SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 18

Humanitäre Interventionen?

Zur Kritik des liberalen Kosmopolitismus

Wie verändert die Globalisierung die machtpolitischen Beziehungen unserer Zeit? Dies war eine der Fragen einer von der Londoner Theoriezeitschrift Historical Materialism noch vor Ausbruch des Afghanistankriegs organisierten Podiumsdiskussion. Peter Gowan, Autor eines vielbeachteten Buches (The Global Gamble. Washington‘s Faustian Bid for World Dominance, London 1999) und einer der Diskutanten, stellte dabei seine Sichtweise auf die geopolitische Seite des Globalisierungsprozesses und die Rolle der humanitären Interventionsideologie dar. Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Zeitschrift veröffentlichen wir hier Gowans (leicht gekürztes) Eröffnungsstatement.

Die beiden Diskurse der Globalisierung und des liberalen Kosmopolitismus laufen parallel. Beide sind Radikalisierungen von früheren Formen des Liberalismus. Globalisierung handelt von dem, was man die marktwirtschaftliche Seite des Liberalismus nennen könnte, und liberaler Kosmopolitismus handelt von der politischen Seite des Liberalismus — jede radikalisiert dabei ihren eigenen Bereich.
Um zu erklären, was ich mit "liberalem Kosmopolitismus" meine: Die klassische liberale Sichtweise war, dass sich die westlichen Staaten während des Kalten Krieges bei der Verteidigung ihrer liberalen und demokratischen Werte nicht sehr zimperlich verhalten konnten, weil sich die Kommunisten nicht sehr zimperlich verhielten. Daher hatte man keine starke Neigung, liberale und demokratische Werte über die Welt zu verbreiten. Es ging eher Kopf-an-Kopf, Waffe- gegen-Waffe gegen den "Kommunismus".
Heute jedoch, da der "Kommunismus" und der sowjetische Block abgetreten sind, könnten und müssten die westlichen Staaten, so der Diskurs, liberal demokratische Werte und Herrschaftsformen über den ganzen Globus verbreiten. Wir stehen also vor der Perspektive einer vollständig liberalisierten und demokratisierten Welt und — das ist entscheidend — diese Transformation wird eine neue Art von Weltordnung mit sich bringen. Eine kosmopolitische Weltordnung, die das alte Westfälische System hinter sich lässt, das durch die Rechtssouveränität der Staaten gekennzeichnet war.
Es gibt also eine Gruppe westlicher Staaten, die eine neue Weltordnung über den Globus verbreiten, in der die Souveränität der Staaten davon abhängig gemacht wird, ob diese bestimmte minimale Bürgerrechte — minimale Menschenrechte und demokratische Rechte — respektieren.
Folglich wird das Westfälische System souveräner Staaten Bedingungen unterworfen, ähnlich einer Hundehalterlizenz in Großbritannien. Man kann in Großbritannien einen Hund halten — unter der Bedingung, dass man ihn gut behandelt. Wer seinen Hund schlecht behandelt, dem entziehen die britischen Behörden die Genehmigung und beenden sein Recht, einen Hund zu halten.
Auf gleiche Weise sehen sich Staaten einer internationalen Gemeinschaft gegenüber, die mehr als alles andere eine um die USA zentrierte Koalition westlicher Staaten ist. Und diese internationale Gemeinschaft gewährt ihnen Souveränität unter der Bedingung, dass sie die Grundrechte ihrer Bürger respektieren. Wenn sie das nicht tun, wird die Lizenz zur Souveränität entzogen und die Staaten der "internationalen Gemeinschaft" intervenieren in unterschiedlichem Maße und auf verschiedene Arten in den "Schurkenstaat".
Die westlichen Staaten, manche nennen sie das Friedensbündnis, die Kant‘sche Vereinigung von Staaten, also Westeuropa, die USA und Japan, verändern die Welt nach dieser liberal-kosmopolitischen Idee. Für diejenigen von uns, die universelle Humanisten sind und nach einer Welt ohne Krieg Ausschau halten, einer Welt jenseits der ziemlich ekelhaften machtpolitischen Streitereien von Staaten, einer Welt jenseits jener hässlichen Dinge, die diese Staaten ihren eigenen Bürgern antun, für die ist das sicherlich eine anregende Vision.

Liberal, aber nicht demokratisch

Diese Vertreter des Liberalismus reden nicht über einen demokratischen Weltstaat. Daher reden sie nicht über kosmopolitische Demokratie. Sie reden nicht über "Eine Person, eine Stimme, weltweit und für eine Weltregierung". Es geht ihnen um kosmopolitische Regierungsführung (governance). Das umfasst kosmopolitische Regeln und Normen, nicht für alles, sondern nur für bestimmte grundlegende Dinge, namentlich Menschenrechte, und natürlich etwas global governance im Bereich der Wirtschaft.
Deshalb rede ich davon, dass diese Leute kosmopolitische Liberale sind, und nicht im eigentlichen Sinne Demokraten, obwohl sie sagen mögen, dass sie Demokraten sind. Zweifellos sind sie gute Demokraten, wenn es um innenpolitische Dinge geht. Aber die Weltordnung, die sie wollen, soll eine liberale sein, kein wirklich demokratischer Staat.
Genau so wie der liberale Kosmopolitismus den älteren liberalen Internationalismus radikalisiert, von der harmonischen Ordnung zwischen den Staaten zu einer liberal-kosmopolitischen Ordnung über den Staaten, so sagt die liberale ökonomische Theorie: "Wir sind nicht länger in einer liberalen internationalen Ökonomie, bei der die internationale Ökonomie im Wesentlichen die Summe ihrer Teile ist.
Stattdessen haben wir einen globalen Markt, einen globalisierten Markt, der all die nationalen Teilökonomien dominiert. Und daher ist jede nationale Ökonomie der Logik des globalen Marktes untergeordnet." Das läuft vollkommen parallel zum anderen Diskurs.
Lassen Sie mich schnell einige Gemeinsamkeiten der beiden Diskurse aufzeigen. Beide haben die streng liberalen Einsprüche gegen den Staat: Markt gegen Staat, Zivilgesellschaft gegen Staat, Individuum gegen Staat usw. Zweitens stellen sich beide Diskurse der Idee des starken, autonomen Staates entgegen. Der Globalisierungsdiskurs besagt, dass die Tage starker, autonomer Staaten, die nationale Ökonomien kontrollieren, vorbei sind. Auch nach dem kosmopolitischen Diskurs sollen die Tage autonomer Staaten vorbei sein — sie sollen in eine neue globale Ordnung überführt werden. Drittens betonen beide die Wichtigkeit von Gesetzen und Rechtssystemen.
Es gibt aber auch komplementäre Unterschiede: Der Globalisierungsdiskurs ist kognitiv und fatalistisch: "Ob wir wollen oder nicht, die ökonomische Globalisierung wird bleiben. Wer konkurrenzfähig bleiben will, sollte sich besser anpassen." Kosmopolitismus ist dagegen normativ, aktivistisch und aufregend: "Schau, es tut sich eine inspirierende Dynamik auf. Wenn du dich beteiligst, kannst du sie herbeiführen." Aber diese zwei Dinge können Hand in Hand gehen — man kann deprimiert sein über die globale Wirtschaft, aber sich an einer globalen kosmopolitischen Ordnung beteiligen.
Jetzt komme ich zur Kritik dieses liberalen Kosmopolitismus. Erstens gibt es hier ein Ausweichmanöver, das besagt: "Auf der einen Seite gibt es eine kosmopolitische Ordnung, auf der anderen Seite Staaten." Doch das ist nicht ganz richtig. Es gibt ein "Wer" und ein "Wem": "Einige" Staaten zwingen diese Ordnung "anderen" Staaten auf. Es ist wichtig, das festzuhalten.

Normen ohne institutionelle Basis

Natürlich registrieren das einige liberale Kosmopoliten und sagen: Ja, es gibt ein Friedensbündnis von Staaten. Andere reden ziemlich vage von einer "internationalen Gemeinschaft" oder einem Weltstaat, als wenn es ihn gäbe. Wir müssen uns aber erinnern, dass es einige Staaten sind, die andere und oft mit Zwang antreiben.
Lassen wir für einen Moment beiseite, was nach der liberal-kosmopolitischen Erklärung die reichen, liberalen Staaten dazu bringt, andere anzutreiben. Betrachten wir stattdessen die Organisation der liberalen Staaten selbst. Wenn wir uns auf eine neue, normenbasierte Weltordnung zu bewegen, dann sollte sich diese Bewegung sicher in neuen Formen normenbasierter Institutionalisierung der "internationalen Gemeinschaft" oder des Friedensbündnisses niederschlagen. Doch wo sind die Institutionen dieser neuen Ordnung? Rückblickend auf die 90er Jahre kann ich keine solche normative Institutionalisierung erkennen.
Fangen wir bei der UNO an: Sie ist ein Durcheinander. Der damalige Generalsekretär Boutros Boutros Ghali hatte die Unterstützung aller Staaten für eine zweite Amtszeit, bis auf einen. Er wurde also abgelöst, denn dieser eine — nur einer! — waren die USA. Die Normen der UNO werden in einigen Fällen instrumentell eingesetzt, in anderen schamlos missachtet. So viel zum liberalen Institutionalismus bei der UNO.
Nehmen wir eine ziemliche starke Institution wie den Internationalen Währungsfonds (IWF). In den 90er Jahren fand hier bekanntlich eine Aufweichung des Regelwerks statt. Nehmen wir die Beispiele Mexiko 1995 oder Südkorea 1997, wo sich die USA über elementare Regeln des IWF rücksichtslos hinwegsetzten. Durchaus kein Zeichen von Institutionalisierung.
Oder das GATT und die Welthandelsorganisation (WTO): Was auch immer man noch alles dazu sagen kann, heraus ragt, dass der Staat, der die treibende Kraft hinter der Uruguay-Runde war, die USA, es abgelehnt hat, sich selbst den Gesetzen der WTO-Mitgliedschaft unterzuordnen. In den Gesetzen — in den amerikanischen Gesetzen — würden sie sich nur an Entscheidungen der WTO halten, wenn diese den USA gegenüber fair sind.
Ein anderes Beispiel: der Internationale Strafgerichtshof. Bisher verletzt der Internationale Strafgerichtshof offen und prinzipiell, auf schamlose und grobe Weise, das Grundprinzip der Herrschaft des Rechts, indem er sagt, dass dieses Staaten in ihrem Verhalten bindende Recht auf jeden angewendet werden soll, mit Ausnahme einer Gruppe — der Mitglieder des Sicherheitsrats.
Aus diesen Beispielen ergibt sich, dass das institutionalisierte Prinzip der 90er Jahre ziemlich verschieden ist von kosmopolitischen, liberalen Normen und eher der Institutionalisierung der Weltregierung in der Hand eines einzigen Staates gleicht. Es sieht eher imperial aus als kosmopolitisch und eher machtpolitisch als liberal. Betrachten wir nun die Organisation des Friedensbündnisses selbst — die Staaten, die Liberalismus, Demokratie und Frieden verbreiten.
Wie sind sie verfasst? Es sind hegemonial organisierte Militärallianzen: die NATO, der Sicherheitspakt USA—Japan, die anderen US-Sicherheitsabkommen. Das ist eine ziemlich bizarre Form für ein Friedensbündnis! Wie passt das mit den liberal-kosmopolitischen Werten zusammen?

Geopolitische Machtpolitik

Damit kommen wir zur Frage, was dieses Friedensbündnis antreibt — oder richtiger, seinen führenden Staat —, in anderen Staaten zu intervenieren. Der liberale Kosmopolitismus hat uns Glauben gemacht, dass die treibende Kraft die Werte und Normen der Freiheits- und Menschenrechte sind. Dabei wird vor allem auf die Intervention der NATO in Bosnien verwiesen und auf den Krieg gegen Serbien um Kosovo. Von da aus wird versucht, auf einen Bruch mit der NATO-Machtpolitik und ihres führenden Staates zu schließen.
Das Problem ist jedoch, dass wir, wenn wir die politischen Rahmendokumente der amerikanischen Regierung selbst lesen, merken, dass sich durch diese Dokumente eine vollständig offene und absolut deutliche Machtpolitik zieht: amerikanische nationale Interessen zuerst! Zweitens, und noch verblüffender, zeigt sich, dass in entscheidenden Dokumenten wie in der begleitenden Literatur für die US-Experten für Nationale Sicherheit, das Zielobjekt der US- Machtpolitik in den 90er Jahren gerade nicht Staaten waren, die liberale Normen verletzten. Das Ziel war die Bedrohung durch regionale Autonomie innerhalb des Friedensbündnisses selbst.
Daher definieren die Nationalen Sicherheitsrichtlinien, im Jahre 1991 von Paul Wolfowitz vom Pentagon und I. Lewish Libby für das National Security Council geschrieben und der New York Times zugespielt, als Schlüsselbedrohung für die nationale Sicherheit der USA in den 90er Jahren die regionalen Hegemone in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ökonomien, und nicht die Bedrohung von "Schurkenstaaten", China oder Russland.
Ich möchte ein gedankliches Experiment vorschlagen: Versuchen Sie, das Konzept von Wolfowitz/Libby Lewis auf die Handlungen der USA in Bosnien und gegenüber Serbien anzuwenden. Es würde bedeuten, dass in beiden Fällen die US-Taktik bestimmt wurde von regionalen politischen Herausforderungen durch Westeuropa und davon, die europäischen Mitglieder des Friedensbündnisses gefügig zu machen.
Anders gesagt, das Ganze war Teil eines intensiven Kampfes der USA, Deutschland und Frankreich daran zu hindern, ihre politisch-militärische Macht auf Osteuropa zu projizieren und sicher zu stellen, dass die USA den Vorstoß des Westens nach Osten bestimmen. Das war der Punkt, an dem sich die Amerikaner auf Jugoslawien stürzten. Sie starteten eine Kampagne für ein von der EU, Russland und Bosniens Präsident Izetbegovi´c abgelehntes unabhängiges, vereintes Bosnien — eine Kampagne für den Bürgerkrieg, weil es keine bosnische Nation gab. Dann begann das Abrutschen in den Krieg. Eagleburger, der im Außenministerium für Europa verantwortlich war, erklärte das Vorgehen so: Die Deutschen hätten einen Vorsprung zu den USA in Europa bekommen, und, zweitens, die USA mussten einen politischen Hebel in der jugoslawischen Krise erlangen. Bosnien gab Washington diesen Hebel.
Die USA sabotierten wiederholt alle europäischen Bemühun gen zu Friedensverhandlungen und polarisierten ganz Europa wegen Bosnien, bis Frankreich und Großbritannien schließlich zustimmten, über die NATO alles in US-Hände zu legen. Der NATO-Krieg gegen Serbien wegen Kosovo war die Konsolidierung des politischen Sieges der USA in Europa. Menschenrechte, liberal-kosmospolitische Rhetorik und das Haager Tribunal waren politische Instrumente dieser Machtpolitik.
So verstanden wäre der liberale Kosmopolitismus die ideologische Form einer besonderen Art imperialer Expansion. Das Ausgraben der zugrunde liegenden materiellen Kräfte würde erfordern, die ökonomische Globalisierung zu dechiffrieren.

Peter Gowan

Vom selben Autor erschien in SoZ 18/99 in der Beilage "SoZ-Bibliothek": "Die NATO und die Tragödie auf dem Balkan".


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