SoZ Sozialistische Zeitung

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Eine vorrevolutionäre Situation?

In Argentinien gewinnen die Ideen der Linken OberhandWährend die hiesige Presse sich noch am neuen argentinischen Präsidenten und seinen Maßnahmen abarbeitet, hat ihm die Mehrzahl der Bevölkerung längst den Rücken gekehrt. Seine Amtsausübung gilt als illegitim, weil er keine Neuwahlen ansetzt. Wichtiger sind derzeit die zahlreichen Prozesse der Selbstorganisation der Massen, die den bürgerlichen Parteien und ihren Institutionen längst den Rücken gekehrt und teilweise eine Parallelwirtschaft aufgebaut haben. Über die Stimmung im Land nachstehend ein Interview mit JAMES PETRAS.

Was war die treibende Kraft, die zum Dezemberaufstand geführt hat?
Die treibende Kraft lag in den breiten, nachhaltigen Mobilisierungen der Arbeitslosenbewegung. Die erwerbslose Arbeiterbewegung ist in den letzten fünf Jahren immer stärker geworden. Im letzten Jahr hat sie sich auf das gesamte Land ausgeweitet und eine bedeutende Rolle darin gespielt, dass sie der Regierung Subsistenzprogramme und öffentliche Beschäftigung abgerungen hat.
An der Basis der Erwerbslosenbewegung dominieren die Frauen, vor allem solche, die einem Haushalt vorstehen; deren Zahl ist mit der Erwerbslosigkeit gestiegen.
In einigen Landesteilen erreicht die Erwerbslosigkeit fast 60%. Viele piqueteros (Streikposten) sind Fabrikarbeiter mit Gewerkschaftserfahrung. Viele sind auch junge Leute, die niemals einen Erwerbsarbeitsplatz hatten.
Ihre Taktik ist, die Zirkulation und den Transport der Waren lahmzulegen. Die piqueteros blockieren große Straßen, um auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Der Verkehr staut sich, die Lkws kommen nicht weiter, die Fabriken bekommen keine Lieferungen.
Die Regierung schickt die Polizei, dann kommt es zu Konfrontationen. Dabei sind Menschen getötet worden, erst jüngst im Norden Argentinien fünf oder sechs. Aber die Regierung fürchtet, wenn die Konfrontationen weitergehen, dass sich dann die Massen aus den riesigen Slums in Bewegung setzen und es zu einem Bürgerkrieg kommt. Deshalb handelt die Regierung im Allgemeinen — nach Drohungen und Polizeieinsätzen — einen Kompromiss aus.
Diese Kompromisse werden von den an der Mobilisierung Beteiligten diskutiert. Sie wählen keine Abordnung, die ins Zentrum geht und mit der Regierung verhandelt. Sie beordern die Regierung zu den blockierten Straßen, und dort diskutieren die Menschen, was sie fordern sollen und was sie akzeptieren können. Die Erfahrung der piqueteros mit den letzten Delegationen war, dass die Abgeordneten mit irgendwas bestochen wurden, selbst kämpferische Delegierte. Oder sie ließen sich auf Kompromisse ein, bei denen die Basis ausverkauft wurde.
Diese Demonstrationen waren in den engen Grenzen, in denen sie operierten, enorm erfolgreich. Der großen Mehrheit der Bevölkerung haben sie vorgeführt, dass man sie auf Politiker nicht verlassen kann. Man muss selber von unten aktiv werden.
Im September fanden zwei landesweite Versammlungen statt, um die Komitees aus verschiedenen Städten, Regionen und Vororten von Buenos Aires zu koordinieren. Hier wurde ein Koordinationskomitee eingerichtet.

Wie hat der Kampf der piqueteros die Dezemberdemonstrationen beeinflusst?
Ihre Energie wurde auf verschiedenen Demonstrationen, auch im Stadtzentrum von Buenos Aires, kurz vor dem Aufstand sichtbar. Es gab verschiedene Fälle, in denen Klagen laut wurden und Ladenbesitzer und andere beschlossen, die Geschäftsstraßen zu blockieren. Dann gab es eine grosse Debatte, weil die sog. fortschrittlichen Gewerkschaftsführer glaubten, sie könne die Mittelschicht für sich gewinnen, indem sie die Hauptstraßen dichtmachten, Parallelstraßen aber offenließen. Die kämpferischere Bewegung der Erwerbslosen war dagegen, sie sagte: Entweder wir machen die Straßen dicht oder nicht. Dieser kämpferische Geist beeindruckte nicht nur die beschäftigte Arbeiter und junge Leute, sondern auch die verarmten Mittelschicht und selbst Teile des wohlhabenderen Kleinbürgertums, inkl. Ladenbesitzer, kleine Geschäftsleute und andere, die ein Konto auf der Bank hatten.
Als die Regierung schließlich die Bankguthaben der Mittelschicht beschlagnahmte — Milliarden Dollar Ersparnisse —, wurden auch diese Schichten in die Straßendemonstrationen hineingezogen. Es handelt sich dabei um eine verarmte und radikalisierte Mittelschicht. Es sind Leute, die all ihre Ersparnisse verloren haben. Sie haben nicht mehr das Geld, um ihre Miete oder die Lebensmittelrechnung zu zahlen.
Nach dem Beispiel, das die erwerbslosen Arbeiterinnen und Arbeiter gegeben haben, kamen jetzt verschiedene Schichten der Bevölkerung zusammen: die große Masse der Erwerbslosen, die irgendwie Teil der informellen Ökonomie sind; die erwerbstätigen ArbeiterInnen, denen keinen Lohn bekommen haben, weil die Konten ihrer Arbeitgeber eingefroren sind. Und die große Masse der Staatsangestellten, Ladenbesitzer u.a., die eine breite Front gegen die Banker darstellen. Die Banker konnten ihr Geld außer Landes schaffen — sie kaufen einfach argentinische Anleihen an der New Yorker Börse.
Es handelt sich hier also um eine Klassenauseinandersetzung, bei der die Erwerbslosen einen Anziehungspol bilden, der die Beschäftigten, das Kleinbürgertum und Teile der Mittelschichten in eine Politik der außerparlamentarischen Kämpfe und der Ablehnung der großen bürgerlichen Parteien hineinziehen.
Ob die Mittelschichten ein strategischer Verbündeter bleiben wird, oder ob sie einen Deal erreichen, dass sie ihr Geld von den Banken abziehen können, ist eine offene Frage.
Das Wichtigste ist, dass die Massenaktion — mehr als die rituellen Streiks der Gewerkschaftsbürokratie — dazu geführt hat, dass Hauptwortführer des Neoliberalismus und die wichtigsten Sprecher der US-Banken und des US-Imperialismus nicht mehr in der Regierung vertreten sind.
Die bürgerliche Presse hat den Grad der Spannung und Polarisierung, die heute in Argentinien herrschen, nicht begriffen. Vor Ort beschreiben Aktiviste und Revolutionäre dies als eine vorrevolutionäre Situation. Und sicherlich ist der Grad an Feindseligkeit gegenüber allen bürgerlichen Parteien und der Grad an Aktivismus großer Massen der Bevölkerung so hoch, dass man von einer vorrevolutionären Situation sprechen kann.
Es gibt derzeit keine organisierte revolutionäre Partei mit Wurzeln und breiter Unterstützung in den Massen. Es gibt Tausende von lokalen Aktivisten, die in die Aktionen involviert sind, und es gibt eine breite Radikalisierung des Bewusstseins unter Hunderttausenden, wenn nicht Millionen von Argentiniern heute — ohne Beispiel in der jüngsten Geschichte Lateinamerikas.
Doch die kleinen Parteien der radikalen Linken — all die trotzkistischen und maoistischen Parteien — haben den Großteil ihrer Energie darauf verwandt, Abgeordneten in ein machtloses Parlament zu wählen. Nirgendwo haben diese Parteien — oder die der gemäßigten Linken — irgendeine führende Rolle gespielt. Man hat sie nicht gesehen. In keiner dieser anschwellenden Massenmobilisierungen — die in verschiedenen Städten Hunderttausende von Menschen erfassen — hat es irgendeine organisierte Avantgarde gegeben.
Es gibt Aktive der Erwerbslosenbewegung mit Erfahrungen im Straßenkampf. Programmatisch sind ihnen ihre Sofortforderungen klar: Beschäftigungsprogramme auf breiter Skala, ein Mindestlohn, Arbeitslosenunterstützung, und natürlich keine Zahlung der Schulden. Einige fordern auch die Renationalisierung strategischer Sektoren der Wirtschaft.

Was bringt die neue Regierung von Duhalde?
Diese Regierung ist eine Provokation. Duhalde ist ein Mann der Rechten. Er hat in der Vergangenheit einen politischen Apparat aus Verbrechern organisiert. Entgegen dem, was die Presse schreibt, ist er imstande, den rechtsextremen Straßenmob zu mobilisieren — faschistoide Gruppen, die sich auf ein Lumpenproletariat und desorientierte Teile der Erwerbslosen stützen, um den Linken die Oberhoheit über die Straße streitig zu machen und von der Polizei den Druck wegzunehmen. Es hat bereits eine größere Auseinandersetzung gegeben, in der die Polizei natürlich Partei für Duhaldes peronistische Gangster ergriffen hat.
Wir haben es mit einem Land zu tun, das eine lange Tradition gewerkschaftlicher Aktion hat. Generalstreiks gibt es in Argentinien öfter als in jedem anderen Land der Welt. Es ist ein Land mit der größten Konzentration erwerbsloser Industriearbeiter überhaupt. Und mit der größten Zahl Erwerbslosen, die in direkte Aktionen involviert sind und diese organisieren.
Was fehlt, ist eine anerkannte politische Führung, die diesen dynamischen Prozess vorantreibt bis zur Bildung einer Arbeiterregierung. Ich glaube, die nächsten Kämpfe werden diese Frage sehr scharf aufwerfen.
Wir sollten im Hinterkopf behalten, dass Washington keine Ruhe geben wird, bis es diese Bewegung nicht niedergemacht hat. Wahrscheinlich wird eine zivile Fassade aufrechterhalten, dahinter aber eine Rückkehr des Militärs als der vorherrschende Faktor in der Politik vorbereitet werden. Unter der Diktatur von 1976 bedurfte es 30000 Tote und Verschwundene, um die Massenbewegung zu zerschlagen. Heute ist die Zahl der Aktivisten sehr viel höher als in den 60er und 70er Jahren.

Welche Rolle spielt die Industriearbeiterschaft in diesem Prozess?
Der Großteil der Industriearbeiter ist arbeitslos. Sie stellten mal 40% der Erwerbstätigen. Heute sind sie unter 20%. Wir dürfen uns die Erwerbslosen nicht als arme Straßenverkäufer vorstellen. Es sind Leute, die in Autofabriken, als Stahlarbeiter, Metallarbeiter und Mechaniker gearbeitet haben.
Eine Sache, die mir aufgefallen ist, ist die Kampfbereitschaft und der hohe Grad an Beteiligung der Frauen dieser ehemaligen Industriearbeiter. Diese Frauen haben mit der Erwerbslosigkeit ihrer Männer noch mehr Verantwortung für die Familien übernommen, weil die Männer ziellos herumhingen, teilweise wegen lang anhaltender Erwerbslosigkeit.
Die Frauen sind die, die sie dazu antreiben, Streikposten zu stehen und mitzumachen, damit sie einen Job kriegen. Denn wenn du nicht auf der Straße bist und bei der Blockade mitmachst, wirst du keinen Job kriegen, wenn die Versammlung zusammentritt.
Die Massenaktionen und massiven Konfrontationen haben mehr dazu beigetragen, die Regierung und den politischen Diskurs im Land zu verändern, als alle Generalstreiks und symbolischen Proteste der Gewerkschaften in den letzten fünf bis zehn Jahren zusammengenommen. Die Generalstreiks sind wichtig, wenn sie einen sozialen Gehalt haben — wenn Arbeiter die Fabriken besetzen und in Konfrontation zur Regierung gehen.
Das haben die Erwerbslosenbewegungen getan. Es sind verzweifelte Menschen. Es sind keine Arbeiter mit einem Job, die gegen bestimmte Verschlechterungen kämpfen. Sie haben alle ihre Ersparnisse verloren. Sie sind seit Ewigkeiten aus der Arbeitswelt draußen. Viele von ihnen haben seit Monaten kein Fleisch mehr gesehen. Das ist eine Masse von Verzweifelten, die über Klassengrenzen hinausgeht, die aber Klassenforderungen artikuliert.

Welche Perspektiven gibt es für politische Organisierung?
Das organisierende Prinzip des Kampfs war der Hunger. Das hat die Plünderung der Supermärkte im Dezember entfesselt und die Organisierung der Straßenblockaden vorher. Es war ein Überlebenskampf um Jobs — selbst schlecht bezahlte öffentliche Arbeiten für 200 Dollar im Monat — und für Essen. Hier ist ein Land, das führender Fleisch- und Getreideproduzent in der Welt ist, und seine Arbeiter haben Hunger. Sie haben kein Fleisch, sie haben keine Pasta, sie können ihren Kindern nichts zu essen geben — und sie sehen wie die Züge Zehntausende Tonnen Fleisch nach Buenos Aires fahren, damit sie nach Europa verschifft werden.
Außerhalb dieses Kampfs haben andere Arbeiter, die sich in einer besseren Situation befinden, mit gewerkschaftlicher, auch politischer Erfahrung, angefangen, andere Forderungen zu erheben, strukturelle Forderungen wie die Verweigerung der Schuldenzahlung, umfangreiche öffentliche Investitionen und die Renationalisierung der strategischen Industrien. Hier gibt es ein Bewusstsein über die Notwendigkeit struktureller Veränderungen, die man antikapitalistisch nennen kann.
Und dann gibt eine Schicht von Aktiven, die Vorstellungen von Sozialismus und Revolution hat.
Während die Regierung weiterhin versucht, Maßnahmen zur Verbesserung der Lage zu umgehen, rückt der politische Diskurs in den Mobilisierungen immer weiter nach links. Vor einem Monat war die Forderung nach Schuldenstreichung noch eine Forderung der Linken. Heute ist sie in aller Munde. Die Renationalisierung der strategisch wichtigen Industrien hatte nur eine kleine Anhängerschaft. Heute schließen sich ihr Zehntausende an. Die Kontrolle der Banken war nur für eine Minderheit Thema. Heute vertritt das eine Mehrheit. Die gesamte Debatte hat sich nach links verlagert, und linke Ideen gewinnen wieder Oberwasser.

Aus: Green Left Weekly, 16.Januar 2002. James Petras ist Autor zahlreicher Bücher über Lateinamerika, und Mitarbeiter verschiedener angelsächsischer sozialistischer Publikationen.



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