SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 8

Alles gesund?

In der Gesundheitspolitik wird das nächste große Sparpaket geschnürt

Seit Monaten wissen die Bevölkerung und alle politischen Kräfte, dass für die sozialen Sicherungssysteme nach den Bundestagswahlen erneut erhebliche Änderungen anstehen. Dies betrifft insbesondere den Bereich der Krankenversicherung, in dem es in den letzten Wochen einige gesetzliche Änderungen gegeben hat, die hauptsächlich eines bedeuten: sie sind Schritte zum Ausstieg aus dem bekannten Krankenversicherungssystem.
Es handelte sich um drei Änderungen, die zuletzt den Bundesrat passierten. Das Anfang Februar vom Bundesrat verabschiedete Sparpaket gilt als eines der wichtigsten Gesetze von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Sie will damit den Anstieg der Arzneimittelkosten begrenzen und die Beiträge zur Krankenversicherung stabilisieren.
Das Gesetz legt fest, dass die Apotheker einen höheren Teil der ihnen von der Pharmaindustrie gewährten Rabatte an die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) abführen müssen. Die Pharmakonzerne hatten im letzten Jahr in einem mit dem Bundeskanzler abgesprochenen Coup ansonsten erzwungene Preissenkungen in großem Umfang mit der "freiwilligen Zahlung" von 200 Millionen Euro verhindert — Geld, von dem die gesetzlichen Versicherungen nicht einmal wissen, ob sie es annehmen dürfen.
Mit einer großangelegten Kampagne will nun Ulla Schmidt für die neue Verschreibungspraxis nach der sogenannten "Aut-idem-Regelung" werben. Danach soll der Arzt einen Wirkstoff verschreiben und der Apotheker das passende Präparat aushändigen, das aus dem untersten Preisdrittel der vergleichbaren Arzneien stammt. Diese Regelung ist eine Reaktion auf die massiv gestiegenen Ausgaben der GKV für Medikamente im letzten Jahr.

Explosion der Arzneimittelausgaben

Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben im vergangenen Jahr ein Defizit von 2,92 Milliarden Euro erwirtschaftet. Die daraufhin erfolgten Beitragssteigerungen von durchschnittlich 13,6 auf 14% zum Jahreswechsel lösten bei der Regierung Alarmglocken aus. 2001 waren die Ausgaben je Mitglied um 3,7% auf insgesamt 138 Milliarden Euro gestiegen, die Einnahmen dagegen nur um 1,6% je Mitglied gewachsen.
Rund zwei Drittel des Defizits, das um rund 750 Millionen Euro höher ausfiel als ursprünglich erwartet, gehen nach Regierungsangaben auf das Konto des Arzneimittelsektors. Der Ausgabenanstieg um durchschnittlich 11,2% sei vor allem darauf zurückzuführen, dass die Ärzte teure Analogprodukte mit geringem therapeutischen Zusatznutzen verordnet hätten. Schmidt wies auf die enormen Preisspannen für Medikamente mit gleichen Wirkstoffen, Mengen und Darreichungsformen hin.
Dies war eine nicht unerwartete Entwicklung. Anfang des Jahres 2001, nachdem Gesundheitsministerin Fischer (Grüne) gehen musste, war die erste Maßnahme der neuen SPD-Ministerin die Aufhebung der Ärztebudgets, die eigentlich einen Anstieg der Verschreibungen verhindern sollten. Obwohl nach allem was bekannt wurde kaum ein Arzt jemals in Regress genommen wurde wegen Überschreitens der Grenzen, gab es doch eine Wirkung — für jene Patienten, denen in der Praxis gesagt wurde, dass das Budget angeblich überschritten sei.
Die jetzt gefundene Regelung, dass die Ärzte in vielen Fällen nur den Wirkstoff verschreiben, hat bereits zu vielen Verunsicherungen geführt. Der Konkurrenzkampf zwischen den Apotheken steigt. Die Patienten werden noch stärker von Beratung abhängig und können noch weniger selbst kontrollieren, was sie bekommen.
Frühestens zur Jahresmitte dürften die ersten der für die Anwendung der neuen "Aut-idem- Regelung" notwendigen Preisvergleiche vorliegen und die entsprechenden Eingruppierungen vorgenommen sein, der Einspareffekt dieser Neuregelung wird erst sehr viel später eintreten.

Krankenhauspauschalen und Renteneinkünfte

Der Bundesrat hat ebenfalls der Reform der Krankenhausfinanzierung zugestimmt. Von 2003 an sollen die Kliniken zunächst freiwillig, von 2004 an nach einheitlichen Fallpauschalen abrechnen. Die Bezahlung nach Pauschalen richtet sich dann nach der Krankheit und nicht mehr wie bisher durch Tagessätze nach der Länge des Krankenhausaufenthalts.
Die deutsche Krankenhausgesellschaft hält die Einführung dieses neuen, auf Fallpauschalen basierenden Abrechnungssystems für verfehlt. Das beschlossene Gesetz zur Einführung diagnoseorientierter Fallpauschalen bedrohe kommunale und frei-gemeinnützige Kliniken in ihrer Existenz.
Das neue Gesetz soll zu einer leistungsgerechteren Finanzierung der Krankenhäuser führen und die bisherigen Finanzierungssätze ab 2004 durch Fallpauschalen ablösen. Damit hätten individuelle Liegezeiten keinen Einfluss mehr auf die von den Kassen zu erstattenden Kosten. Noch teurer als ein leeres Bett ist dann ein Patient, dessen "Pauschale" bereits aufgebraucht ist und für den es kein weiteres Geld mehr gibt. Es besteht die Gefahr, Patienten könnten schon im anbehandelten Zustand entlassen werden. Dieses Phänomen konnte bereits in anderen Ländern, die diese Abrechnungsmethode schon seit längerem praktizieren, beobachtet werden und wird mit dem recht plastischen Ausdruck "blutige Entlassung" beschrieben.
Es muss auch befürchtet werden, dass die Fallpauschalen zu einer neuen Privatisierungsrunde im Krankenhausbereich führen. Erfahrungen aus anderen Ländern haben gezeigt, dass private Krankenhäuser wegen ihrer besseren Möglichkeiten, sich am Kapitalmarkt Kredite zu beschaffen, schneller in ihre Infrastruktur investieren können, als öffentliche Krankenhäuser, die hierfür erst den Verwaltungsweg gehen müssen. Zwar verlangen Banken für Kredite an die öffentliche Hand nur geringe Zinsen, da das Risiko der Insolvenz ausgeschlossen wird.
Im Gegensatz dazu können Klinken in der Hand freier Träger oder als gemeinnützige GmbH sehr wohl zahlungsunfähig werden und müssen für dieses Risiko mit höheren Kosten am Kapitalmarkt grade stehen. Aber seit die Kommunen und Landkreise auch dann keine Schuldenaufnahme mehr genehmigen können, wenn so durch Investitionen in absehbarer Zeit Kosten minimiert würden, fallen die öffentlichen Häuser am Gesundheitsmarkt immer weiter zurück.
Eine weitere gesetzliche Änderung erfolgte für die Beiträge freiwillig versicherter RentnerInnen. Sie mussten bisher auch von anderen Einkommensarten — Miet- und Kapitaleinkünfte — Krankenkassenbeiträge bezahlen. Da die gesetzlich Versicherten dies nicht mussten, gab es ein Bundesverfassungsgerichtsurteil, das die Gleichbehandlung verlangte.
Die Regierung unter Schröder und Schmidt ging erneut den Weg der Belastung der Kassen: Sie befreite die freiwillig Versicherten von den Beiträgen aus anderen Einkommen. Für die Krankenkassen bedeutet die neue Regelung eine Minderung ihrer Einnahmen um 150—200 Millionen Euro im Jahr. Die vom Verfassungsgericht nicht erzwungene Maßnahme erzwingt nun ihrerseits weitere Schritte, die sich die Regierung Schröder natürlich bis nach den Wahlen aufhebt.

Krankenhäusliche Arbeitszeiten

Ein anderes Urteil hätte die SPD-Grünen-Regierung schon längst in Gesetze fassen müssen. Der Europäische Gerichtshof hatte die Bereitschaftszeiten der Ärzte in Krankenhäusern, die oft nachts nach einem Tagdienst Bereitschaft im Notdienst haben und am folgenden Tag einen "normalen" Tagdienst anschließen müssen, als Arbeitszeit beurteilt und damit klargestellt, dass die Arbeitszeitregelung darauf Rücksicht nehmen müsse.
Der Vorsitzende von Ver.di, Bsirske, stellte fest, es könne Patientinnen und Patienten nicht länger zugemutet werden, von Ärzten behandelt zu werden, die bereits 36 Stunden am Stück Arbeit hinter sich hätten. Wenn aber der Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit gelte, könnten bis zu 37700 Arbeitsplätze geschaffen werden. Dies würde sich lediglich mit 0,04 Prozentpunkten auf die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung auswirken. Dieses für das Wohl der behandelten Patienten und die Ärzte längst überfällige Urteil wird jedoch in der BRD nicht in die Tat umgesetzt.
Bislang zahlen Krankenhäuser für einen Beschäftigten, der im Bereitschaftsdienst zwischen 35 und 49% Arbeitsanfall hat, 80% des Normallohns. Nach Einführung eines Schichtdienstes und der Verteilung der Überarbeit auf arbeitslose Hände würde der Ausnutzungsgrad der Produktionsmittel im Krankenhaus (konstantes Kapital) deutlich gesteigert werden. Die monatlichen Bruttogehälter der Betroffenen würden sinken, der durchschnittliche Stundenlohn aber steigen. Die Debatte ist also kompliziert und aufgeladen mit Schutzbehauptungen.

Widerstand formiert sich

Die drohenden Verschlechterungen werden von Wissenschaftlern erneut wie bei der Rentenreform mit der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft an die Wand gemalt. Erneut wird vermieden, auf die Massenarbeitslosigkeit als einen Hauptgrund für die mangelnden Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme und auf die Ungerechtigkeiten bei der Beitragszahlung hinzuweisen. Zwischen den widersprüchlichen Interessen von Ärzten, Apotheken, Pharmaindustrie, Krankenhausverwaltungen und Kassen drohen die Interessen der Patienten und abhängig Beschäftigten zu zerreiben.
Aus den Erfahrungen mit der Riesterschen Rentenreform haben wenigstens Teile der Gewerkschaften, vor allem die Linke in den Gewerkschaften gelernt. So sprechen sich IG Metall und Ver.di gegen eine Privatisierung und Aushöhlung der gesetzlichen Krankenversicherung aus.
Die Antiglobalisierungsbewegung Attac hat in weiten Teilen den Zusammenhang zur grenzüberschreitenden Ökonomisierung und Privatisierung der Gesundheitsversorgung erkannt und beschreibt an zahlreichen Beispielen aus allen Ecken der Welt die verheerenden Folgen dieser Politik. Attac ist damit zu einem wichtigen Motor der Widerstandskampagne neben Ver.di und der IG Metall und eine moralische Instanz, der niemand egoistische Motive unterstellen kann. Auf einer Aktionskonferenz will das junge Bündnis zentralisierende Handlungsstränge für die weitere Aufklärungsphase einziehen.
Beziehen kann man sich dabei auch auf Bewegungen gegen Privatisierung, wie etwa in Schleswig-Holstein, wo es gelungen ist, gegen den Verkauf von vier Krankenhäusern im Kreis Nordfriesland eine Volksbefragung zu organisieren.

Rolf Euler

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