SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 21

Rote Pomeranzen

Di Grine Kuzine, Feribot, T3 Records, Kuzine

Zu mir ist gekommen eine Kuzine,
schön wie Gold ist sie gewesen, die Grine,
die Bäckchen wie rote Pomeranzen,
Füßchen, die wiegen sich zum Tanzen,
Augen wie himmelblauer Frühling
[…]
Nicht gegangen ist sie, nur gesprungen,
nicht geredet hat sie, nur gesungen,
lebendig und fröhlich ihre Miene,
ja so ist sie gewesen, meine Kuzine...

So beginnt ein Klezmer-Lied (in meiner höchst unvollkommenen Übersetzung aus dem Jiddischen), von dem es viele verschiedene Versionen gibt (drei habe ich auf die Schnelle im Internet gefunden). Eine seit 1993 bestehende Blaskapelle aus Berlin spielt nicht nur wie die besungene "Grine Kuzine", sondern sie nennt sich auch so. Die Kuzinen sind zu fünft: Alexandra Dimitroff (Akkordeon, Gesang), Juri Schrot (Klarinette, Sopransaxofon), Karel Komnatoff (Trompete, Gesang), Mr.Steve R. Lukanky (Tuba) und Snorre Schwarz (Schlagzeug, Gesang) Ihre Musik bezeichnen sie als "Balkan Klezmer Brass" und sie spielen fast alles: Klezmer, "Zigeunermusik", serbische und bulgarische Dorftänze, klassische europäische Komponisten der Romantik (Gustav Mahler), Latino-Rhythmen und bisweilen sogar so etwas ähnliches wie Reggae. Oder, mit den Worten von Aaron Howard "Feribot, rau und unbändig, ist keine traditionelle Musik. Es gleicht eher einer sehr hippen Dorfmusik, die von Postmodernisten aus der Stadt gespielt wird."
Platte ist eine Zufallsbekanntschaft (es fühlte sich keine andere bei uns im Freien Radio für sie zuständig — im Plattenladen findet ihr sie hoffentlich im Regal "Pørlen der Wørldmusik"), die mein Herz und viel Sendezeit sozusagen im Sturm erobert hat. Die Stimmung kann ich am ehesten mit "ausgelassene Verzweiflung" beschreiben, starke Medizin also gegen Liebeskummer ebenso wie gegen politische Demoralisierung.
Und so ist es wohl auch gemeint: "All ihr Neugierigen, Ausgelassenen, Verliebten, Verzweifelten! Hier ist ein Schiff, auf dem Platz für euch alle ist. Kommt an Bord, ob zu Fuß oder schwimmend, woher ihr auch seid. Das Feribot durchkreuzt die Gegend, die man das wilde Herz Europas nennt! Die Karten schweigen sich über diese Gegend aus, aber Karten waren ja schon immer nur etwas für Angsthasen. Das Feribot ist ohne Angst. Es ist ohne Alter, es staunt, es liebt und es leidet. Die Welt ist kleiner als wir dachten — Willkommen an Bord!"
Da staune ich auch, denn seither war ich der festen Überzeugung, diese Gegend sei gänzlich kontinental und kein bisschen "meerisch" — wie kann da ein Fährboot kreuzen? So kann eine sich täuschen in der musikalischen Geografie — und auch der Rough Guide Weltmusik (2000 im Metzler-Verlag erschienen), ansonsten ein informativer Reiseführer, hilft in dem Fall nicht weiter.
Wenn Musik in der gleichen Weise agitiert, argumentiert, belehrt wie eine Zeitung, eine Rede, ein Buch — ist sie in der Regel schlecht. Musik "bedeutet" auf eine andere Art etwas, als Wörter es können. Eine musikalische Nomadin ist "Di Grine Kuzine", und Feribot ist im besten Sinne kosmopolitisch. Keineswegs beliebig ist das musikalische Statement der Postmodernisten aus Berlin und dem wilden Herzen Europas gegen jegliche "Das-Boot-ist- voll"-Ideologie.
Wer Ohren hat, zu hören, der oder die höre — und tanze!

Dorothea Mann

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