SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2002, Seite 15

Wege zu einem neuen Programm der sozialen Bewegungen

Interview mit Gigi Francisco

GIGI FRANCISCO kommt von den Philippinen. Sie ist koordiniert das Netzwerk Dawn (Development Alternatives with Women for a New Era) in Südostasien. Dawn ist ein globales Netzwerk von Frauen, die im Süden leben und arbeiten. Es leistet makropolitische Analysen über Entwicklung aus der Sicht von Familien aus dem Süden. Sie koordiniert auch das Asian Gender and Trade Network. Mit 16 Jahren wurde sie politisch aktiv, engagierte sich in der Jugendbewegung der 70er Jahre und in der nationaldemokratischen Bewegung, vor allem in der Organisation Kaleyaan, Befreiung. Das war eine Organisation von ehemaligen politischen Gefangenen, Frauen, denen vorgeworfen wurde, sie gehörten zur National-Demokratischen Front. Sie war die erste feministische Zelle auf den Philippinen. Nach dem Sturz der Diktatur hat sie im Frauennetzwerk Gabriela und in einer Unterstützerinitiative für die Gruppe Kilosango Mayo Uno, "Bewegung 1.Mai", einer Arbeitergruppe in der Hauptstadtregion gearbeitet. Auf regionaler Ebene arbeitet sie mit dem Netzwerk Focus on the Global South zusammen. Von Beruf ist sie Lehrerin. Mit Gigi Francisco sprach Angela Klein.

Wer sind heute die tragenden Kräfte der sozialen Bewegungen in deiner Region?
Es gibt in Südostasien bestimmte Stränge von Bewegungen, ich möchte vor allem vier nennen, die mir eine strategische Bedeutung zu haben scheinen. Sie arbeiten in Fragen der Globalisierung zusammen.
Den ersten Strang bildet das, was ich die traditionellen politischen Bewegungen nennen möchte — sie sind eng mit der Linken verbunden, darunter verstehe ich die marxistisch-leninistische Linke. Wenn ich im folgenden von der Linken spreche, dann meine ich diese.
Der zweite Strang wird von den neuen Bewegungen gebildet, die Ende der 70er und in den 80er Jahren um Probleme herum entstanden, die in der Klassenanalyse und im politischen Kampf der Linken keinen besonderen Platz eingenommen haben: die Bewegungen für die Rechte der Frauen, der Schwarzen, ethnischer Minderheiten, aber auch Bewegungen, die sich um die sog. "neuen Fragen" kümmern: Menschenrechte, Umwelt usw.
Den dritten Strang bilden die Nichtregierungsorganisationen und die sozialen Bewegungen, die sich in den ehemals sozialistischen Ländern herausgebildet haben, vor allem in Indochina (Laos, Burma, Kambodscha, Vietnam). Sie haben ein anderes Verhältnis zur Globalisierung als wir, ihre Haltung zu den internationalen Finanzorganisationen ist nicht sehr kritisch. Sie haben auch nicht jahrelang unter deren Strukturanpassungsprogrammen gelitten wie wir.
Den vierten Strang bilden die organisierten, von Parteien geführten und in den meisten Fällen bewaffneten sezessionistischen oder ethnisch-nationalistischen Kämpfe. Diese findet man derzeit vor allem in Indonesien und auf den Philippinen, z.B. die MILF oder die Moro Liberation Front.

Auf dem Forum hast du erklärt, viele der führenden Köpfe in den neuen Bewegungen hätten ihre Wurzeln in der alten sozialistischen Bewegung. Wie agieren sie in den neuen Bewegungen, was treibt sie dazu, sich dort zu engagieren? Wie beeinflussen sie diese und wie werden sie ihrerseits von den Bewegungen beeinflusst?
Man muss sehen, dass die Linke sich zersplittert hat und fast tot ist. Viele ihrer früheren Vertreter sagen, sie ist schon tot, was von ihr übrig ist, sind nur Reste von Vergangenem, die unter den neuen Bedingungen und für die Herausbildung einer neuen politischen Kraft keine Relevanz mehr haben. Aber es gibt auch solche, die sagen — und dazu gehöre ich auch —, dass die Linke sich wandelt; manchmal kommt die Transformation von innen, das ist allerdings wegen des immer noch vorherrschenden Zentralismus und ihres Avantgardeverständnisses nicht häufig.
Aber der Druck zur Transformation kommt auch von außen: Ideologie und Politik der Linken müssen sich ändern, wenn sie weiter relevant bleiben will. Die Linke hat sich bei uns allerdings anders entwickelt als in Europa, wo die Traditionen und Strukturen der Linken stark mit staatlichen Institutionen verquickt sind und in der Debatte wurzeln, wie der Nationalstaat auszusehen hat. Außerhalb Europas ist die Linke zum Antipoden des Staates geworden. Vor allem dort, wo die Staatsmacht autoritär und diktatorisch war, war es die Linke, die trotz ihres eigenen Zentralismus demokratische Freiräume gefordert und für diesen Kampf mit dem Leben bezahlt hat.
Die diktatorische Macht des Staates erklärt also eine ganze Menge über die revolutionäre Linke auf den Philippinen und in anderen Teilen Südostasiens. Sie hat zugleich verschleiert, dass in einigen ihrer Bewegungen viele demokratische Impulse stecken. Zum Beispiel haben die Strukturen, die die Basisbedürfnisse organisieren und sich selbstständig zu Wort melden, erheblich zur Demokratisierung beigetragen.
Die Linke hat viele Individuen hervorgebracht, die sich mit der Zeit nicht mehr aktiv in sie eingebracht haben und herausgefallen sind. Entweder sind sie in ihren Beruf zurückgekehrt, oder sie arbeiten für Nichtregierungsorganisationen. Als die Diktatur gestürzt wurde, öffnete sich Spielraum für ein Engagement in legaler Politik. Teilweise sind das auch Leute, die in der internationalen Solidaritätsbewegung mit solchen Parteien der Linken in Verbindung standen, die in Europa als legale Parteien existieren. Auch diese Verbindung ist wichtig.
Diese Linken haben neue Organisationen gebildet, und weil sie aus der alten Linken stammen und jahrelang am bewaffneten Kampf teilgenommen haben, haben sie das moralische Recht und die Legitimität, die alte Linke zu kritisieren und zwar konstruktiv. Das schafft allerdings erhebliche Spannungen.

Diese Linken haben mit den alten Organisationen nicht ihre Überzeugungen aufgegeben, sie wollen politisch etwas. Wie würdest du das beschreiben? Warum gehen sie in die Bewegungen? Was geben ihnen die Bewegungen und was können sie ihnen geben?
Nun, der Kampf gegen den Kapitalismus und für eine gerechte Verteilung von Macht und Reichtum, den die Linke geführt hat, bleibt aktuell und wesentlich — gerade auch unter den Bedingungen der Globalisierung. Doch der Klassenkampf artikuliert sich heute viel komplexer als früher, gesellschaftliche Spannungen und Konflikt werden — das zeigen unsere Analysen — von vielen anderen Kräften getragen. Es gibt nicht nur den Kampf gegen den Kapitalismus, auch den gegen das Patriarchat, gegen Rassismus, gegen viele Formen der Diskriminierung, die die alte marxistische Analyse, mindestens diejenige, die ich gelernt habe, nicht erfasst hat. Die Linken also, die jetzt in den sozialen Bewegungen aktiv sind, sind solche, die nach einer Vervollkommnung des Marxismus suchen und die neuen Kritiken aufgreifen möchten. Sie haben das marxistisch-leninistische Denken, das sehr in sich geschlossen war, abgelegt und sind zu schöpferischen Marxisten geworden.
Ich könnte von mir niemals sagen, ich bin keine Marxistin mehr, das ginge gegen meine Natur. Aber ich kann auch nicht sagen, ich vertrete den philippinischen Marxismus.
Zum anderen sind diese Linken, die in die neuen Bewegungen gegangen sind, für neue Formen der Politik offen, sie kennzeichnet die Bereitschaft, Dinge auszuprobieren — neue Formen der Politik, neue Führungsmethoden, neue Wege der Zusammenarbeit. Ein Ziel ist dabei, eine kritische Massenbasis zu schaffen — das hat sich nicht geändert, das stand früher auch auf der Tagesordnung. Deshalb sehe ich darin nicht eine Fragmentierung oder Schwächung der Linken, sondern eine neue Expansion.

Im Forum gab es eine Debatte über Sozialismus, besser gesagt: verschiedene Debatten. Es gab Debatten innerhalb bestehender Strömungen — die kreisten um sich selbst. Es gab aber auch Debatten bei denen, die neue Wurzeln in den Bewegungen und nach neuen Wegen suchen. Dabei ist es eine Sache, über die Bewegung, ihre Strukturen und Perspektiven zu reflektieren, eine andere darüber nachzudenken, was eine gesellschaftliche Alternative sein kann. Die Alternativen, die auf dem Forum vorgeschlagen werden, entwickeln sich aus den unmittelbaren Zwängen heraus, die soziale Gruppen erleben; es gibt keine gemeinsame Vorstellung davon, wie man zu einer anderen Gesellschaft kommen kann. Du hast im Seminar gesagt, die neue Bewegung sei sehr heterogen und verstreut. Siehst du einen Ansatz, wie die Heterogenität überwunden werden kann? Können diese Linken in den neuen Bewegungen auch eine andere Rolle spielen als die von Koordinatoren, Organisatoren, Fachleuten; können sie ihnen eine politische Orientierung geben?
Zunächst einmal meine ich, Heterogenität ist etwas Positives. Was wir wirklich brauchen, ist eine Vision und die Koordination zwischen den verschiedenen Gruppen. Das ist im Wesentlichen nichts anderes als das, was Gesellschaft ganz primär ausmacht. Gesellschaft ist eine komplexe Einheit, und repräsentative Demokratie wird immer eine Repräsentation der Privilegierteren sein.
Derzeit sehe ich zwei Dinge als wichtig an: Erstens die Beförderung einer starken Identität von Bürgerschaft, kritische, selbstbewusste Bürgerschaft, die an den Staat Forderungen stellt. Das ist besonders in Südostasien wichtig. Da ist es anders als in Europa, wo es das Konzept des "Selbst" gibt: hier hat man ein Recht als Bürger oder Bürgerin, als Einzelne. In Südostasien sieht man Staat und Bürgerschaft gänzlich anders. Das hängt mit kulturellen, aber auch mit historisch-politischen Faktoren zusammen, nicht zuletzt ist das auch ein Ergebnis des Kolonialismus.
Wir haben heute eine andere Vorstellung von dem, was eine kritische Masse ist, als früher die Kommunistischen Parteien oder die nationalen Befreiungsbewegungen. Früher war die kritische Masse fest eingebunden in den auf der Linken dominierenden ideologischen Diskurs. Es gab nur einen Weg, die gesellschaftlichen Bedingungen zu analysieren, und auch nur einen Weg, sie zu verändern, nämlich das revolutionäre Programm, sprich: die Eroberung der politischen Macht. Dann gab es Modelle, China war so eins, daran haben wir uns orientiert, andere an Russland oder Kuba.
Ich mache mir eigentlich wenig Sorgen über den Mangel an Alternativen in den neuen sozialen Bewegungen. Ich glaube, der Prozess wird Klarheit über unsere Alternativen bringen. Im allgemeinen wissen wir ja, was wir wollen: Wir wollen einen sozialen Staat, der rechenschaftspflichtig und demokratisch ist und die Armut ausrottet.
Was uns fehlt, ist die programmatische Seite: Ein solches Programm muss von den verschiedenen sozialen Bewegungen breit diskutiert und zwischen ihnen ausgehandelt werden. Es muss ein lebendiges Programm sein, keine starre, festgelegte Strategie, die nach kurzfristigen Erfolgen sucht und am Ende doch nicht viel bewegt.
Wir brauchen ein Programm, das eine Bandbreite von Strategien und Taktiken vorsieht. Es muss gründlich aufräumen mit Vorstellungen von angeblichen Haupt- und Nebenwidersprüchen. Es muss revidiert werden können, es kann nicht sakrosankt sein, nicht eine Blaupause. Und es muss viel Raum für interne Kritik zulassen, Kritik auch gegenüber den machistischen und patriarchalischen Züge, die der Bewegung innewohnen.
Natürlich können wir nicht ständig auf einer Baustelle leben, das Haus braucht auch einmal ein Dach.

Worauf stützen sich denn neue Vorstellungen von einer kritischen Bürgerschaft?
Definitiv darauf, dass der Einzelne das Subjekt gesellschaftlicher Veränderungen sein kann. Dass wir Autorität in Frage stellen müssen, auch die unserer eigenen Führung — anders als früher, wo es darauf ankam, dass man ein guter Parteisoldat war. Doch das Subjektsein meint etwas anderes als in Europa — dort wurzelt es sehr stark im Individualismus. Bei uns ist das Subjekt in Strukturen der Solidarität eingebettet: das sind Familienbande, aber auch nachbarschaftliche Solidarität, welche die Grundlage für viele konkrete Kämpfe bildet. Vor allem erstere wirken in vieler Hinsicht auch negativ, zumal für Frauen, für die das meist Unterordnung innerhalb der Familie bedeutet. Ich kann das hier nicht vertiefen, aber die neuen Vorstellungen vom kritischen Subjekt konvergieren mit solchen Elementen von Solidargemeinschaft.
Das neue Subjekt fordert Rechte, fordert, als Vertragspartner betrachtet zu werden. Wir fordern Spielraum für uns, demokratisierte Räume, wir haben aber auch eine kollektive Verantwortung dafür, müssen uns gegenseitig kritisieren, das schafft Spannungen und Konflikte. Wir müssen Wege finden, wie wir untereinander übereinkommen, Dinge aushandeln.
Ich fürchte mich vor jeder Form der Institutionalisierung; weil ich aber jahrelang einen nationalen Kampf geführt habe, sehe ich auch, dass es gewisse Formen der Institutionalisierung geben muss. Ich bin zuversichtlich, dass die neuen Institutionen, die wir hervorbringen werden, solche sind, wo nicht mehr alles der Weisheit einiger Weniger überlassen bleibt, sondern wo man aufbauen und auch wieder abbauen, konstruieren und dekonstruieren und nochmal aufbauen kann.
Das ist etwas anderes als das politische Projekt der Linken früher, das darin bestand, einen monolithischen Staat zu Fall zu bringen und durch eine andere Regierung zu ersetzen — und das war‘s. Wir haben gesehen, dass das gescheitert ist. Es ist eine Sache, die Revolution zu machen, eine andere, einen Staat zu führen...

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