SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar, Seite 3

Israel/Palästina

Für einen binationalen Staat

Der Staat Israel kann heute drei alternative Wege einschlagen. Der erste ist die Bewahrung des Staates Israel als jüdischer Staat, d.h. die Identifikation des Souveräns mit einer ethnisch-religiösen Gemeinschaft und dem jüdischen Volk in aller Welt.
Das ist grundsätzlich und strukturell ein nicht demokratisches Modell, das einen bedeutenden Teil der Bürgerinnen und Bürger in einer Position der Minderwertigkeit und Diskriminierung hält. Angesichts der Schwierigkeit zu definieren: "Wer ist Jude?", ist das ein Modell, das unüberwindliche Spannungen und Widersprüche im eigenen souveränen Kollektiv hervorruft. Mittelfristig führt es zur Verwandlung Israels in einen theokratischen Staat, in dem die demokratischen Elemente, die im israelischen Staat existieren, nach und nach abgeschafft würden.
Das zweite Modell geht von der völligen Trennung zwischen Nationalität und Staat, zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft aus. Hier bedarf es einer begrifflichen Klärung: In der französischen Sprache wie in der politischen Philosophie Frankreichs benutzt man den Begriff nationalité, um gleichzeitig die Gemeinschaft der Bürger eines Landes und eine nationale, ethnische oder kulturelle Gemeinschaft zu definieren. Das Englische (und Hebräische) kennt stattdessen zwei verschiedene Begriffe: citizenship, um die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv aus Männern und Frauen zu bezeichnen, die den Souverän eines gegebenen Staates bilden, und nationality, um die kulturelle und/oder ethnische Zugehörigkeit, einschließlich im Rahmen einer gemeinsamen citizenship, zu definieren.
Der Unterschied ist offenkundig nicht nur sprachlicher Natur. Das erste Konzept verweist auf die republikanische und laizistische Konzeption, die aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist, die eine Nation von Staatsbürgern schaffen wollte und in dieser Hinsicht die Besonderheiten rassischer, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit aufhob. Alle Franzosen sind Nachfahren des Vercingetorix, und die Bekehrung Chlodwigs ist eines der konstituierenden Ereignisse der Geschichte Frankreichs und seiner Identität, einschließlich für jene, die auf Martinique leben und dort ihre Wurzeln haben, oder für jene, deren Großvater in einem shtedtl in Bessarabien lebte. In der republikanischen politischen Philosophie sind die Franzosen nicht nur Bürger des französischen Staates, sie gehören zur französischen Nation, und ihre religiösen und ethnischen Besonderheiten sind auf den privaten Bereich beschränkt.
Die Verfassung einer laizistischen und demokratischen Republik könnte mit ihrer logischen Schlussfolgerung, der Bildung einer neuen, "palestisraelischen" Staatsbürgernation, eine Alternative zum jüdischen Staat in den beschränkten Grenzen des Staates Israel sein. Trotzdem erscheint diese laizistische und republikanische Option nicht als die wahrscheinlichste und nicht einmal als die erstrebenswerteste. Ihre Hauptschwäche, die auch diejenige des republikanischen Modells zu Beginn des dritten Jahrtausends ist, besteht darin, dass sie die Verschiedenartigkeit der kollektiven, nationalen oder ethnischen Identität der Individuen, die vermeintlich die Staatsbürgernation bilden, nicht berücksichtigt. Die republikanische Demokratie verbucht das Individuum unter ein Kollektiv: Staatsbürgerschaft. Aber ihre Grenzen liegen in ihrem hyperpolitischen Charakter, der ein Individuum nur als Staatsbürger begreift. Man muss aus dem Dogma herauskommen: ein Staat, eine Kultur, ein Volk. Das Konzept des multinationalen Staates kann dabei helfen, denn er setzt verschiedene Völker in einem Staat voraus. Man müßte also einen pluralistischen Staat anstreben, in dem die gemeinsame Staatsbürgerschaft im Einklang stünde mit der Anerkennung der Identitäten verschiedener Kollektive.
Wenn die Frage nach dem kollektiven Ausdruck konstitutiver Gruppen heute, mehr als zwei Jahrhunderte nach der Französischen Revolution, in den meisten europäischen Ländern, darunter im republikanischen Frankreich, aufgeworfen wird, dann gilt dies noch mehr für ein Land wie Palästina, wo sich in den letzten Jahrzehnten im Verlauf eines schmerzlichen und blutigen Konflikts unterschiedliche Identitäten und konstitutive Kollektive herausgebildet haben. Israelis wie Palästinenser brauchen einen autonomen sprachlichen und kulturellen, aber auch politischen Ausdruck.
Ein multinationaler Rahmen, sei es im historischen Palästina oder in den Grenzen des Staates Israel, scheint eine viel realistischere und glaubwürdigere Option als ein nur demokratischer, laizistischer und staatsbürgerschaftlicher Rahmen. Die multinationale Option verschafft den Gemeinschaften, die das Staatsbürgerkollektiv bilden, nicht nur einen institutionalisierten Rahmen für ihren kollektiven Ausdruck, sie ermöglicht auch, demografische Zwangsvorstellungen zu überwinden. Im Rahmen eines Nationalstaats gilt die Garantie einer ethnischen Mehrheit als Bedingung für die Selbstverteidigung der kulturellen Eigenheiten der Mehrheitsnation — das ist immer verbunden mit der Gefahr ethnischer Säuberungen. Multinationalität hingegen garantiert die Verteidigung dieser Eigenheiten unabhängig von der Bevölkerungszahl und von demografischen Veränderungen.
Im konkreten palästinensisch-israelischen Kontext würde das erlauben, die Frage nach der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge mit weniger Ängsten anzugehen, ohne die Autonomie und Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinschaft zu bedrohen. Die Weigerung, über das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge nachzudenken, ist vor allem Ausdruck der Angst, die Juden könnten ihre Mehrheit verlieren, wobei ihnen diese Mehrheit als unerlässliche Bedingung für die Aufrechterhaltung ihrer "konstitutionellen Freiheiten und Ausdrucksmöglichkeiten" gilt. Existieren solche Freiräume unabhängig von der Bevölkerungszahl gibt es keinen Grund, eine "Majorisierung" durch eine andere Gemeinschaft zu fürchten. Binationalität bedeutet, die Gleichheit zwischen Individuen und die Gleichheit zwischen organisierten Kollektiven miteinander zu verbinden.
Die bi- oder multinationale Option lässt die Frage nach der Teilung oder Nichtteilung in unabhängige Staaten offen, in beiden Fällen behält die Frage ihre Relevanz. Meint man, dass ein Palästinenserstaat im Westjordanland und im Gazastreifen an der Seite eines demokratisierten (deshalb bi- bzw. multinationalen) Staates Israel unausweichlich oder notwendig ist, würde allem Anschein nach die ökonomische, kulturelle und ökologische Situation rasch darauf drängen, dass die beiden Staaten eine Föderation bilden und so eine neue politische Entität schaffen, die Einheit und Autonomie verbindet. Verteidigt man stattdessen die Option eines gemeinsamen, wahrhaft demokratischen Rahmens, müsste dieser eine Föderation sein, um den Ausdruck nationaler, ethnischer oder kultureller Kollektive zu erlauben und damit ebenso Einheit und Autonomie verbinden.
Der Grundsatz der Binationalität stellte weniger ein präzises politisches Programm und eine konkrete Form der Institutionalisierung staatsbürgerlichen Lebens dar als ein System von Werten, dessen Ziel es ist, das Zusammenleben zwischen Völkern und Gemeinschaften, die auf dem Territorium des historischen Palästina leben, auf der Grundlage der Gleichheit und des Respekts vor den Eigenheiten jeder Gruppe zu regeln. Der Grundsatz steht im Gegensatz zur Philosophie der Trennung, die den Kern des Zionismus bildet, seine Voraussetzung und seine Praxis. Ebenso wie die Apartheid ist der Zionismus eine Philosophie der Trennung, die von der Idee ausgeht, je weniger man mit den anderen Kontakt hat, um so besser ist es — "sie in ihrem Haus, und wir in unserem". Er schließt prinzipiell den Pluralismus aus und strebt Homogenität an: ein Staat, ein Volk, eine Nation, eine Kultur, eine Ideologie.
Andererseits, und genau deshalb, sind in Israel die Stadtteile und Dörfer sehr oft kulturellen (religiösen oder laizistischen) Gemeinschaften eindeutig zugeordnet, das Schulsystem ist entsprechend in eine laizistische, eine religiöse, eine arabische usw. Richtung getrennt. All dies entspringt nicht dem Pluralismus, sondern dem Willen zur Homogenisierung, die, wenn sie sich als unmöglich erweist, die Form der Trennung annimmt, d.h. von parallelen homogenen Entitäten. Die Binationalität ist das exakte Gegenteil dieser Philosophie der Apartheid.

Michel Warschawski

Der Autor ist Leiter des Alternative Information Centre in Jerusalem. Der Beitrag erschien zuerst in Corriente Alternativa, Nr.17, 2001.

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