SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2002, Seite 14

Welche Organisationsform?

Selbstverständnis und Handlungsfähigkeit des WSF

Wenn die Charta von Porto Alegre im vergangenen Jahr das Selbstverständnis des Sozialforums definiert hat, das zugleich seine Bewegungsform bestimmt, so richtete sich die Selbstreflexion in diesem Jahr verstärkt auf den Unterschied der neuen Bewegung gegenüber den traditionellen Organisationsformen der Linken und auf das Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und NGOs bzw. Parteien.
Christophe Aguiton machte vier Komponenten des WSF aus: die Gewerkschaften und die alte Linke, die Nichtregierungsorganisationen, die neuen sozialen Bewegungen — die selber eine Antwort auf ein neues Akkumulationsmodell des Kapitals darstellten — und eine neue Generation Jugendlicher. Linke mit Wurzeln in den alten Bewegungen stellen häufig einen Brückenkopf zu den neuen sozialen Bewegungen dar — sofern sie bereit sind, sich auf neue Organisationsformen einzulassen — oder sie stehen an der Spitze von Nichtregierungsorganisationen. Die Verbindung zur Jugend ist schwieriger; Aguiton wies darauf hin, dass die Debatten, die im Zeltlager geführt wurden, auch räumlich wenig Berührung hatten mit denen, die an der PUC geführt wurden.
Wo liegen die Unterschiede zwischen den traditionellen Organisationsformen der Arbeiterbewegung und denen, die heute im WSF ausprobiert werden? Zunächst einmal in der Diversität (Vielfalt) des Forums; an die Stelle des kompakten Körpers einer in großen Gewerkschaften und am liebsten nur einer Massenpartei organisierten Fabrikarbeiterschaft (die parallele Existenz von zwei Massenparteien war Ausdruck einer Spaltung) tritt heute ein aufgesplittertes Subjekt; die Ausweitung der Proletarisierung ist begleitet von einer zunehmenden Verschiedenheit der Existenzbedingungen und der politischen oder sozialen Kulturen, wo sich solche herausbilden konnten.
Einheit gründet nicht mehr auf Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, ist Einheit in der Verschiedenheit, die respektiert werden muss und wird — schon deshalb, weil keine Kraft allein stark genug wäre, die Verhältnisse zu ändern. Es herrscht deswegen das Konsensprinzip, das etwa so definiert wurde: "Worin wir übereinstimmen, das machen wir; worin wir nicht übereinstimmen, diskutieren wir weiter." Die Alianza Social Continental, eine große lateinamerikanische NGO, die die Kampagne gegen ALCA vorbereitet, arbeitet deswegen ein Grundlagendokument in verschiedenen Versionen aus, weil sie die existierenden Unterschiede sichtbar machen will.
Mit dem Konsens geht die Autonomie jeder einzelnen Gruppierung, groß wie klein, einher, selber zu entscheiden, woran sie sich beteiligen will und woran nicht; niemand soll für andere sprechen, die nicht mit ihm einverstanden sein könnten.
Dieses Organisationsprinzip verhindert weder eine erstaunlich breite Palette an Gemeinsamkeiten noch eine Vielzahl gemeinsamer Aktionen. Trotzdem sind die Interessenlagen nicht deckungsgleich und ein kollektives politisches Handeln schwierig.
Es drückt sich in dem Organisationsprinzip ein tiefes Misstrauen gegen überkommene Vertretungsstrukturen (die Delegation von Entscheidungsbefugnissen und Monopolisierung von Informationen) aus. Wahlen und Abstimmungen finden so gut wie nicht statt; abgesehen von den NGOs, die ihre eigenen Strukturen haben, verlaufen die Diskussionen und Entscheidungen unter denen, die da sind bzw. sich für eine Aufgabe melden. Das klappt. Die Abschlusserklärung des Forums der sozialen Bewegungen wurde auf drei Sitzungen unter Beteiligung von jeweils mindestens 200 Leuten abgestimmt. Natürlich gibt es Delegation und damit auch Führung, sie besteht aber nicht in einer Mandatierung per Wahl, sondern in persönlicher Autorität und Anerkennung. Das setzt voraus, dass man sich gut kennt, was durch die Vielzahl der internationalen Treffen erleichtert wird. Der Mechanismus läuft allerdings Gefahr, einen internationalen Reisekader herauszubilden, der seinerseits wieder von der lokalen Realität abhebt.
Konsens bedeutet nicht Harmonie. Es herrschen Spannungen zwischen den sozialen Bewegungen und den NGOs, zwischen den sozialen Bewegungen und den Parteien. Die NGOs sind auf Grund ihres Fachwissens informell sehr dominant; Gigi Francisco (siehe Seite 15) sprach von der Gefahr einer neuen Zentralisierung und einem "digital divide" innerhalb der Bewegung, was man am besten mit Autoritätsgefälle auf der Grundlage von unterschiedlichem Zugang zu (elektronischen) Informationen übersetzen könnte. Die Sprachbarrieren rangieren dabei noch vor dem Umgang mit Computern.
Man kann nicht sagen, es herrsche eine Antiparteienstimmung vor. Aber aus vielen Ländern beklagten VertreterInnen den Mangel der Parteien an Glaubwürdigkeit und ihre Nichtteilnahme am Kampf der sozialen Bewegungen; herausragend seien hier nur Afrika und Argentinien genannt. Das Verhältnis der sozialen Bewegungen zu den Parteien ist historisch sehr unterschiedlich gewachsen; die Probleme scheinen dort am größten, wo Parteien am stärksten in die Staatsmacht integriert sind oder waren und zugleich die sozialen Bewegungen kontrolliert haben oder kontrollieren.
Die Auseinandersetzungen um das Parlamentarierforum und die Einladungen an sozialdemokratische und KP-Minister (vorwiegend aus Frankreich und Italien), die dem Krieg zugestimmt hatten, spitzten das schwierige Verhältnis vorübergehend zu.
Die italienische Delegation organisierte mit Vittorio Agnoletto und Luca Casarini an der Spitze zu Beginn des Parlamentarierforums ein Go-in mit 400 Leuten und forderte zusammen mit brasilianischen und argentinischen Delegierten, auch dieses Forum müsse sich unzweideutig auf die beiden Grundsatzerklärungen des WSF (siehe Seite 12) stellen, wenn es mit Bezug auf das WSF tagen wolle.
Zu Bertinottis Ehren muss man sagen, dass er sich voll hinter die Aktion und die Forderung gestellt hat. Das Parlamentarierforum hat schließlich eine etwas windelweiche Erklärung abgegeben ("Kein Krieg mehr wie in Afghanistan") und diskutiert, in welchem Rahmen es im nächsten Jahr tagen will. Die Gefahr, es könne das WSF dominieren, besteht nicht, dazu gehen zuwenig Impulse von ihm aus.
Andere Fragen bleiben offen. Wie kommt man bei der Vielfalt und Zersplitterung der Bestandteile des Forums zu gemeinsamem politischen Handeln? Beispiel Argentinien: Wie reagieren wir auf die Krise dort? Die Frage wurde oft gestellt. Die einzige Antwort, die es darauf gibt, ist die Kampagne gegen Alca und die Wiederbelebung von Kampagnen für die bedingungslose Schuldenstreichung. Aber das ist zu diffus, um im Kräftemessen mit der US-amerikanischen Regierung und dem IWF ein internationales Kräfteverhältnis aufbauen zu können, das den Fall Argentinien zu einem gemeinsamen politischen Anliegen des WSF macht.
Ob wir Erfolg haben oder nicht, misst sich inzwischen jedoch an solchen Fragen und nicht mehr nur daran, wie ein Ministerratstreffen der WTO ausgeht.
Zwischen der lokalen, der nationalen und der internationalen Ebene des Agierens gibt es manchmal eine große Kluft. Ein Sprecher aus Soweto bekannte, er könne auf die Willensbildung in Porto Alegre Einfluss nehmen, aber kaum auf eine im südafrikanischen Rahmen. Der internationale Aktionstag gegen die WTO-Runde im vergangenen November in Doha, der viele parallele nationale Aktionen vorsah, wurde einmütig als schwach bezeichnet. Einige meinten deshalb, es komme jetzt in erster Linie darauf an, die nationale Ebene zu stärken.
Mit der nationalen Ebene wird aber auch die Debatte über das Verhältnis zur Macht wieder aktuell werden, die bislang weitgehend ausgeklammert wurde.

Angela Klein

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