente sich dieser Gruppierung als Gegenfaktor gegen die Nationalisten und die Linke. Die Politik des Kompromisses mit dem Regime war jedoch nicht unumstritten; es gab auch einen radikalen Flügel, der sich für eine klare Distanz zu den staatlichen Behörden aussprach.
Die Kämpfe um Palästina in den 30er und 40er Jahren führten die Muslimbrüder dazu, zusammen mit anderen Gruppen erstmalig zum Jihad aufzurufen und ein eigenes Bataillon aufzustellen, nachdem schon früher Geldsammlungen für den Kampf der Palästinenser organisiert worden waren.
Das (auch bewaffnete) Eingreifen der Bruderschaft für die "arabische Sache" war jedoch nur das Vorspiel zur innerägyptischen Auseinandersetzung, denn laut Regierung war es den Muslimbrüdern gelungen, einen Staat im Staat mit "eigenen Armeen, Krankenhäusern, Schulen, Fabriken und Unternehmen" zu organisieren. Wegen ihrer Militarisierung und unter dem Vorwurf, Arbeiter und Bauern gegen die Regierung aufgehetzt zu haben, wurde die Muslembrüderschaft Ende 1948 verboten. Das führte zum Mord am Ministerpräsidenten; im Gegenzug wurde der Muslim-Gründer al Banna ebenfalls umgebracht.
Nach dem Putsch der "Freien Offiziere" unter Führung von Gamal Abdel Nasser 1952 wurde das Verbot wieder aufgehoben. Die Bruderschaft war zeitweilig die am besten organisierte Partei in Ägypten; doch als ein Mitglied 1954 einen Attentatsversuch gegen Nasser unternahm, wurde die Gruppierung erneut verboten und eine Reihe von Führern in den 50er und 60er Jahren gehängt, darunter 1966 auch der "Chefideologe" Qutb. Im Nachkriegsboom der späten 50er und 60er Jahre spielte diese Gruppierung praktisch keine Rolle mehr. Die Organisation war zerschlagen, die führenden Mitglieder in alle Winde zerstreut. Einige (z.B.Qutbs Bruder Mohammad) gingen nach Saudi-Arabien, wo sie an den Hochschulen (Gründung der "Islamischen Universität" Medina 1961) einen gewissen Einfluss aufbauen konnten.

Pakistan: erster "muslimischer Staat"

1940 hatte die Muslim League beschlossen, den Westen der britischen Kolonie Indien sowie Bengalen in einem neuen Staat auf der Grundlage des Islam zu vereinigen. Die Staatsgründung 1947 führte auf beiden Seiten zu Massenvertreibungen (jeweils fast 9 Millionen Menschen) und Hunderttausenden Toten. Muslimische Theologen hatten die Zwei- Staaten-Theorie u.a. damit begründet, dass es Muslimen eigentlich verboten sei, unter nichtmuslimischer Herrschaft zu leben. Doch damals fasste man die Muslime überwiegend als eigene Nation; erst der Bruch mit und die Unabhängigkeitserklärung von Bangladesh 1971 (die die muslimische Welt tief verunsicherte) änderten diese Lage.
Für einen muslimischen Staat trommelte vor allem die Gesellschaft der Gelehrten Indiens, bei denen ein junger Inder aus Haiderabad, Abu al-Maududi (1903—1979) Mitarbeiter war. Maududi sollte neben Qutb und Khomeini zum wichtigsten Ideologen des Islamismus werden. Auf seine Lehren stützen sich außer Teilen der pakistanischen Islamisten vor allem die Taliban, bei denen aber auch hanafitische Tendenzen Eingang gefunden haben. Er verfasste seine Arbeiten nicht in Arabisch, sondern in Urdu.
Bereits Ende der 20er Jahre schrieb er sein erstes Buch, "Der Jihad im Islam". Unter dem Einfluss der Moslembrüder gründete er eine eigene Zeitschrift, worin er sich vor allem der Islamisierung der politischen Diskurse Britisch-Indiens widmete. Für ihn sollte der zu gründende Staat Pakistan von einer "islamischen Ideologie" beherrscht sein; er dachte den Staat als Ausdruck göttlicher Souveränität. Der Muslim League warf er vor, die politischen und sozialen Probleme nicht vom "islamischen Standpunkt" aus zu betrachten.
1941 gründete er seine Organisation "Islamische Gemeinschaft", deren Ziel die Herrschaft des Islam war: "Als wahrer Muslim habe ich keinen Grund, darüber erfreut zu sein, dass die Türken in der Türkei, die Iraner im Iran und die Afghanen in Afghanistan herrschen. Als Muslim glaube ich nicht an die Idee einer Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk. Stattdessen glaube ich an die Souveränität Gottes."
Maududi war der erste Theoretiker des Islam, der den zentralen Grundsatz der Islamisten theoretisierte: "Der Islam ist unsere Verfassung." Der islamische Staat müsse eine Einheit von Ethik, Politik und Recht darstellen und damit eine Art weltliche Verkörperung Gottes sein. Obwohl seine Partei nie besonderen Erfolg hatte, weil es ihm im Unterschied zu Khomeini nicht gelang, die verarmten städtischen Massen in einen revolutionären Prozess mit einzubeziehen, darf sein Einfluss auf die pakistanische Politik und darüber hinaus, zumal in der Zeit der Militärdiktatur von Zia ul-Haq, nicht unterschätzt werden.

Aufstieg Saudi-Arabiens und Niedergang Ägyptens

In den Kämpfen um die Neustrukturierung der früheren Gebiete des Osmanischen Reichs besetzten 1924 arabische Stämme aus dem Nagd (Zentralarabien) unter Führung von Ibn Saud den Higaz, in dem die heiligen Städte Mekka und Medina liegen. Sie verdrängten damit die Haschemiten (die heutige Königsfamilie Jordaniens), die Konkurrenten um die Oberherrschaft über dieses Gebiet. Die Eroberung war mit der Vernichtung der alten, kosmopolitischen Ordnung des Higaz und der Einführung der radikal-islamischen Lehre des Wahhabitismus, die im 18.Jahrhundert entstanden war, verbunden.
Es kam zur Zerstörung der wirklichen und vermeintlichen Zeugnisse der islamischen Mystik und Volkskultur in Mekka und Medina, vor allem von zahlreichen Gräbern von Kalifen und Propheten. Die "heidnischen Kulte" der Mekkaner sollten ausgelöscht werden; es waren wahhabitische Gelehrte, die mit genau diesem Argument (im Gegensatz zu allen andern Islamschulen, auch der von Qom) die Taliban in Afghanistan zur Zerstörung der Zeugnisse aus vorislamischer Zeit (Buddha-Statuen) aufriefen. Arabien wäre jedoch eine relativ abgeschiedene Region geblieben, hätte man dort in den 30er Jahren nicht riesige Ölvorkommen entdeckt, die die Westmächte auf den Plan riefen und ein Königreich von Halbnomaden mit Dollars und Pfund überschwemmte.
In der Nachkriegszeit wurde die islamische Welt zunächst von den verschiedenen Spielarten des Republikanismus und des Panarabismus dominiert, deren herausragender Repräsentant Nasser war. Zusammen mit Nehru, Sukarno und Tito hatte er Mitte der 50er Jahre die Bewegung der "Blockfreien" ins Leben gerufen, doch die Suez-Krise und die Parteinahme der Westmächte führten ihn in ein immer engeres Bündnis mit der Sowjetunion. Die Determinanten des Kalten Krieges überlagerten auch den Kampf um die arabische Führung zwischen Ägypten und Saudi-Arabien, in dem die Ägypter bis zum Sechs- Tage-Krieg 1967 den Ton angaben.
Der Niedergang des Republikanismus in der zweiten Hälfte der 60er Jahre hatte sowohl außen- wie innenpolitische Gründe: 1964 starb Nehru, 1965 wurde Sukarno von Suharto weggeputscht und der sudanesische Machthaber Abbud gestürzt, der neue König Faisal von Saudi-Arabien entwarf eine neue, pan-arabische Politik, und durch die Gründung der PLO 1964 wurde den Ägyptern das Vertretungsrecht für die Palästinenser de facto entzogen. Die Militarisierung des Landes sowie Großprojekte (Assuan-Damm) verschlangen immer größere Summen, die vor allem beim Umbau der Landwirtschaft, aber auch im Schul- und Gesundheitswesen fehlten; die (korrupte) Staats- und Militärbürokratie entfernte sich immer weiter vom Volk; es kam zur Herausbildung eines "modernen Reformflügels" der Bürokratie, der eine Öffnung des Landes hin zum Weltmarkt forderte und wegen der Finanz- und Schuldenkrise ausländisches Kapital anlocken wollte.
Diese tiefe Krise des etatistisch-republikanischen Entwicklungsmodells, die durch die Depression der Weltwirtschaft verschärft wurde, sowie die Teilniederlage der Länder des arabischen Nationalismus im neuerlichen Krieg mit Israel 1973, führten in den 70er Jahren auf der Grundlage einer tiefen Unzufriedenheit der ärmeren Teile der Gesellschaft zum neuerlichen Aufstieg der verschiedenen islamistischen Bewegungen. Sie wurden damals von den Regierungen verschiedentlich instrumentalisiert, um die linken Organisationen, besonders an den Universitäten, zu bekämpfen und niederzumachen.
Die wahren Sieger jenes Krieges waren aber die Erdöl exportierenden Staaten, da die Vervierfachung des Ölpreises ihnen Unmengen von Devisen in die Kassen spülte. Das Manna ließ die adligen Wüstensöhne in Saus und Braus leben; ein Teil des Geldes wurde aber auch für Entwicklungsprogramme eingesetzt; und da man über wenig eigene Fachleute und Arbeiter verfügte, kam es zu einer Massenimmigration von "Gastarbeitern" in die Golfstaaten. 1975 waren dort 1,2 Millionen, 1985 bereits 5,2 Millionen beschäftigt, wobei in jenem Jahr allein die pakistanischen Arbeitsimmigranten über 3 Milliarden Dollar nach Hause überwiesen. Eine Reihe islamischer Länder wurde somit immer abhängiger von der Entwicklung in den Golfstaaten.
Die Saudis setzten nun erhebliche Geldmittel ein, um die radikal-islamischen Strömungen in der ganzen muslimischen Welt und darüber hinaus zu unterstützen. Es kam zu einer Zusammenführung des Wahhabitismus mit den royalistischen Strömungen der Neo-Salafiya. Bereits 1962 war die "Islamische Weltliga" zur Bekämpfung des arabischen Nationalismus gegründet worden. Auch Maududi ließ sich damals engagieren. Seine Apologie der Obrigkeit war für die saudischen Prinzen sicherlich eine willkommene Unterstützung ihres Herrschaftsanspruchs. Außerdem gelang ihnen eine massive Einflussnahme in den Prozess der Re-Islamisierung Pakistans unter Zia ul-Haq, dessen Politik sich vor allem auch gegen die Linke richtete.
Zum erstenmal seit Gründung der Umma konnte man nun in den meisten islamischen Ländern dieselben (in Arabien) gedruckten Schriften von Islamisten vorfinden. Zur Durchsetzung ihrer spezifischen Koran-Interpretation ließen die Saudis seit etwa 1975 in zahlreichen muslimischen Ländern auch Moscheen und Koranschulen bauen; insgesamt soll sich ihre Zahl auf weit über 1500 belaufen, die allein oder wesentlich mit saudischen Geldmitteln erstellt wurden. Dadurch nahmen sie massiven Einfluss auf den frommen Mittelstand, aber auch die Kinder von armen Bauern und Bäuerinnen, die vom Land in die Städte gekommen waren. Da der Staat sich um ihr Los nicht kümmerte, waren die Koranschulen häufig der Ort ihrer Alphabetisierung.
Die Geldströme aus Saudi-Arabien führten zu einer Verbindung zwischen den dortigen Aristokraten und Teilen der frommen Mittelschichten (Händler und Gewerbetreibende) in muslimischen Ländern, die dadurch wiederum in die Lage versetzt wurden, die verarmten städtischen Massen an sich zu binden. Dies galt zumal nach den Erfahrungen mit der iranischen Revolution, die gezeigt hatte, welche revolutionäre Dynamik aus der Verbindung dieser Mittelschichten mit den verarmten, in die Städte geflohenen, mehrheitlich jungen Massen entstehen konnte.
Im Dezember 1973 wurde in Dschidda die "Islamische Entwicklungsbank" gegründet, die Entwicklungsprojekte in den ärmeren muslimischen Ländern finanzieren sollte und die 1975 ihre Arbeit aufnahm. Etwas später entstanden (zuerst in Dubai) auch private Finanzinstitute und Fondsgesellschaften und schließlich durch die Gründung des "Islamischen Finanzhauses" (DMI) und der Al-Baraka-Gruppe (Besitzer ist der Milliardär Salih Kamil) sogar transnationale Holdings. Auch die rasante Entwicklung der Bin-Laden-Gruppe als Mischkonzern ist in diesem Rahmen zu sehen. 1995 soll es weltweit schon etwa 150 islamische Banken und Fondsgesellschaften gegeben haben.
Die Privatisierungen in vielen muslimischen Ländern machten entsprechende Investitionen möglich und bauten Abhängigkeiten auf. Die Besonderheit dieser Einrichtungen liegt darin, dass sie in der Regel das Zinsverbot des Korans beachten, was dazu führt, dass die Abrechnung erst ex post erfolgt, d.h. der wirkliche Zins erst im Nachhinein und gemäß dem Ertrag der Investition berechnet wird.
Die Geldströme aus den Golfstaaten führten mittlerweile in fast allen muslimischen Ländern zum Entstehen eines neuen Mittelstands, der ein großes materielles und ideologisches Interesse an der Bindung an und die Ausbreitung des Islam hat und sein Vermögen möglichst dem staatlichen Zugriff entziehen möchte. Dies brachte eine eigenartige Überschneidung von neoliberaler und islamischer Ideologie zuwege. Da eine ganze Reihe solcher Gruppierungen dem Islamismus zuzurechnen sind, treten auch immer wieder Konflikte mit dem Staat auf. Am stärksten fielen diese in Ägypten aus, wo die bewaffneten Angriffe von radikalen Islamisten auf Touristen den Staat u.a. dazu führten, diese "Gegengesellschaften" durch Restriktionen und Verbote zu bekämpfen.

Von der iranischen Revolution zu den innerislamischen Kriegen

Für die islamische Welt war das Jahr 1979 (1399 der islamischen Zeitrechnung) ein entscheidendes Jahr voller Umbrüche. Der Traum der Islamisten von der Neugründung der Umma wurde alsbald mit der Realität tiefer antagonistischer Interessengegensätze in der muslimischen Welt konfrontiert. Doch die radikaleren unter ihnen suchten sich ein neues Kampffeld für den Jihad in Afghanistan, wo sie von mehreren Staaten Unterstützung erhielten.
Der Sturz des Schahregimes durch die "Islamische Revolution" 1979 brachte eine Säule der westlichen Globalpolitik in Mittelasien zum Einsturz und verstärkte die Bedeutung Saudi-Arabiens als Garanten der US-Interessen in der Region. Die "Islamische Revolution" zog eine Schockwelle und einen massiven Aufschwung islamistischer Gruppen hinter sich her, wiewohl er im sunnitischen Islam durch die traditionelle Geringschätzung der Lehren der Schia und ihrer Anhänger als Abtrünnige gebremst wurde. Nur im Libanon kam es direkt zur Bildung der schiitischen Hizbollah (Partei Gottes), die dort einen Kampf gegen die Oberschicht und Israel führte.
In Saudi-Arabien selbst wurde nun die tiefe Krise des Wahhabitismus nach der Ermordung von König Faisal 1975 offenbar, denn eine Verschwörung von jungen Leuten, die sich ihwan (Brüder) nannten, besetzte am 20.November 1979 die heiligen Städten von Mekka und verschanzte sich dort. Gleichzeitig kam es auch in anderen Landesteilen zu Aufständen, die alle mit militärischen Mitteln und unter Einsatz von US-Beratern niedergeworfen wurden. Der Kampf zwischen dem Iran und den Saudis wurde auch auf mehreren Pilgerreisen zu den heiligen Städten ausgetragen.
Die Entwicklung der iranischen Revolution wurde 1980 von Saddam Hussein (durchaus mit Unterstützung des Westens, ja sogar der Saudis) durch seinen Angriff auf den Iran gestoppt. Dieser acht Jahre währende Krieg mit Hunderttausenden Opfern raffte einen Gutteil der (männlichen) Jugend dahin und sorgte dafür, dass die kleinbürgerlich-islamistische Führung den revolutionären Prozess in den Griff bekam. Die Militarisierung der Gesellschaft machte es den Pasdaran (Wächter der Revolution) auch möglich, die Opposition im Innern und in den kurdischen Gebieten niederzuschlagen.
In Afghanistan war der Sturz des Königs Zahir (den man nun aus Rom zurückholen möchte) und seine Ersetzung durch den früheren Ministerpräsidenten Daud als Anführer der städtischen Nationalisten erst 1973, zu einem Zeitpunkt, als sich diese Strömungen fast überall schon in der Krise befanden, erfolgt. Die Reformmaßnahmen (Entwicklung der Infrastruktur, Ausbildungssystem) kamen aber kaum über ihr Anfangsstadium hinaus und blieben im Wesentlichen auf die Städte beschränkt.
Daud geriet zwischen die Mühlsteine der Großgrundbesitzer (die auch das Wasser kontrollieren!) und der mit ihnen verbundenen islamischen Gelehrten einerseits, und der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA), die die schwache und autoritäre Linke verkörperte, andererseits. Die DVPA war in zwei Flügel gespalten, die sich heftig, auch mit Waffengewalt befehdeten. Als das Regime den bekannten Gewerkschaftsführer Kyber ermorden ließ, kam es zu Massendemonstrationen und einem Aufstand DVPA-naher Offiziere, wodurch die Partei die Macht übernehmen konnte.
Die Fehde zwischen den beiden Flügeln wurde durch den massiven Widerstand der Großgrundbesitzer, die mittels einer Landreform enteignet werden sollten, schnell wieder angeheizt; der völlig diktatorisch regierende Chef der Khalq-Fraktion, Hafizullah Amin, brachte fast das ganze Land gegen sich auf. In dieser Lage intervenierte die Sowjetunion und setzte den Führer des Parcham-Flügels, Babrak Karmal, an die Regierung, damit er einen versöhnlerischen Kurs fahre. Das Interesse der Sowjetunion ergab sich vor allem aus der Verhinderung einer Ausbreitung der islamischen Revolution auf die asiatischen Republiken.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA (schon unter Carter!) über den pakistanischen Geheimdienst ISI längst begonnen, ihre Politik des roll back durchzuführen, da sie eine Destabilisierung Pakistans und mittelfristig auch Saudi-Arabiens durch die iranischen und afghanischen Ereignisse um jeden Preis verhindern wollten. Sämtliche reaktionären Regime der muslimischen Welt spendeten für den heiligen Krieg und freuten sich, dass sie ihre radikal-islamistischen Gegner auf diese Weise loswerden konnten; insgesamt sollen fast 100000 Jihadisten nach Afghanistan gegangen sein, um gegen die "Ungläubigen" zu kämpfen.
Besonders Saudi-Arabien engagierte sich, und da sich die Prinzen zu fein waren, mit der Fahne des Koran in die Schlacht zu ziehen, schickte man den "Freund des Hauses" Bin Laden ins Gefecht, der einige Zeit zuvor sein islamisches Erweckungserlebnis gehabt hatte. Als sich die Sowjetunion 1989 zurückzog, war das Najibullah-Regime auf sich allein gestellt, doch die Rivalitäten unter den warlords bewirkten, dass es sich noch bis 1992 halten konnte. Dann zogen der jetzige, aus der sunnitisch-persischen Kultur stammende Präsident Rabbani (Islamische Gemeinschaft) und der Tadschike Scheich Masud in Kabul ein. Die Interessenunterschiede zum Turkmenen-General Dostum und vor allem zum von den Saudis ausgehaltenen Chef der Hezbe Islami (Islamische Partei), dem Paschtunen Gulbuddin Hekmatyar, führten schnell zum Zerfall der Einheitsfront der Mudjaheddin. Beide beschossen Kabul so lange, dass in weiten Teilen nur noch Trümmer übrig blieben.
Ab 1995 tauchten dann die in Pakistan in den Madrassen ausgebildeten "Koranschüler" der Taliban auf, eine neue Generation von Flüchtlingskindern, die nichts außer Krieg und Flüchtlingselend (und religiöse Vertröstung) kennengelernt hatten. Ihre Versprechen von Frieden und Einigung des Landes unter islamischen Vorzeichen brachte ihnen eine deutliche Unterstützung bei der kriegsmüden Bevölkerung ein. Doch ihre Form des "Gottesstaats" in Verbindung mit dem wahhabitischen Moralkodex wurde von immer mehr Afghanen und vor allem Afghaninnen als terroristische Diktatur empfunden, die auch ohne die US-Luftangriffe in absehbarer Zeit mangels Unterstützung im Land zusammengebrochen wäre.
Doch bleibt jetzt ein Afghanistan zurück, in dem — wie in andern Teilen der islamischen Welt, etwa dem Libanon — der gemeinsame Bezug auf den Islam keineswegs ausreicht, den Zerfall der Nation in rivalisierende (ethnische) Gruppen zu verhindern. Die Zersplitterung und Fragmentierung der islamischen Welt, auch der islamistischen Gruppen, ist heute wohl stärker denn je. Daher wird sich die Krise des Islamismus in Zukunft wohl weiter ausbreiten. Das kann auch bedeuten, dass durchgeknallte Jihadisten in Selbstmordattentaten andere Menschen mit sich in den Tod reißen.

Paul Kleiser

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