SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 6

Preußen winkt

Auch nach "Pisa" wird am Prinzip sozialer Auslese nicht gerüttelt

Die im Auftrag der OECD durchgeführte PISA-Studie hat der deutschen Bildungssituation schlechte Noten ausgestellt (vgl. SoZ 1/02) und zu umfangreichen Diskussionen geführt. Dass einmal mehr die Chance für eine tiefgreifende Bildungsreform verspielt werden könnte, zeigen die Reaktionen der Kultusminister der Länder, der Bildungsfachleute und Politiker, der Arbeitgeber und Gewerkschaften, sowie der Lehrer- und Schülerschaft.
In einer ersten Stellungnahme hatten Mitglieder der Kultusministerkonferenz vor der Presse eine Diskussion über Schulstrukturen strikt abgelehnt. Dann war man sich schnell einig, dass Konsens das oberste Gebot der Stunde sei und auf keinen Fall die "alten Grabenkämpfe" um das Dreiklassenschulsystem wieder aufflammen dürften. Man einigte sich schnell auf ein Minimalprogramm, trotzdem sind viele Gegensätze geblieben — über die Länge der Grundschulzeit und die Einrichtung von Ganztagsschulen, über frühzeitigere Leistungskontrollen und Elitegymnasien.
Vielleicht soll ja auch der einvernehmliche "Wettbewerb der guten Ideen", den ausgerechnet die Kultusministerien von Bayern und NRW über die Parteigrenzen hinaus gemeinsam ausgerufen haben, um deutsche Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich wieder an die Spitze zu bringen, schlicht verhindern, dass die wirklichen Gründe für das schlechte Abschneiden erst gar nicht zur Sprache kommen. Und vielleicht könnte man, wenn die Ergebnisse nicht den gewünschten Erfolg zeigen, mal wieder die Kuschelpädagogik oder die Alt-68er mit ihren Erziehungsmethoden für das schlechte Abschneiden verantwortlich machen — ein bewährtes Erklärungsmuster.

Forum Bildung

Nicht mehr als Empfehlungen gibt auch das "Forum Bildung" von Bund und Ländern unter Leitung der Bildungsministerin Edelgard Bulmahn. Auch hier bleibt es bei allgemein gehaltenen Forderungen nach Frühförderung, Ganztagsschule, einer höheren Abiturientenquote und einer besseren Betreuung an den Hochschulen, um die hohen Abbruchquoten zu senken.
Einer der beiden Vorsitzenden des Forums, CSU-Wissenschaftsminister Zehetmair, sagte es am Rande der Konferenz schon deutlicher: Es müsse wieder um Werte wie Disziplin gehen, Konkurrenz und Leistung seien gefordert. Dabei hat uns PISA doch gerade gelehrt, dass sich Chancengleichheit und Leistung in einer gemeinsamen Erziehung eben nicht ausschließen müssen, denn in einem Klima gegenseitiger Toleranz und entspannter Lernatmosphäre kommen alle Kinder zu besseren Lernergebnissen.
Von Ganztagsschulen zu sprechen ist für ihn "ein Rückfall in überkommene Ideologien". Bayern will höchstens eine Ganztagsbetreuung und das ist dann kein integratives Konzept, bei dem sich der Vormittagsunterricht pädagogisch sinnvoll mit den Angeboten am Nachmittag verzahnt.
Bundespräsident Rau erinnerte in seiner Rede auf dem Forum Bildung an die Bildungsoffensive der 60er Jahre und nannte als heutiges Ziel die "Notwendigkeit einer besseren Teilhabe aller an Bildung". Doch keiner auf dem Forum sagte konkret, woher denn die demnächst fehlenden Abiturienten kommen sollen, wenn die Schülerzahlen drastisch zurückgehen und nicht gleichzeitig die Bildungsbeteiligung ausgeweitet wird.
Obwohl in Deutschland viel zu wenig für Bildung ausgegeben wird, kündigte die Finanzministerkonferenz vor einiger Zeit an, bei rückläufigen Schülerzahlen Gelder einsparen zu wollen. Die dringend notwendige Breitenförderung gerade im Grundschulbereich bliebe damit abermals auf der Strecke.
Der Ministerpräsident von NRW, Clement, hat die Bildungspolitik seines Landes zur "Chefsache" erklärt, ist mit unausgegorenen Vorschlägen wie Verlängerung der Grundschulzeit an die Öffentlichkeit gegangen, ohne dabei gangbare Wege aufzuzeigen.
Seine Schulministerin ist ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, weil sie dauernd neue Projekte auflege und jede Kontinuität vermissen lasse. Sie brüstet sich zwar damit, in der Lehrerausbildung die "weitestreichende" Reform zu betreiben, plant jedoch eine sinnwidrige Veränderung des Lehrerausbildungsgesetzes, bei der der klassische Gymnasiallehrer (Klasse 5—13) einem Allroundpädagogen für Grund-, Haupt- und Realschule gegenüber gestellt wird.
Die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer könnten dann zwar einen Schwerpunkt für eine Schulform wählen, sollen aber nach dem Willen der Ministerin so "flexibel" sein, dass sie in allen drei Schulformen unterrichten können, also von Klasse 1 bis Klasse 10! Das wiederum würde die Abschaffung eines eigenständigen Grundschullehramts bedeuten und konterkariert alle Bemühungen um eine bessere Förderung im Primarbereich und beim Integrationsanspruch. Wir hätten dann wieder eine Lehrerausbildung wie zu Preußens Zeiten: je kleiner die Kinder, um so schlechter die Ausbildung und natürlich auch die Bezahlung!
Zur Finanzierung des Modellvorhabens "Selbstständige Schule" — ein "Reform"vorhaben, das noch ganz den alten, hierarchischen Geist von Anordnung und Genehmigung atmet, die Schulleitung mit neuen Kompetenzen ausstattet und den Beschäftigtenschutz aufhebt — werden Gelder aus einem bewährten Förderkonzept für Jugendliche ohne Ausbildung abgezogen, obwohl dort eine anerkannt gute und erfolgreiche Arbeit geleistet wurde.

Unternehmer

Bei Unternehmerpräsident Dieter Hundt hat man den Eindruck, dass er seit seiner eigenen Schulzeit keine Schule mehr von innen gesehen hat, denn seine Kritik geht an der Schulwirklichkeit haarscharf vorbei. So meint er bspw., dass das Thema "Steinzeit" mit einem halben Jahr viel zu lange behandelt würde. Doch in keiner Schulform wird ein Einzelthema so lange behandelt.
Der Begriff "Steinzeit" im Zusammenhang mit Schule ist natürlich bewusst gewählt, um ganz bestimmte Assoziationen zu wecken. Es kann aber nicht Aufgabe der allgemeinbildenden Schule sein, für die Arbeitswelt eine Ausbildung zu garantieren, die ausschließlich an den Interessen der Wirtschaft orientiert ist. Deren Forderungen nach Reduzierung des Fächerkanons und der Lehrpläne zugunsten eines sog. "Grundlagenwissens" gehen aber in diese Richtung. Für den musischen Bereich oder gesellschaftspolitische Themen wäre dann kein Platz mehr.
Weiter verlangen die Unternehmer, mehr Geld in die Grundschulen zu stecken und dafür bei den Gymnasien zu kürzen. Das würde bedeuten, dass noch weniger Kinder aus unteren Schichten das Gymnasium besuchen könnten, denn das Lernen dort würde sich dann abermals verteuern.
Ganz tief in die Mottenkiste greift Hundt, wenn er eine intensivere Hochbegabtenförderung und die Ausbildung von Leistungseliten verlangt, wo doch PISA gezeigt hat, dass in heterogenen Gruppen nicht nur mehr geleistet wird, sondern auch Sozialkompetenz, Kreativität und Kritikfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen viel besser entwickelt werden. Doch solche Fähigkeiten sind den Wirtschaftsvertretern eher suspekt. Sie verlangen verbindliche Leistungsstandards für alle Fächer, noch mehr Leistungskontrollen und zusätzliche Prüfungen.

Experten, Gewerkschaften und Schülervertreter

Nach Meinung der Bildungsexperten aber geht es vor allem um eine Reformierung der Unterrichtspraxis hin zu offenen Unterrichtsformen, weg vom frontalen Unterricht, bei dem ein Dompteur für Ruhe und Disziplin sorgt. Der isolierte Fachunterricht vermittele Wissensbausteine, die in den Köpfen der Schülerschaft meist unverbunden nebeneinander stünden, denn eine inhaltliche Abstimmung zwischen den Fachlehrern sei die ganz große Ausnahme. Auf eine Lernsequenz folge dann ein Test und das Gelernte darf getrost wieder vergessen werden.
Stattdessen wären vernetzte Lernmodelle das Gebot der Stunde, weil sie das Verstehen und Behalten nicht nur erleichtern, sondern eine aktive Mitwirkung der Lernenden erfordern. In einem offenen Unterricht, in dem an unterschiedlichen Themen und Schwerpunkten gearbeitet wird, kann Lernmotivation freigesetzt werden und eine fruchtbare Auseinandersetzung mit den Inhalten stattfinden. Das Gelernte wird eigenverantwortlich festgehalten und der Lerngruppe anschließend vorgetragen. Wenn in einem solchen Unterricht Leistungsmessungen stattfinden, dienen sie der Diagnose und zur Ermittlung eines besonderen Förderbedarfs.
Doch allein mit einem besseren Unterricht ist es nicht getan, denn es sind nach Klaus Klemm (Erziehungswissenschaftler Uni Essen) "eben auch die Systemgrenzen, die uns hindern, an die Spitze zu kommen". Die Schülervertreterin von NRW bringt es auf den Punkt, wenn sie "die integrierte Gesamtschule für alle" fordert, denn beim "derzeitigen Schulsystem heißt es statt miteinander gegeneinander und Konkurrenz". Dagegen würde die Gesamtschule die Chancengleichheit erhöhen.
Auch die GEW kommt zu der Erkenntnis, dass "das selektive Schulsystem zu einer selektiven Pädagogik führt. Nicht die Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen stehen im Blickpunkt, sondern die Berechtigung und Nichtberechtigung zu einer Bildungsanstalt." Ihre Forderung lautet daher: Langes gemeinsames Lernen in integrierten Systemen.
Doch eine Gewerkschaft muss auch aufzeigen, wie sie denn die gesellschaftlichen Kräfte aktivieren will, die sie zur Durchsetzung ihrer Forderungen braucht. Anfangen muss sie in der eigenen Mitgliedschaft, denn auch in ihren Reihen existiert darüber keineswegs eine einheitliche Meinung. Bei einem großen Teil der Gymnasial- und Realschullehrerschaft muss da noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.
Darüber hinaus müssen auch die übrigen Gewerkschaften für ein breites Bündnis gewonnen werden, denn es sind gerade die Kinder und Jugendlichen dieser Mitglieder, die in einem integrierten System eindeutig bessere Bildungschancen hätten. Es ist ein breites gesellschaftliches Bündnis notwendig und eine mobilisierende, kämpferische Politik, um unser Bildungssystem neu zu gestalten.

Larissa Peiffer-Rüssmann

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