SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 4

Palästina

Will uns die Presse in Deutschland nicht informieren?

von Viktoria Waltz

Wussten Sie, dass die deutschen Journalisten in der Region, natürlich akkreditiert in Israel, eine Verpflichtung unterschreiben, nichts gegen die Interessen und die Sicherheit Israels zu schreiben? Ahnen Sie, dass das einer Selbstverpflichtung zum Maulkorb gleichkommt? Würden Sie denken, dass deutsche Journalisten und Medien derart "käuflich" oder einschüchterbar sind, dass sie Tatsachen unterschlagen, zu späten Nachtzeiten senden, ja alles tun, um die Wahrheit nicht allzu schrecklich zu übermitteln und sowieso eher aus israelischen denn aus palästinensischen Quellen schöpfen und damit weder dem Neutralitätsgebot noch dem Informationsgebot nachkommen? Nicht, weil man aus dem Faschismus nichts gelernt hätte, sondern weil man nicht zulassen will, was nicht sein darf?
In Palästina ist die Hölle los, jedes Kind weiß inzwischen, dass es nur eine Lösung geben kann: Rückzug der Israelis aus allen besetzten Gebieten und zwei Staaten in den Grenzen von 1947/48, was schon einen palästinensischen Verzicht auf zwei Drittel des einst von ihnen belebten Landes Palästina bedeutet. Und was tun unsere Medien und unsere Politiker? Sie fordern seit einem Jahr Gewaltverzicht von den Palästinensern zu allererst, von denen also, die vor allem ihr Recht auf Unabhängigkeit nach mehr als 50 Jahren einklagen, sie, die nicht für den deutschen Massenmord an den europäischen Juden verantwortlich sind. Sind Regierung und Medien derart verstrickt und selbst imperial gepolt, dass es auch ihnen im Nahen und Mittleren Osten nur um die Sicherung des Schmier-Öls für die europäisch-amerikanische Wohllebens-, Industrie- und Rüstungsmaschinerie geht — koste es, was es wolle?
Die Palästinenser fragen sich heute, wo bleiben die deutschen Joumalisten, warum kommen sie zu keiner unserer Pressekonferenzen? Warum erfahren die Deutschen am allerwenigsten in ihren normalen Informationsquellen etwas über die Beweggründe, Hintergründe der Palästinenser, über die groß angelegten Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen der Genfer Konventionjetzt und seit 50 Jahren, auch während des sog. Friedensprozesses bis zur Initfada? Warum sehen wir nur weinende Israelinnen, aber niemals palästinensische Trauernde und Verzweifelte? Gibt es sie nicht auch? Warum hören wir nie etwas über die Beweggründe der Selbstmordattentäter? Weil sie immer gleich erschossen werden, damit sie gar nicht erst sprechen können, aus welchem Lager und welchem Teil Palästinas sie ursprünglich kommen, was ihren Vätern, Müttern, Geschwistern und Freunden, so lange sie zurückdenken können, geschah und in den letzten 50 Jahren? Warum auch erfahren wir in den Abendnachrichten nicht, dass in Italien 100000 Menschen für Palästina auf die Straße gingen?
Warum hören wir kaum eine fundierte Kritik und zweifelnde, Partei nehmende Stellungnahme gegen Unrecht, während in den europäischen und auch den amerikanischen Medien Hintergründe und Aufdeckungen jede Menge zu erhalten sind: Clintons Wahlkampf durch die israelische Arbeitspartei mitfinanziert, Bushs Wahlkampf durch den Likud-Block; fast die Hälfte der amerikanischen Regierungsmitglieder sind Dopppelstaatler, Israelis und Amerikaner; Peace Now berichtet über die Tätowierungen von palästinensischen Gefangenen und schreit: Sind wir Nazis geworden? Spielen Regierung und Medien das Spiel Sharons mit?
Sharon weigert sich, internationale Beobachter ins Land zu lassen — soll niemand berichten können,
dass er nicht die "Infrastruktur des Terrors", sondern die "Infrastruktur zum Leben" zerstört?
dass seine Soldaten inzwischen ein halbe Million Olivenbäume mit den Wurzeln ausgerissen haben?
dass im Umkreis aller Stützpunkte und Kolonien von fast einem Kilometer kein Halm mehr übriggelassen wird, die Erde "rasiert" worden ist?
dass seine Behörden 50000 Tonnen Chemie- und Militärabfälle in einer Mulde bei Beit Lahia in 30 Meter Tiefe versenkt hat und der gesamte unterirdische Wasservorrat Gazas vor der Vergiftung steht?
dass seine Soldaten die Wasserleitungen, Telefonleitungen und Elektroleitungen in Ramallah zerstören und selbst Krankenhäuser angreifen und die Menschen darin töten?
dass seine Blockade so weit geht, dass die Milch für die Kinder im Krankenhaus bereits fehlt?
dass seine Soldaten in den Flüchtlingslagern die Menschen in einem Raum zusammenfercben, und von dort aus den Fenstern, gedeckt durch Möbel, durch Leichen und durch lebendige Jugendliche, gezielt Menschen abschießen?
dass Kühe und Schafe zu Hunderten abgeschossen werden?
dass keine "palästinensische" Straße mehr intakt ist?
dass bei der jüngsten Offensive mit 20000 Soldaten allein in den Lagern bei Bethlehem, Deheisheh und Alda an einem Tag rund 800 Männer gezwungen worden, sich vor den Soldaten zu versammeln, den Oberkörper freimachen mussten, den Kopf verbunden bekamen, darauf später Nummern gestempelt, die danach in die Hand "tätowiert" wurden und sie dann in unbekannte Gegenden mit Lastwagen abtransportiert und in fernen Lagern konzentriert wurden?
dass seit Beginn der Intifada 10000 Menschen in israelische Gefängnisse verschleppt wurden, allein 2000 im Rahmen der ersten Tage der Großoffensive, und dass etwa ein Drittel davon Jugendliche sind?
dass Spezialtruppen sich mit UN- und palästinensischen Ambulanzen "bewaffnen", um "unerkannt" in die Flüchtlingslager zu gelangen und dort wahllos zu töten — auch Ärzte, Helfer und Verletzte?
Warum hören wir davon fast nichts? Warum wird nicht Empörung ganz laut? Warum wird auch auf Interventionen und Hinweise der Zuhörer oder Leser nicht reagiert? Warum interviewt niemand palästinensische Menschen und Persönlichkeiten, um der Wahrheit wenigstens ein wenig näher zu kommen, oder höchstens mal Hannan Ashrawi, und manchmal auch erst nachts um 24 Uhr? Und wenn die Journalisten inzwischen Angst bekommen haben, haben sie nicht Telefon und Internet wie andere Menschen auch und können sie sich nicht rundum informieren? Wollen die Headquarters die Nachrichten gar nicht, wie man sich erzählt unter Journalisten im Lande? Machen sie sich nicht mitschuldig?

Viktoria Waltz ist Dozentin an der Universität Dortmund, Fakultät Raumplanung, und auf die israelisch-zionistische Siedlungspolitik und Planung spezialisiert. Von 1997 bis 2000 war sie Beraterin des palästinensischen Wohnungsbauministeriums in Gaza und Ramallah. Seit 2001 betreut sie die Partnerschaft ihrer Fakultät mit der Birzeit- Universität.



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