SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2002, Seite 2

Nationaler Befreiungskampf?

Betr.: Interview zu Kaschmir mit Faroog Tariq, SoZ 1/2002

Ich möchte der Sichtweise von Faroog Tariq eindeutig widersprechen. Seine Konstruktion des Widerstandes in Kaschmir als "nationaler Befreiungskampf" erscheint mir als nicht sehr zutreffend: Es gibt keine indische Nation, die eine kaschmirische Nation unterdrückt. Indien ist seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden ein multikulturelles, multisprachliches und multireligiöses Land. Für jeden Inder ist es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass die eigene Sprache und Schrift in anderen Landesteilen nicht oder nur teilweise verstanden wird. Religiöse Minderheiten, wie etwa die Christen, Jains, Sikhs oder Parsen zählen in der Regel eher zu den reicheren, herrschenden Schichten. Ebenso sind die in Indien lebenden Moslems voll gesellschaftlich integriert und stellen keineswegs eine unterdrückte Minderheit dar. Jeder Versuch, die herrschende Klasse inklusive ihrer korrupten und mafiosen PolitikerInnen einer bestimmten Sprache, Religion oder Region zuzuordnen, muss an der Realität der indischen Gesellschaft scheitern.
Um das Konstrukt des nationalen Befreiungskampfes plausibel zu machen, formuliert Tariq: "Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung Indiens vereinbarte der britische Imperialismus mit der indischen Kongresspartei wie auch mit der Muslim League, dass die Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit zu Pakistan, die anderen zu Indien geschlagen werden sollten." Diese Aussage suggeriert, dass dieser Teilungsplan der ehemaligen britischen Kronkolonie vernünftig und gerecht gewesen wäre. Eine solche Auffassung ist blauäugig und ignoriert völlig die historischen Ereignisse. Ich halte es lieber mit Gandhi, der strikt gegen die Teilung des Landes war und zu Recht die Katastrophe vorhergesehen hatte, die tatsächlich passierte. Kreuzten sich die Flüchtlingsströme der Hindus und Moslems, kam es zu den grauenhaftesten Massakern der indischen Geschichte. Das Resultat der Teilung war auch die absurde Konstruktion eines West- und Ostpakistans (heute Bangladesh). Als 1970 im ehemaligen Ostpakistan die Awami-Liga die Wahlen gewann und einen eigenen Staat anstrebten, fielen westpakistanische Truppen ein und richteten Blutbäder unter der Bevölkerung an. Ein weiteres Resultat der Teilung war die explosionsartige Anschwellen der Einwohnerzahl von Kalkutta (hier hin flüchteten die Hindus aus Ostpakistan) mit seinem für europäische Verhältnisse unvorstellbarem Massenelend. Sich positiv auf den Teilungsplan zu beziehen, und Indien vorzuwerfen, im Falle Kaschmirs wäre dieser Plan nicht sauber vollzogen worden, ist einigermaßen absurd.
Natürlich liegt es mir fern, die Maßnahmen der indischen Regierung irgendwie gutzuheißen. Der Einsatz indischer Soldaten, die vor allem aus der Gruppe der Sikhs stammen, kann, wie jeder Truppeneinsatz nur negative Auswirkungen haben. Ebenso die Weigerung, die Unabhängigkeit Kaschmirs nur in Erwägung zu ziehen. Doch bevor großspurig vom nationalen Befreiungskampf gesprochen wird, wäre es einmal notwenig darzustellen, worin denn nun die Unterdrückung der Kaschmiri eigentlich bestehen soll. Wird ihnen der Gebrauch ihrer Sprache verboten, die Ausübung ihrer Religion, sind sie Menschen zweiter Klasse? Ist ihnen die Karriere in der indischen Gesellschaft und vor allem im Staatsapparat verwehrt?
Aus meiner Erfahrung in Indien kann ich nur sagen, dass jede Analogbildung, etwa mit der Situation der Kurden in der Türkei oder der Tamilen in Sri Lanka keine Grundlage hat. Tatsächlich würde es den Konflikt nicht, oder zumindest nicht in dieser Form geben, würden nicht Pakistan ständig danach streben, Kaschmir einzugliedern.

Karl Reitter (Wien)

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