SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2002, Seite 10

Patchwork Europa

Sind die sozialliberalen Regierungen des europäischen"Dritten Wegs" ein Auslaufmodell?

Die Stirn in tiefe Sorgenfalten gelegt, ermahnte Joschka Fischer seine Mitstreiter auf der grünen Bundesdelegiertenkonferenz in Rostock am 24.11.2001: Mit Blick auf die politische Gestaltung Europas dürften die Grünen sich nicht aus der Regierung verabschieden. Dann überlasse man ganz anderen die Gestaltung der Politik: "Unter Haider, Berlusconi, jetzt Rasmussen in Dänemark und vielleicht bald Stoiber in Deutschland" würde Europa ganz anders aussehen.
Nur ein halbes Jahr zuvor hatte Bundeskanzler Gerhard Schröders Intimfreund Tony Blair noch rosigere Perspektiven vor Augen: "Von Lateinamerika über Europa bis zu vielen Regionen Asiens übt die Idee des Dritten Weges einen großen Einfluss auf die Weltpolitik aus. Parteien und Regierungen, die um eine Sinngebung in der neuen Welt ringen und gleichzeitig entschlossen sind, weiter an die soziale Gerechtigkeit zu glauben, beschreiten diesen Dritten Weg — nur so können sie ihre Politik erneuern und trotzdem an ihren Grundwerten festhalten. In den meisten Fällen ist es gelungen."
Wie schon oft in der Vergangenheit enthält Joschka Fischers Mahnung durchaus einen politischen Weitblick, der vielen anderen Zeitgenossen abgeht. Doch könnte es sein, dass der Aufstieg neuer rechter Mehrheiten in der Europäischen Union gerade durch die Politik der "Mitte-Links"- Regierungen verursacht wird? Bisweilen hilft es ja, sich einfach zu erinnern.
Seit Mitte der 90er Jahre setzte in der EU eine Renaissance der Sozialdemokratie zunächst von den Rändern her ein (Italien, Portugal, Halten der Bastionen in den skandinavischen Ländern). Auf den Wahlsieg von Tony Blairs New Labour folgte jener der pluralen Linken in Frankreich 1997. Mit dem Erdrutschsieg für Rot-Grün bei der Bundestagswahl 1998 war die letzte wichtige Bastion konservativer Vorherrschaft in den Kernländern Europas gefallen. Nur noch zwei von fünfzehn Mitgliedstaaten der EU wurden nun nicht von "Mitte-links"-Koalitionen geführt, in denen sozialdemokratische Parteien eine wichtige Rolle spielten. Mit diesen Mehrheiten in Europa — so hofften viele in den Gewerkschaften, den sozialdemokratischen Parteien, im Umfeld von Grünen und Postkommunisten — könnte der bisherige neoliberale Kurs der EU verändert und den Themen "soziale Gerechtigkeit" und "Beschäftigung" mehr Geltung verschafft werden. Die Aufnahme eines Kapitels zur Beschäftigungspolitik im Amsterdamer EU-Vertrag 1997 galt vielen aus diesem Spektrum als Ausgangspunkt eines möglichen Politikwechsels zum "sozialen Europa".

1998: Das Wetterleuchten von Pörtschach

Für einen kurzen Moment blitzten die Konturen einer neokeynesianischen Agenda für Europa auf: Ausgangspunkt war der informelle EU-Gipfel in Pörtschach in Österreich im Sommer 1998, an dem Gerhard Schröders Mannschaft nach dem rot-grünen Wahlsieg bereits teilnahm, noch bevor die offizielle Regierungsbildung eingeleitet wurde. In einem wilden Brainstorming diskutierten die europäischen "Mitte-Links"-Regierungschefs die Möglichkeiten einer alternativen Politik. Viele bezogen sich auf die Pläne des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors, eine "Wirtschaftsregierung" in der Europäischen Union zu begründen. Sie sollte ein Gegengewicht zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank schaffen und die Entwicklung des EU-Binnenmarkts mit dem Anliegen sozialer Mindeststandards und des gesellschaftlichen Zusammenhalts verkoppeln.
Oskar Lafontaine warb für eine neue internationale Finanzarchitektur mit Wechselkurszielzonen und eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik in der Währungsunion. Die Europäische Zentralbank sollte die Zinsen senken und eine weniger rigide Antiinflationspolitik verfolgen. Die Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten sollten eher in mittelfristiger Perspektive abgebaut werden, statt auf einen drastischen Austeritätskurs zu setzen. Der französische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn brachte neue Infrastrukturprojekte zur Beschäftigungsförderung ins Gespräch. Romano Prodi und Massimo D‘Alema aus Italien schlugen schließlich vor, die überschüssigen Gold- und Devisenreserven der EU-Zentralbanken für die Schaffung von Arbeitsplätzen einzusetzen. Selbst die beschäftigungspolitisch aufgeschlossene Große Koalition aus Österreich, sowie die sozialdemokratisch geführten Regierungen aus den skandinavischen Ländern und den Niederlanden fanden diese Ideen interessant.
Nach Einschätzung des US-amerikanischen Politik- und Sozialwissenschaftlers Norbert Birnbaum (Die Woche, 26.3.1999) verfügte vor allem Oskar Lafontaine über ein europapolitisches Alternativkonzept, das dem neoliberalen Projekt aus der Ära Helmut Kohls durchaus ebenbürtig und in sich schlüssig war. Es handelte sich zwar nicht um eine sozialistische, sondern um eine neokeynesianische Programmatik — aber diese hätte im Alltagsleben der Menschen in Europa einen merklichen Unterschied zur vorangegangenen Ära bewirkt.
Das wilde Brainstorming der Mitte-Links-Regierungshäupter von Pörtschach führte allerdings nicht zu entsprechenden Taten. Im Gegenteil: "Die Franzosen hielten sich auffällig zurück", so Birnbaum, "die Briten zeigten höfliche Feindschaft, die Vereinigten Staaten offene Verachtung." Das von Lafontaine angestrebte strategische Bündnis zwischen der Gauche Plurielle in Frankreich und Rot-Grün in Deutschland kam nicht zustande — und so konnten auch die anderen Mitte-Links-Regierungen in der EU nicht von einem deutsch-französischen Tandem mitgezogen werden.

Die "Mitte-Links"-Strategie in der EU

Aus einer Gemengelage von innenpolitischen Widerständen in Deutschland ("Aufstand des Kapitals" gegen Steuerreform und Neuregelung der 630-DM-Jobs), offenen Differenzen zwischen französischem und britischem Weg und der deutlichen Abneigung von Clintons New Democrats gegenüber einem Kurswechsel bei weltwirtschaftlichen Fragen ging letztlich die Strategie des "Dritten Wegs" gestärkt hervor. Dabei ging es nicht mehr um einen alternativen Weg zum westlichen Kapitalismus und zum östlichen Staatssozialismus, für den die Formel vom "Dritten Weg" in den 60er und 70er Jahren stand. Der Anspruch war vielmehr, die "Herausforderungen der Globalisierung" auf dem Boden der von der neoliberalen Revolution geschaffenen Verhältnisse anzunehmen und den Sozialstaat in einer Weise daran anzupassen, dass Wettbewerbsfähigkeit und Flexibilisierung mit einem Minimum an sozialer Sicherheit verknüpft würden.
Der neue Kommissionspräsident Romano Prodi suchte auf internationalen Foren zur Progressive Governance den Schulterschluss mit Clinton, Schröder, Blair und D‘Alema. Das Schröder-Blair-Papier lieferte einen weit beachteten Aufschlag für diese neue Richtung. Ergänzend warben das Blair-Aznar-Papier für weitere Liberalisierungsschritte im EU-Binnenmarkt und das Blair-D‘Alema-Papier für eine tiefgreifende Flexibilisierung der Arbeitsmärkte in Europa. Lafontaines europäischer Neokeynesianismus geriet endgültig aufs Abstellgleis — der Dritte Weg triumphierte in Europa.
Tony Blair hat den gemeinsamen Nenner des politischen Anspruchs der unterschiedlichen nationalen "Mitte-Links"- Modelle in der EU treffend charakterisiert: "Es handelt sich dabei nicht um einen dritten Weg zwischen konservativer und sozialdemokratischer Philosophie. Vielmehr handelt es sich um eine erneuerte Sozialdemokratie . In Wahrheit stehen wir vor einer neuen Wirtschaftspolitik, die scharf trennt zwischen Mitte-Links und Rechts. Effiziente Märkte sind die Vorbedingung für eine erfolgreiche Wirtschaft. Die Frage ist nicht, ob es sie gibt, sondern wie man den Einzelnen befähigt, darin erfolgreich zu sein." Und: "Diese Politik steht nicht für starre Modelle von Staatseigentum oder gesetzlicher Vorsorge. Sie zeigt sich pragmatisch, ob nun öffentliche oder private Mittel die beste Lösung bieten."
Spätestens mit den Beschlüssen des Lissaboner EU-Gipfels im Jahr 2000 ist der Dritte Weg zur dominanten Strategie in der EU geworden. Die Lissaboner Strategie beruht auf der Idee eines "politischen Dreiecks", das von den kohärent aufeinander abgestimmten Seiten der Wirtschaftspolitik, der Beschäftigungspolitik und der Sozialpolitik gebildet wird. Ihr übergreifendes Ziel ist, Europa bis 2010 zur "dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Ökonomie der Welt" zu machen, mit durchschnittlich 3% Wirtschaftswachstum pro Jahr und "Vollbeschäftigung" . Mit den EU-Gipfeln von Stockholm und Göteborg 2001 wurde sie sogar um eine "Umweltdimension" erweitert.
Die europäische Wirtschaftspolitik bewegt sich allerdings innerhalb des neoliberalen Paradigmas: Vorrang für den Kampf gegen die Inflation, einen zügigen Abbau der Staatsverschuldung und moderate Lohnpolitik, Liberalisierung und Privatisierung weiter vorantreiben und vertiefen (Postdienste, Luftverkehr, Eisenbahn, ÖPNV, Energiemärkte etc.), einen EU-Binnenmarkt für Dienstleistungen schaffen. Hinzu kommen Initiativen für eine New Economy nach dem Vorbild der USA. E-Commerce und Internetökonomie sollen viele neue Arbeitsplätze schaffen. Ein integrierter europäischer Finanzmarkt, größere Risikokapitalmärkte und flexiblere Arbeitsmärkte sollen gute Bedingungen für innovative unternehmerische Initiative herstellen. Durch das Zusammenwachsen von Informations- und Kommunikationstechnologien, Gentechnik, Nanotechnologie und Bioninformatik sollen starke Wachstumsimpulse für eine neue Serviceökonomie und für neue Produktmärkte erzeugt werden.

Weltweite Rezession als Überraschung

Die Lissabon-Strategie ist klar gescheitert. Spätestens seit März 2001 ist der US-Wirtschaft der Dampf ausgegangen. Ihre Rolle als Weltkonjunkturlokomotive ist passé, die seit 1995 höheren Wachstumsraten sind wieder im Keller. Die internationalen Wertpapiermärkte haben seit dem Höhepunkt des Booms Kursverluste von 20—30% zu verzeichnen — ein "Crash auf Raten". Schlimmer noch: das Zukunftsprojekt "New Economy" stürzte am härtesten ab. In nur einem Jahr wurde der Gegenwert von rund 3,5 Billionen US-Dollar durch den Kursverfall an der Nasdaq verbrannt. Die Indizes von Nasdaq und Neuem Markt fielen um 65—80% und haben sich seither nicht mehr wesentlich erholt. Die Hoffnungen auf die "Internetökonomie" als Jobknüller haben sich nicht erfüllt.
Inzwischen befinden sich die USA, die EU und Japan gleichermaßen in einer Rezession. Eine schnelle Rückkehr zu Wachstumsraten von 3% ist ebenso unwahrscheinlich wie ein traditioneller, exportgestützter Aufschwung der EU-Wirtschaften (vgl. dazu v.a. Robert Brenner, "Die weltwirtschaftliche Rezession beginnt: Eine Diagnose", in: Sozialismus, Nr.2, 2002). Für letzteres fehlen derzeit die internationalen Absatzmärkte. In Kernländern der EU wie Deutschland steigt die Zahl der offiziell gemeldeten Arbeitslosen wieder. Das Konzept "Vollbeschäftigungskurs durch Wirtschaftswachstum" ist nicht aufgegangen.
Für den Verlust der Hegemoniefähigkeit der Mitte-Links-Regierungen ist zudem ein eher schleichender Prozess verantwortlich. Unter dem Leitbild des "aktivierenden Sozialstaats" wurde zwar volltönend "Sicherheit im Wandel" versprochen. Die Kernbotschaft lautete allerdings: Man muss die Menschen zur Eigenverantwortung erziehen, sie "aktivieren", denn es gibt kein "Recht auf Faulheit".
In dieser Logik verliert die Sozialpolitik ihre eigenständigen Ziele: die Autonomie der Betroffenen zu sichern und soziale Risiken und Unsicherheit zu beschränken. Mit dem Konzept der Förderung der "Beschäftigungsfähigkeit" wurde die Verantwortung für Aus- und Weiterbildung zunehmend von den Unternehmen auf den Staat verschoben. Der pochte seinerseits wieder auf die Eigenverantwortung der Individuen. Die sozialen Minima, wie z.B. die Sozialhilfe in Deutschland, wurden auf einem Niveau unterhalb der Armutsschwelle eingefroren. Der Zugang zu Leistungen wurde verschärft. Eurostat (das Statistikamt der EU) definiert die Armutsschwelle bei 50% oder 60% des Durchschnittseinkommens im jeweiligen Mitgliedstaat. Die durchschnittlichen Einkommen aus der sozialen Basissicherung liegen in Großbritannien jedoch nur bei 18%, in Portugal bei 22%, in Frankreich bei 27%, in Belgien bei 34% und in Deutschland bei 33% des jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommens.
Im unteren bis hinein in den mittleren Bereich der europäischen Arbeitsmärkte finden viele fast nur noch einen Zugang über "besondere Beschäftigungsformen": Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, geringfügige Beschäftigung, Leih- und Zeitarbeit. Sie werden sowohl durch Zwang (Welfare to Work) als auch durch steuerliche Instrumente und eine Subventionierung der Lohnnebenkosten flankiert. Als Folge der Aktivierungspolitiken herrscht vor allem im unteren Segment ein harter Konkurrenzdruck für Arbeitsuchende wie Beschäftigte.

Der Abstieg von Mitte-Links

Angesichts dieser Sachlage und ihrer spürbaren Auswirkungen im Alltag, wird der frohen Botschaft von der Sicherheit im Wandel in den unteren Einkommensschichten immer weniger Glauben geschenkt. Dass Europa beim mobilen Internet Spitze sein könnte oder bei der Gentechnologie aufholt — das geht dem durchschnittlichen Industriearbeiter oder der Verkäuferin am Arsch vorbei. Die Sozialdemokratie hat damit quer durch Europa zusehends Probleme, diesen Teil ihrer Stammwählerschaft an die Urnen zu bringen. Dies machte die gesellschaftliche Basis der Mitte-Links-Bündnisse brüchig. Das Versprechen stabiler Verhältnisse für die Leistungsträger der "Neuen Mitte" — vom Multimediafreak über den Ingenieur bis runter zum qualifizierten Facharbeiter — hat sich angesichts der weltweiten Rezession ebenso als Illusion erwiesen.
Von den Rändern der Europäischen Union her schmilzt vor diesem Hintergrund die Zustimmung zu den Mitte- Links-Koalitionen. Der Wechsel in Österreich von einer Großen Koalition von SPÖ und ÖVP zum Bündnis von FPÖ und ÖVP erschien anfangs noch als Ausnahmefall. Tony Blairs New-Labour-Regierung wurde 2001 zwar wiedergewählt — allerdings recht lustlos und mit der geringsten Wahlbeteiligung in Großbritannien seit 1918.
Im Mai 2001 verlor Italiens Mitte-Links-Koalition die Mehrheit in beiden Kammern des italienischen Parlaments gegen den rechten Block von Berlusconi, Fini und Bossi. Innerhalb des Ulivo-Bündnisses gewannen die Kräfte der bürgerlichen Mitte hinzu. Die Linke (Linksdemokraten, Grüne, PdCI) wurde dramatisch geschwächt. Die Linksdemokraten kamen auf ihr schlechtestes Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte, weil sie die Arbeiterschicht nicht mehr erreichten und Wählerinnen und Wähler an ihre Partner aus der Mitte verloren.
Dies ist nicht weiter verwunderlich: die programmatischen Unterschiede zwischen der Mitte-Links-Regierung und dem Block von Berlusconi, Bossi und Fini waren gering. Alle wollten die öffentliche Verwaltung verschlanken, den Privatisierungskurs fortführen, die Abschiebung von Ausländern erleichtern, den Arbeitsmarkt flexibilisieren und die Löhne nach unten drücken. Berlusconi konnte gegenüber dem Ulivo-Bündnis sogar mit großspurigen Versprechen auftrumpfen, die Renten zu erhöhen, die Staatsschuld zu senken und große öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme aufzulegen. Gerechtfertigte Angriffe auf die kriminellen Machenschaften Berlusconis als Medienzar und "Unternehmer" liefen ins Leere, weil die "Linke" kein alternatives Politikangebot präsentierte. Rifondazione Comunista konnte sich zwar als Oppositionskraft behaupten, aber eine Mehrheitsperspektive für eine von ihrem Frontmann Fausto Bertinotti propagierte "plurale Linke" ist in weiter Ferne.
Auch Italien könnte man als "verrückt", "unberechenbar" und als europäischen "Sonderfall" abtun. Doch im November 2001 verlor ausgerechnet in Dänemark eine Mitte-Links-Koalition aus Sozialdemokraten und Linksliberalen, die von der Sozialistischen Volkspartei und der Rot-Grünen Einheitsliste toleriert wurde. Wahlsieger war eine rechtsliberale Partei, die nun als Minderheitsregierung auf die Unterstützung einer rechtspopulistischen Partei (Dansk Folkeparti) angewiesen ist. Das ist um so bemerkenswerter, als die dänische Mitte-Links-Koalition in der EU als Vorzeigemodell für eine neue Beschäftigungspolitik gehandelt wurde. Ihr gelang es tatsächlich, innerhalb von vier Jahren die offizielle Arbeitslosenquote zu halbieren und die dänische Wirtschaft auf Wachstumskurs zu trimmen.
Das dänische Modell des Wohlfahrtsstaats beruhte in der Nachkriegszeit stets auf einer hohen Flexibilität für die Wirtschaft einerseits (kein Kündigungsschutz für Arbeitnehmer etc.) und einem hohen Niveau sozialstaatlichen Schutzes für Lohnabhängige (bis zu 7 Jahre Arbeitslosengeld etc.) andererseits. Das "Arbeitspflichtmodell" der dänischen Mitte-Links-Regierung hat in mehreren Stufen die sozialstaatlichen Garantien für Erwerbslose und Sozialhilfeempfangende abgeschmolzen — im EU-Vergleich allerdings immer noch auf recht hohem Niveau. Damit hat sich der Konkurrenzdruck im ersten Arbeitsmarkt erhöht. Um "drinzubleiben", wurden zunehmend Flexibilität, Mobilität, Bereitschaft zu Weiterbildung und eigene Qualifizierungsanstrengungen abverlangt. Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung reagierte auf dieses Klima der Unsicherheit mit einer regelrechten Massenpsychose: die Armen und die Ausländer sind Schuld. Dabei hat Dänemark im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur einen geringen Ausländeranteil von etwa 6% der Bevölkerung.
Die regierenden Sozialdemokraten verstärkten diese Stimmungen — die dänische Sozialministerin polterte, künftig alle "Ausländer" auf eine Insel abzuschieben und den Familiennachzug drastisch zu erschweren. Das wiederum goss nur Wasser auf die Mühlen der rechten Opposition, die die Wahlen schließlich gewann. Die linke Sozialistische Volkspartei stellte sich der fremdenfeindlichen Stimmung nicht frontal entgegen und wurde als bloßer Steigbügelhalter der Sozialdemokraten angesehen. Beide verloren, die Sozialdemokraten sogar drastisch. Selbst wenn reale beschäftigungspolitische Erfolge vorzuweisen sind, ist der neusozialdemokratische Dritte Weg im Niedergang — die versprochene "Sicherheit im Wandel" wird von der sozialdemokratischen Stammwählerschaft als ungenügend empfunden.
Insofern werden auch die Wahlen in den Niederlanden im Mai 2002 spannend — dem zweiten "Jobwundermodell" der EU. Die bisherige Koalition aus Sozialdemokraten (PvdA), Rechts- und Linksliberalen (VVD und D‘66) wird sich nicht halten können. Alles ist offen: sowohl eine Koalition aus PvdA, Christdemokraten und Groen Links scheint als Ergebnis der Wahl möglich als auch eine Rechtskoalition aus VVD, Christdemokraten und der rechtspopulistischen Formation Leefbar Nederland.
Bei den Kommunalwahlen in Portugal im Dezember 2001 hat die regierende Sozialistische Partei (PS) von António Gutierres kräftig verloren. Er trat als Ministerpräsident zurück. Auch die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP) verlor ihre ländlichen Hochburgen im Alentejo. Sieger waren die konservativen "Sozialdemokraten" (PSD). Sie gewannen 141 von 308 Kommunen, darunter die vormals von PS und PCP regierte Hauptstadt Lissabon sowie die zweitgrößte portugiesische Stadt, Porto. Für die nationalen Neuwahlen am 17.März 2002 wird mit einem Regierungswechsel zu den Konservativen gerechnet.

Frankreich vor dem Wechsel?

Die französische Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Kommunistischer Partei (PCF) hat stets offizielle Distanz zu Tony Blairs Ideen gehalten. Ihr gemeinsamer Nenner ist der Sozialliberalismus. Die französische Koalition hat in einigen Bereichen deutlich andere Akzente gesetzt als die übrigen Mitte-Links-Regierungen in Europa: das Gesetz über die 35-Stunden-Woche, das Jugendbeschäftigungsprogramm, mehr Mitsprache für Arbeitnehmervertetungen bei Konzernumstrukturierungen. Andererseits hat die Regierung Jospin mehr Privatisierungen öffentlicher Unternehmen durchgeführt als alle konservativen und sozialdemokratischen Vorgängerregierungen zusammengenommen. Ihr Steuersenkungs- und Rentenreformdiskurs ist durchaus vergleichbar mit ähnlichen Vorhaben in anderen Mitgliedstaaten. So steht schon seit einiger Zeit die Frage im Raum, was das weitere politische Projekt der "pluralen Linken" in Frankreich ist.
Die französischen Kommunalwahlen im März 2001 haben offenbart, dass eine neuerliche Mehrheit der bürgerlichen Rechten durchaus möglich ist. Die Regierungslinke gewann zwar die Großstädte Paris und Lyon, war landesweit aber schwächer als die bürgerliche Rechte. Auch Frankreichs Sozialdemokraten haben mit zunehmender Wahlenthaltung ihrer Stammwählerschaft zu kämpfen. Sozialpolitische Erwartungen wurden geweckt, aber aus Sicht der Wählerinnen und Wähler sehr unzureichend eingelöst.
Aus dem wahlpolitischen Nullsummenspiel zwischen der PCF und der aufstrebenden extremen Linken — die PCF verlor, die extreme Linke gewann hinzu — erwächst zusätzlich Gefahr. Und auch Jean-Pierre Chevènements "Republikanischer Pol" wildert mit einer Mischung aus französischem Verfassungspatriotismus und sozialen Versprechen in den Gefilden der bürgerlichen Rechten wie der pluralen Linken. Die Regierung Jospin könnte 2002 ihre Mehrheit auch deshalb verlieren, weil sie den linken Rand nicht mehr einbinden kann. Trotz eines gemeinsamen Wählerpotenzials von 8—12% ist die extreme Linke wiederum nicht in der Lage, ein gemeinsames Alternativprojekt zu formulieren, das perspektivisch zu einem Auffangbecken für die Unterstützer der dahinsiechenden PCF werden könnte. Lutte Ouvrière und LCR treten bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2002 getrennt und gegeneinander an. Geht der Niedergang der PCF weiter, so entsteht eine Leerstelle im politischen System Frankreichs.
So werden die Wahlen in Frankreich vor allem von kurzfristigen politischen Konjunkturen beeinflusst werden. In Umfragen geben rund 60% der Befragten an, dass der Wahlkampf sie nicht interessiert. Zu unklar sind die Unterschiede in den Politikangeboten der bürgerlichen Rechten und der Regierungslinken geworden, als dass eine Polarisierung über grundsätzliche politische Alternativen noch möglich wäre. Die Regierungslinke in Frankreich braucht eine gehörige Portion Glück, um die Parlamentswahl im Juni erfolgreich zu überstehen.
Für Rot-Grün in Deutschland sieht es bekanntlich nicht besser aus. Alles scheint möglich: ein Wahlsieg der Unionsparteien unter Stoiber, eine Große Koalition, eine knappe Mehrheit für eine Ampelkoalition oder ein Bündnis von SPD, Grünen und PDS. Schröders sich so fest im Sattel wähnende "Neue Mitte" ist durch die Rezession und den neuerlichen Anstieg der Arbeitslosenzahlen gehörig aufgemischt.

Perspektive "Eurosklerose"?

Ein buntscheckiges "Patchwork-Europa" aus konservativ-rechtspopulistisch wie mitte-links geführten Mitgliedstaaten entsteht. Die rechten Regierungen — von Berlusconi in Italien, Schüssel in Österreich, Aznar in Spanien und Rasmussen in Dänemark — verfügen über kein gemeinsames politisches Projekt für die Europäische Union. Der kleinste gemeinsame Nenner mit Mitte-Links besteht natürlich in der Fortsetzung des neoliberalen Programms. Tony Blair hat sich mit den neuen Mehrheiten in der EU bereits bestens arrangiert. Zum EU-Gipfel in Barcelona im März 2002 fordert er in einem gemeinsamen Papier mit Silvio Berlusconi einen entschiedeneren Kurs zur Liberalisierung und Deregulierung des EU-Binnenmarkts und zur Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Seine eigene These von der "scharfen Trennung zwischen Mitte- Links und Rechts" hat der geschmeidige New-Labour-Chef damit selbst dementiert. Ansonsten wird sich jedoch in dieser EU eher der Kuhhandel um nationalstaatliche und regionale Partikularinteressen verstärken, wie es sich bereits seit dem EU-Gipfel in Nizza abzeichnet.
Eine neue Epoche der "Eurosklerose" könnte beginnen — mitten in der heißen Phase der EU- Osterweiterung. Die Flaute beim Fortschritt der europäischen Integration von den 70er bis Mitte der 80er Jahre und die teilweise Renationalisierung der Politik waren für die damalige EG verkraftbar, weil es "nur" um eine Wirtschaftsgemeinschaft ging. Doch heute verlangen der Euro als gemeinsame Währung und die Erweiterung eine ambitioniertere gemeinschaftliche Integrationsstrategie, damit die EU oder "Europa" in Zukunft funktionieren kann. Darüber gibt es keinen Konsens und häufig auch kaum schlüssige Konzepte — und zwar fast ohne Ausnahme von ganz rechts bis ganz links.
Der sozialdemokratische Dritte Weg hat seine komfortable Ausgangslage von 1998 in der EU für eine gemeinschaftliche Europastrategie mit 13 Mitte-Links-Regierungen hoffnungslos vergeigt. Blind hat man darauf vertraut, nach der Folie von Clintons Wirtschaftspolitik einen langen Aufschwung in Europa zu erhalten, der die Arbeitslosigkeit von allein abbaut. Mit einer "globalisierungsgerechten" Sozialpolitik unter dem Motto "Fördern und Fordern" glaubte man, im unteren Drittel der europäischen Gesellschaften noch so viel Unterstützung mobilisieren zu können, dass es für eine dauerhafte Mitte-Links-Hegemonie reicht. Selbst in den Aufschwungjahren von 1998 bis 2001 ist dies in den wenigsten Fällen gelungen.
"Der Dritte Weg ist eine Schönwetterformation", schrieb Perry Anderson im Frühjahr 2001 (New Left Review, März/April 2001), "für dessen Leistungsfähigkeit unter viel turbulenteren Bedingungen noch ein Test aussteht." Nach den ersten Zusammenbrüchen in kleinen und mittelgroßen EU-Staaten wird 2002 das entscheidende Testjahr für die Kernländer Frankreich und Deutschland. So oder so wird "Mitte-Links" in Europa geschwächt sein. Für die verbliebenen linken Strömungen in der Sozialdemokratie und die politischen Kräfte links davon gibt es offenbar viel Diskussionsstoff, wie die Perspektive eines "sozialen Europa" oder von "einem anderen Europa in einer anderen Welt" konzeptionell unterfüttert und mit Leben gefüllt werden kann.

Klaus Dräger

Für eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem "Dritten Weg" siehe K.Dräger et al.: Zukunftfähigkeit und Teilhabe. Alternativen zur Politik der rot-grünen Politik der Neuen Mitte, Hamburg 2000.



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