SoZ Sozialistische Zeitung

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Käsefondue und Pauperisierung

Ein Sammelband über Leo Kofler und den Marxismus des 20.Jahrhunderts

Christoph Jünke (Hrsg.), Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20.Jahrhundert, Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot, 2001, 330 Seiten, 30 Euro

Die neue Sammlung von Aufsätzen zum Werk Leo Koflers schließt an die Festschrift Marxismus und Anthropologie an, die bereits 1980 von Ernst Bloch und anderen zu Ehren des "marxistischen Einzelgängers" herausgegeben wurde. Diesmal ist jedoch die Bandbreite der Themen weiter gespannt: von der Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft über Humanismus, Gesellschaftstheorie und Ästhetik bis hin zur politischen Theorie und Praxis.

Ausgangspunkt sind die Referate eines wissenschaftlichen Kongresses, den die Leo-Kofler-Gesellschaft im Frühjahr 2000 an der Ruhr-Universität Bochum, der letzten Wirkungsstätte Koflers, veranstaltet hatte. "Die meisten dieser Beiträge sind, teils wie sie waren, teils stark überarbeitet, in dieses Buch eingegangen", heißt es im gemeinsamen Vorwort vom Herausgeber Christoph Jünke und vom Vorsitzenden der Leo-Kofler-Gesellschaft Günter Brakelmann.
Im einleitenden Beitrag unternimmt Wolfgang Fritz Haug einen "Rückblick auf den Marxismus des 20.Jahrhunderts" und erörtert "Erbe, Aufgaben, Aussichten einer marxistischen Renaissance". Er plädiert dafür, auch nach dem "Geschichtsbruch 1989/91" nicht in Geschichtslosigkeit zu verfallen und mahnt diejenigen, die den Stalinismus schon Jahrzehnte lang kritisiert hatten, vor Überheblichkeit: "Es ist uns verwehrt, unsere Hände in Unschuld zu waschen, auch denjenigen unter uns, die wie Kofler unter der Staatsideologie des ML zu leiden hatten. Gift und Heilmittel unterscheiden sich oft nur durch die Dosis. So ist auch das Erbe der Niederlagen und der Verkehrungen zweideutig. Nichts ist kostbarer als begriffene Irrtümer, nichts wäre tödlicher als blinder Wiederholungszwang."
Warum eignet sich der theoretische Beitrag des 1907 geborenen und 1995 verstorbenen Leo Kofler, der doch zwischen allen Stühlen zu sitzen pflegte, für ein so umfassendes Unternehmen? Vielleicht liegt das gerade daran, dass er sich so nachhaltig gegen den jeweiligen Mainstream in der Arbeiterbewegung und in der Linken gestemmt hatte. Aufgewachsen im "Roten Wien", geschult an Max Adler und am "Austromarxismus", erscheint er zunächst als Relikt, als übriggebliebener Repräsentant einer ausgestorbenen Spezies.
Mit der offiziellen kommunistischen Bewegung, zu der er sich hingezogen fühlte, brach er, und die sozialdemokratische Anpassung an die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse kritisierte er zeitlebens. Doch auch zur "Neuen Linken", die in den 60er Jahren aufkam, lag er quer und ging besonders hart mit den Exponenten der "Frankfurter Schule" ins Gericht. Die Unabhängigkeit seines Denkens gepaart mit seiner Streitbarkeit, bei ihm stets Hindernisse für Karriere und Popularität, haben sein Werk zugleich zu einer wahren Fundgrube für alle diejenigen gemacht, die aus der unverfälschten Tradition eines aufklärerischen und kritischen "Arbeiterbewegungsmarxismus" jenseits von Dogma und Apologetik schöpfen wollen. Und auch diese Sammlung von Aufsätzen zu seinem Werk ist eine solche Fundgrube.
Koflers Bürokratiekritik ist zugleich Kritik an der Verengung des Emanzipationsgedankens und insofern untrennbar von seiner Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Er war weit davon entfernt, die Fehlentwicklungen in Marxismus und Arbeiterbewegung als Entschuldigungsgründe für kapitalistische Ausbeutung und Perspektivlosigkeit der bürgerlichen Verhältnisse gelten zu lassen.
Ebenso wenig ließ er eine Haltung gelten, die diese Verhältnisse als so hermetisch auffasst, dass ihr gegenüber nur noch der einzelne kritische Kopf bestehen kann. In seinem Beitrag zu "Leo Kofler und die Neue Linke. Zur politischen Theorie der progressiven Elite" zeigt Christoph Jünke, wie Kofler frühzeitig vor den Gefahren warnte, die einer solchen Haltung innewohnen: Rückfall in einen notdürftig übertünchten Konformismus oder Flucht in zynisches Sektierertum. Der Herausgeber berührt damit zugleich einen sehr originären Beitrag Koflers zur Bilanz der Arbeiterbewegung und der Linken: Das Aussterben einer Schicht von "Volkstribunen", die in "allen Poren" dieser Bewegung saßen und zu ihrem himmelsstürmenden Elan beitrugen, sowie ihr notdürftiger und vorübergehender Ersatz durch eine neue progressive Elite, der die Bindung an eine solche Bewegung schmerzlich fehlt.
Der Rezensent kann schon aus Platzgründen nicht viel verraten. Wie kommt zum Beispiel Jakob Moneta vom Schweizer Käsefondue über das "Unbehagen in der Sattheit" zu Koflers Kategorie der "Pauperisierung des Menschen"? Warum gehört, wie Roger Behrens sagt, "Bildung konzeptuell in das bürgerliche Weltbild", und wie nutzte Kofler Hegels paradox anmutende Erkenntnis, dass "der Geist der Entfremdung seiner selbst in der Welt der Bildung sein Dasein hat"? Was heißt heute herrschendes Denken (Werner Seppmann) und wes Geistes Kind ist eigentlich der moderne Kapitalismus (Michael R. Krätke)? Wieso ist Koflers klassische Studie Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft weniger eine Geschichte von Klassenkämpfen als eine Geschichte des kritischen Geistes (Ulrich Brieler). Und wieso bedarf die marxistische Theorie einer wohlverstandenen Anthropologie (Günter Brakelmann)? Es bleibt keine Wahl: Dies Buch muss gelesen oder wenigstens in Ruhe durchstöbert werden.

Manuel Kellner

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