SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar, Seite 17

Radikalisiertes Kleinbürgertum

Über Parallelen und Unterschiede von Islamismus und Faschismus

Der Terroranschlag vom 11.September auf das World Trade Center hat, wie zuvor schon die verschiedenen blutigen terroristischen Anschläge von Islamisten etwa in Ägypten oder Algerien, die Frage aufgeworfen, ob der Islamismus eine neue Form des Faschismus sei oder welche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Bewegungen bestehen.
In der Tat gleicht der Anschlag in seiner Menschenfeindlichkeit — unterschiedslos viele Unbeteiligte ohne direkten Grund in den Tod reißen und dadurch Furcht und Schrecken verbreiten zu wollen — Anschlägen faschistischer Gruppen, etwa dem auf den Bahnhof von Bologna. Einige, die den Islamismus in die Nähe des Faschismus rücken, gingen sogar so weit, die militärischen Aktionen der USA und der NATO zu rechtfertigen, da ja (so die historische Parallele) die Linke auch den Kampf der Alliierten gegen Nazi-Deutschland (und die Zusammenarbeit der Sowjetunion mit den Westmächten) unterstützen hätte müssen. Manchmal wird außerdem der Hass der Islamisten auf Israel mit dem Antisemitismus der Nazis in Verbindung gebracht.
Beim Islamismus handelt es sich — und dies ist zunächst der tiefgreifendste Unterschied zu den alten und neuen faschistischen Gruppen und Bewegungen im Westen mit ihrer nationalistischen und imperialistischen Ideologie und Praxis — um eine soziale Bewegung und Ideologie einer bestimmten Region der Dritten Welt. Er stößt in vielen Ländern deswegen auf so starke Resonanz, weil das Gefühl der Ausbeutung und Demütigung durch Kapitalismus und Neokolonialismus, aber auch durch die mit dem Westen verbundenen, in der Regel durch und durch korrupten Regime, in den meisten muslimischen Ländern zu einer Abwehrbewegung führen, die sich Elementen der islamischen Religion und Kultur zur Manifestation ihrer (anderen) Identität bedient.

Weltwirtschaft und Nation

In den meisten dieser Länder wurde der Prozess des Aufbaus einer eigenen Nation durch den (post)kolonialen Kapitalismus behindert und verzerrt. Außerdem diskreditierten sich diejenigen politischen Kräfte, die in den 50er und 60er Jahren das "nation-building" (die Bildung einer Nation) vorantreiben wollten (zumeist die höheren Schichten von Bürokratie und Armee), durch ihre dünkelhafte Staatsgläubigkeit und die Zurichtung und Unterdrückung der "archaischen" Zivilgesellschaft (Ägypten, Syrien, Irak usw.).
Diese Konfrontationsstellung zwischen "Nord" und "Süd" und zwischen Staat und "teilmodernisierter" Gesellschaft wurde in den letzten Jahrzehnten durch den kapitalistischen Globalisierungsprozess verstärkt, da die neuen Medien den riesigen und wachsenden Abstand zwischen den verschiedenen "Lebenswelten" erst richtig ins Bewusstsein gerückt haben. In den autoritär regierten Staaten der islamischen Welt ist eine kritische Öffentlichkeit in der Regel fast unmöglich. Daher bildet sich in den Moscheen häufig eine Art "Ersatzöffentlichkeit" als spezifische Form der Zivilgesellschaft gegen die (häufig mit dem Imperialismus verbundenen) autokratischen Regime.
Die islamistische Bewegung entwickelte sich sowohl in den 30er wie seit den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts im Rahmen und unter Bedingungen der krisenhaften internationalen Wirtschaftskonjunktur und des vorgegebenen "Zeitgeistes". Sie umfasste sowohl liberale wie konservative und rechtsextreme Strömungen. (In einigen Fällen, besonders Algerien und dem Iran, gab es jedoch auch eine islamische Linke, die sich z.B. auf Theoretiker einer "Befreiungstheologie" wie Sariati stützte!) Die Frage der Gewaltbereitschaft islamistischer Gruppen wurde und wird wesentlich von der staatlichen Repression im jeweiligen Land bestimmt. (Dies gilt im Übrigen auch für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern.)
Die erste Ähnlichkeit zwischen Faschismus und Islamismus besteht in der Tatsache, dass es sich bei beiden Bewegungen um Produkte einer tiefen Wirtschaftskrise handelt, die sich in Ländern der Peripherie naturgemäß noch viel verheerender auswirkt, da dort ein soziales Sicherungsnetz praktisch nicht existiert. Das Wiederauftauchen islamistischer Gruppen in Ägypten seit Anfang/Mitte der 70er Jahre z.B. ist (abgesehen von den Folgen der schmählichen Niederlage im Krieg gegen Israel 1967) eindeutig auf den massiven Einbruch der Exportmöglichkeiten und der explosionsartig steigenden Verschuldung des Staates zurückzuführen.
So konnte der Staat einerseits seine Anstellungsgarantie für Akademiker nicht mehr aufrecht erhalten, andererseits zog er sich mehr und mehr aus sozialen Feldern (Schule, Hospitäler, Kindergärten, Altenbetreuung) zurück, in denen die Islamisten dann ihre Tätigkeit als eine Art "Gegengesellschaft" entfalteten. Es kam zu einer eigenartigen Verbindung von "verhinderten Aufsteigern" und vom Land vertriebenen armen Bauern, die die explosionsartig wachsenden Slums (ohne Infrastruktur) der Großstädte bevölkerten. Überhaupt steht die Erfahrung der Landflucht und Migration mit ihren enttäuschten Erwartungen (vom Land in die Stadt, aber auch als Gastarbeiter in die ölexportierenden Staaten) am Ursprung vieler Radikalisierungsprozesse.

Kultur und Religion

Bei beiden Bewegungen handelt es sich um Bewegungen des radikalen Kleinbürgertums (Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Journalisten, Händler), das sich durch die Krise in seinen Zukunftserwartungen betrogen sieht. Doch findet der Islamismus in ganz eigener Weise auch bei den stark religiös geprägten subproletarischen Massen Gehör. Hier gilt Marx‘ Diktum in besonderem Maße, wonach die Religion "der Seufzer der bedrängten Kreatur" ist. In einigen Ländern (Iran) fällt dem traditionellen Markt (Basar) eine überaus wichtige Rolle zu, da sich aus solchen Kreisen häufig auch die (niederen) Kleriker rekrutieren. Als soziale Bewegung ist der Islamismus somit erheblich breiter und unstrukturierter als der Faschismus.
Auch zwischen den wichtigsten Ideologen der beiden Bewegungen gibt es strukturelle Ähnlichkeiten. Es ist vielfach dargestellt worden, welche Rolle die "konservative Revolution" (von den Bruck, Spengler, Jünger, Schmitt) in der Überwindung der passiven Hinnahme des als "kultureller Verfall" interpretierten Zustands der deutschen Nation gespielt hat. Dasselbe lässt sich von den wichtigsten Theoretikern des Islamismus, Maududi, S.Qutb und Khomeini sagen, die dem kontemplativen Charakter des (nicht nur islamischen) Konservatismus (der nicht aktiv wird, weil er auf den "Erlöser" wartet) ihren aktivistischen Politikansatz entgegenstellten. Nun wird der Erlöser als "Führer" bereits im Diesseits gefunden. Ähnlich den Intellektuellen der "Konservativen Revolution" blieben die Theoretiker des Islamismus in der Gewaltfrage zumeist zweideutig. Doch zumindest Teile der Anhängerschaft griffen zur modernen Technologie, um ihr rückwärtsgewandtes Ideal herbeizuschießen oder zu -bomben.
Zweitens spielt der Krieg und seine Rolle bei der Sozialisation von Männern in beiden Bewegungen eine zentrale Rolle. Sowohl die Banden des italienischen Faschismus wie die deutschen Freikorps waren Männerbünde, die nach dem (verlorenen) Krieg, in dem sie unvorstellbare Gräuel erlebt bzw. erzeugt hatten, allergrößte Mühen hatten, ins zivile Leben zurückzukehren (wo übrigens Frauen viele Tätigkeiten übernommen hatten). Das Gefühl, von der Politik "verraten" worden zu sein (Dolchstoßlegende), paarte sich mit der Ablehnung des "Schandfriedens von Versailles" und der Vorstellung, durch eine "männliche Tat" den als Niedergang empfundenen Zustand der Nation ändern zu müssen.
Auch im (radikalen) Islamismus spielte der Afghanistan-Krieg eine überaus wichtige Rolle; nicht nur kämpften fast 100.000 junge Männer aus allen muslimischen Ländern in den Reihen der Mudjaheddin gegen die Truppen der Sowjetunion und der afghanischen Volkspartei, nicht nur hatte dieser Krieg unübersehbare Auswirkungen auf die Brutalisierung des Verhaltens im Land und anderenorts, auch in den Herkunftsländern spielten die Afghanistan-Kämpfer eine erhebliche Rolle beim Übergang von islamistischen Gruppen zu Bewaffnung und Terror. Der Krieg wurde als Chance gesehen, mittels Gewalt zu einer Erneuerung der dekadenten Gesellschaften zu gelangen.
Das beste Beispiel ist Bin Laden und seine Al-Quaida-Organisation selbst, wobei die Manipulation dieser Gruppe durch den saudischen und pakistanischen Geheimdienst auf die mehr oder weniger große Zusammenarbeit von bestimmten Regierungen mit islamistischen Gruppen (gegen Linke und Nationalisten) und das Feedback aus den USA verweist. Auch hier gibt es Ähnlichkeiten mit Europa, wenn man an die Unterstützung denkt, die faschistische Gruppierungen schon recht früh von Teilen der Bourgeoisie erfahren haben. Auch der Einsatz gegen linke Kräfte (besonders an den Universitäten) stellt eine Gemeinsamkeit dar, selbst wenn die arabische Linke natürlich nie auch nur annähernd die Stärke der europäischen Arbeiterbewegung erreicht hat.

Antimodernismus

Drittens geht es im Faschismus wie Islamismus um die Bekämpfung von "westlichen Werten" (Liberalismus, Sozialismus und Demokratie), die Ausdruck eines Säkularisierungsprozesses sind und als eigentliche Urheber des Niedergangs (der Nation bzw. der islamischen Welt) ausgemacht werden. Oswald Spengler machte den "Untergang des Abendlands" zu einem geflügelten Wort. Ihm zufolge habe die französische Revolution die entscheidende Etappe im Niedergang des Westens dargestellt. Goebbels erklärte nach der Machtergreifung der Nazis: "Nun wird das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen!"
Spätestens seit dem 18.Jahrhundert entstanden in der muslimischen Welt Gruppen, etwa die Wahhabiten in Arabien, die den Niedergang des Islam beklagten und ihn auf "Verunreinigungen" zurückführten. So säuberten sie dann die heiligen Städten in Mekka und Medina von den zahllosen Kalifengräbern und Zeugnissen des Volksglaubens, um den richtigen Elan für einen erneuten Aufstieg der islamischen Welt zu gewinnen.
So wie der Faschismus im Führer- und Ständestaat das Mittel der Rettung der Nation erblickt, der die neue Größe eines "tausendjährigen Reiches" folgen soll, so sieht der moderne Islamist im von dem indischen Moslem Maududi in den 40er Jahren erstmals theoretisierten und von Khomeini in die Tat umgesetzten "Gottesstaat" unter Kontrolle der (obersten) Kleriker das Mittel, wodurch das Zeitalter der "Unwissenheit", wie es vor Mohammeds Einzug in Medina herrschte, überwunden werden könne. Die Durchsetzung von Koran (der letzten und somit größten Offenbarung) und Sunna soll zu einer neuen Einheit von Mensch und Welt führen und damit die Grundlagen für einem neuen Aufstieg der islamischen Welt zu historischer Größe legen.
Für beide Bewegungen setzt die politische Rekonversion auch eine moralische Kehrtwende voraus. Während die Nazis gegen die verderbte Moderne die bäuerliche Familienidylle (Scholle) als "natürliche" Leitlinie propagierten, kämpfen die Islamisten für eine Stärkung der Familie und für polarisierte Geschlechterrollen, um die Gesellschaft von westlichen Einflüssen zu befreien. Denn der Westen verfolge das Ziel, die islamischen Gesellschaften moralisch zu korrumpieren. So erklärte der frühere Generalsekretär der vom Iran unterstützten libanesischen Hizbollah, Subi al-Tufaili:
"Die Familie war ein Fundament. Heutzutage lösen sich diese Bindungen auf, unter dem Deckmantel der Freiheit. Es gibt Familien, in denen die Kinder ohne Vater aufwachsen. Nicht dass er geschieden ist oder gestorben wäre, nein, er ist nicht bekannt! So wie bei den Tieren. Und die Kirche [sic] erlaubt die Heirat unter Männern und Frauen. Das ist sehr gefährlich. Noch merken wir die Auswirkungen nicht, aber in Zukunft wird die Menschheit sehr beängstigende Dinge erleben. Der Ursprung dieses Ganzen ist der Westen. Und der Rest der Welt ahmt diesem Westen nach. Ich glaube, diese Menschen denken nicht nach, sie benutzen ihren Verstand nicht . Der Westen ist wie ein Meister. Und wenn der Meister lasterhaft und verdorben ist, dann werden es die Schüler auch sein." Wie in der Lehre der Faschisten (zumeist aber ohne den sozialdarwinistischen Rassismus mit seinen "Zuchtlehren") glaubt man an eine "naturgegebene bzw. göttliche" Zuordnung von Geschlechterrollen und eine zwischen den Geschlechtern vorgegebene Arbeitsteilung. Darin kann man eine Idealisierung bäuerlicher Lebensweisen in Zeiten tiefgreifender "Enttraditionalisierung" sehen.
Der Islamismus stellt eine reaktionäre und bisweilen totalitäre Bewegung dar, die nicht militärisch, sondern politisch bekämpft werden muss. Dazu muss sich die Linke mit aller Kraft für die Durchsetzung demokratischer und sozialer Rechte der Menschen "von unten" engagieren und darum kämpfen, den gesellschaftlichen und kulturellen Einfluss der Religiösen zurückzudrängen, ohne sich in eine direkte Konfrontationsstellung mit den religiösen Gefühlen der Massen zu begeben.

Paul Kleiser

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