SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 24

Alexandra Kollontai und die Rote Liebe

Was ist "rote Liebe" — genauer, worin besteht eine sozialistische oder, weitergehender, eine kommunistische Theorie von Liebe und Sexualität? Um mich an eine Antwort heran zu arbeiten, möchte ich die Schriften der russischen Revolutionärin Alexandra Kollontai wieder lesen.

Wenn man sich überhaupt an Alexandra Kollontai erinnert, so als vermeintliche Vertreterin der "Glas-Wasser-Theorie" der Sexualität, die gemeinhin als Verteidigung von Promiskuität und "freier Liebe" gilt, als Vorstellung, Sex solle so zugänglich und so leicht zu stillen sein wie der Durst durch Trinken eines Glases Wasser. In Wirklichkeit ging die "Glas-Wasser-Theorie" nicht nur nicht von ihr aus, sondern Kollontai entwickelte mit ihren antibürgerlichen Theorien eine viel komplexere Sicht, in der Sexualität als sowohl gesellschaftliche wie auch geschichtliche Beziehung aufgefasst wird.
In ihren politischen Schriften, ihren öffentlichen Reden und ihren belletristischen Veröffentlichungen sowie in ihrer politischen Tätigkeit hielt Kollontai sich durchgängig an historisch-materialistische Grundsätze und setzte sich als Revolutionärin für die Emanzipation der Frauen und den Arbeiterkampf ein, insbesondere für eine radikale Neufassung von bürgerlichen Auffassungen von Sexualität und Liebe. Das Kernprinzip, von dem aus ihre Arbeit entwickelt wird, besteht erstens in einer rigorosen materialistischen Analyse der historisch variablen Formen von Liebe und Sexualität sowie deren Klassengrundlagen. Zweitens in einem beharrlichen Bezug auf die Rolle und die Bedeutung des Arbeiterkollektivs für den Aufbau der neuen Gesellschaft und bei der Formung zwischenmenschlicher Beziehungen. Drittens in der festen Überzeugung, dass effektive Gesellschaftsveränderung die dialektische Verschränkung von ideologischem Kampf und wirtschaftlicher Veränderung einschließt.

Ideologie und Klassenkampf

Kollontai argumentierte (vgl. etwa ihre Schrift Die neue Moral und die Arbeiterklasse [Berlin 1920]) dafür, dass es nötig sei, den ideologischen Kampf über die Struktur von Geschlechter- und Sexualbeziehungen gleichzeitig mit den sozialen und ökonomischen Kämpfen durchzuführen. Wir vergessen leicht die Ungeheuerlichkeit eines solchen Projekts zu ihrer Zeit — einer Zeit des Weltkriegs und massiver Zerstörung der Wirtschaft, der sozialen Infrastruktur und der Bevölkerung, gefolgt von Revolution und Bürgerkrieg und den überwältigenden Schwierigkeiten beim Aufbau einer egalitären Gesellschaft unter so lähmenden Umständen.
Die Emanzipation der Frauen, so Kollontai, verlange einen politischen Einsatz ökonomischer Ressourcen, um das Wohlergehen von Frauen sicher zu stellen (von denen viele arbeitslos und nach wie vor mit Hausarbeit beschäftigt waren), um sie aus finanzieller Abhängigkeit von einzelnen Männern und patriarchalischen Eigentumsverhältnissen zu befreien. Der "sozialistische Ansatz", so argumentierte sie, bedeutet, dass "jede Frau das Recht habe zu begehren und danach zu streben, sorgenfrei zu sein, wenn sie ihr Kind aufziehe, und frei von der Angst, dass sie und ihr Kind sich eines Tages in Not und ohne Nahrungsmittel befänden".
Soziale und ökonomische Veränderungen setzen nach ihr jene Bedingungen, die nach einer neuen Grundlage psychologischer Erfahrung nicht nur verlangen, sondern sie auch begründen können. Diese Evolution verändert all unsere Vorstellungen von der gesellschaftlichen Rolle der Frauen und bringt alle Pfeiler der bourgeoisen Geschlechtsmoral ins Wanken. Die gegenwärtige Verdinglichung von Lust in den Schriften von Deleuze und Guattari, Kristeva, Gallop, Butler und de Lauretis sowie anderer poststrukturalistischer, feministischer und "Queer"-Theoretikerinnen und -Theoretiker, in denen Lust nicht nur als vom Ökonomischen autonom betrachtet wird, sondern auch primär als ein individueller Kreislauf von Lust, stehen im Gegensatz zu Kollontais komplexer materialistischer und kollektiver Sichtweise.
Die Liebe, schreibt sie, ist "ein grundlegend soziales Gefühl. Die Liebe ist "keine rein ‚private‘ Sache zweier sich liebender Herzen: Liebe enthält ein für das Kollektiv wertvolles verbindendes Element." Im Zentrum von Kollontais Denken über Sexualität stand ihre Analyse: "Jede geschichtliche (und daher ökonomische Epoche in der Entwicklung der Gesellschaft hat ihr eigenes Eheideal und ihre eigene Sexualmoral … Unterschiedliche wirtschaftliche Systeme haben unterschiedliche Moralkodizes. Nicht nur jede Stufe in der Entwicklung der Gesellschaft, sondern jede Klasse hat die ihr entsprechende Sexualmoral … Je fester die Grundsätze des Privateigentums etabliert sind, desto strikter ist der Moralkodex." "Das Liebesideal in der Ehe entstand in der bürgerlichen Klasse erst dann, als sich die Familie schrittweise von der Produktionseinheit in eine Konsumtionseinheit verwandelte und gleichzeitig zur Bewahrerin akkumulierten Kapitals wurde."

Kaufen und Verkaufen

Kollontais beharrliche materialistische Analyse von Liebe und Sexualität macht sie zu einer aktuellen Revolutionärin. Ihr Werk stellt eine ernsthafte Herausforderung für poststrukturalistische Theorien und deren Ignoranz des ökonomischen Tausches, der die sexuellen Beziehungen im Spätkapitalismus durchdringende Waren- und Kapitalakkumulation, dar. Die ökonomische Abhängigkeit der Frauen von den Ehemännern hat nachgelassen, insofern mehr Frauen selber zu Lohn- und Gehaltsempfängerinnen geworden sind, aber die heutige Familie mit doppeltem Einkommen ist genauso eine Konsumeinheit — und, im Falle der "besitzenden Klasse", eine Einheit der Kapitalakkumulation. Was sich gewandelt hat, würde ich sagen, ist die enorme Ausweitung der Warenförmigkeit und Ausbeutung der Sexualität und der Körper für den Profit — das Kaufen und Verkaufen von Körpern und die Darstellungen von Körpern, sei es in der Prostitution, der Pornografie oder den Massenmedien.
Während die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern einige ihrer Formen geändert hat, setzt sie sich unvermindert fort, solange es noch immer bedeutsame ökonomische Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Diejenige, die wir am meisten vernachlässigen, ist die besondere Art, in der Beziehungen von Sexualität, Liebe und Begehren auf Eigentumsformen beruhen. Das Bürgertum, führt Alexandra Kollontai aus, "hat das Ideal absoluten Eigentums an dem emotionellen wie physischen ‚Ich‘ der ‚Vertragspartner‘ sorgfältig gehegt und gepflegt, womit der Anspruch auf ein Eigentumsrecht auf das Recht an der ganzen geistigen und seelischen Welt des Anderen ausgedehnt wurde". Die dauerhafte Aufrechterhaltung solcher Subjektivität ist eines der primären Projekte der bürgerlichen Ideologie; in all ihren Formen ist das Maß der Liebe und des sexuellen Begehrens der Wunsch, das Objekt des Begehrens zu besitzen.
Infolgedessen, führt Alexandra Kollontai aus, "entartete der gesunde Geschlechtsinstinkt … unter dem Druck gewaltiger sozial-ökonomischer Beziehungen … zu einer ungesunden sinnlichen Begierde. Der Geschlechtsakt verkam zu einem Ziel an sich, verwandelte Vergnügen in reine Wollust und schärfte dieselbe durch exzessive, verzerrende und gesundheitsschädliche Erregung des Fleisches … Die Prostitution ist der organisierte Ausdruck dieser Deformation des Geschlechtstriebs."
In einer Zeit zunehmender Akzeptanz von allem, was das sinnliche Vergnügen intensiviert, selbst Schmerz und Gewalt, mag dies recht puritanisch klingen. Aber Kollontai zeigte, dass die Jagd nach Lust als eines Ausdrucks von Freiheit eine historisch spezifische Praxis der herrschenden Klassen ist und nicht die Basis für egalitäre, gemeinschaftliche Beziehungen gegenseitigen sexuellen Vergnügens und persönlicher Achtung unter Menschen. Die Aufwertung exzessiver Stimulation der Sinne zum Ziel an sich zerstört menschliche Beziehungen und Fähigkeiten und ist ein direkter Reflex entfremdender Verdinglichung und Ausbeutung menschlicher Beziehungen, die mit dem Kapitalismus aufkommen.
Claudia Broyelle hat diese Analyse in ihrem Buch über die Frauenemanzipation in China ausgeweitet: "In einer Gesellschaft, in der sich die Arbeitsteilung immer weiter verschärft, in der die übergroße Mehrheit des Volkes gewaltsam von jeder Kreativität ferngehalten wird, in der die Arbeit keine andere Bedeutung hat als ihren Wert in Lohn, wird die Sexualität in der Freizeit nicht ein Mittel, den besonderen Inhalt von Beziehungen auszudrücken, sondern ein Mittel für jedes Individuum, der Gesellschaft zu entgehen und sich in die sexuelle Konsumtion zu flüchten."
Linke Sexualtheorien stellen sexuellen Exzess und grenzüberschreitende Lust gewöhnlich als der bürgerlichen Ordnung gegenüber subversiv dar — so lautet bspw. eine häufig anzutreffende postmoderne Verteidigung der Pornografie. Tatsächlich ist die zunehmende sexuelle Erregung gerade das, was der Kapitalismus für die fortwährende Ausbreitung sexueller Verdinglichung und die Kontrolle der Subjekte benötigt. Wie Reimut Reiche in seinem Buch Sexualität und Klassenkampf feststellt, wird die "Entsublimierung" zu einer weiteren Form von Repression und Kontrolle.

Jenseits des Eigentums

Im Gegensatz zu bürgerlichen Eigentumsverhältnissen und individueller Befriedigung in sexuellen Beziehungen, so Kollontai, schaffen sozialistische, nicht auf Gewinn und Ausbeutung anderer ausgerichtete Produktionsverhältnisse die Bedingungen für grundsätzlich andere zwischenmenschliche Beziehungen. Diese Bedingungen ermöglichen das, was sie eine neue "kommunistische Moral" nennt: "Was die sexuellen Beziehungen betrifft, fordert die kommunistische Moral als allererstes eine Beendigung aller Beziehungen, die auf finanziellen oder anderen ökonomischen Faktoren beruhen. Das Kaufen und Verkaufen von Zärtlichkeiten zerstört den Sinn für die Gleichheit zwischen den Geschlechtern und untergräbt somit die Basis der Solidarität, ohne die eine kommunistische Gesellschaft nicht bestehen kann … Je stärker die Bindung zwischen den Mitgliedern des Kollektivs als ganzem sind, desto weniger bedarf es einer Stützung der ehelichen Beziehungen."
Kollontai eröffnete ein komplexes, einheitliches und materialistisches Verständnis der revolutionären Möglichkeit von Beziehungen, die nicht mehr in irgendeiner Weise auf Verdinglichung, ökonomischem Austausch oder finanziellen Rücksichten beruhen. Stattdessen hatte sie die Vision von wirklich freien — das heißt gleichberechtigten — Beziehungen von Liebe und Kameradschaft, die beide notwendig sind zur menschlichen Erfüllung und für den Erhalt der Bindungen zwischen den Mitgliedern eines Kollektivs.
Dies ist für Alexandra Kollontai die Grundlage einer neuen Klassenpraxis, einer "proletarischen Moral", die "die die allumfassende und exklusive eheliche Liebe der bourgeoisen Kultur" durch "drei Grundprinzipien ersetzt": "1. Gleichheit in den Beziehungen … 2. beiderseitige Anerkennung der Rechte des anderen, der Tatsache, dass niemand des Anderen Herz und Seele besitzt (jenes Gefühl des Eigentums, das sich in der bürgerlichen Kultur entwickelt hat), 3. genossenschaftliche Sensibilität, das Vermögen, sich in die Vorgänge der Seele des vertrauten und geliebten Menschen hineinzuversetzen und sie zu verstehen (die bürgerliche Kultur forderte diese Feinfühligkeit in der Liebe nur von der Frau)."
Alexandra Kollontai glaubte fest an das revolutionäre Potenzial der nicht warenförmigen und somit nichtpossessiven Beziehungen zwischen freien Individuen, die nicht durch wirtschaftliche Abhängigkeit aneinander gebunden sind. Sie glaubte an den gesellschaftlichen Wert der auf Genossenschaft und Gleichheit beruhenden "Liebe-Solidarität" und erwartete, dass dieselben in der kommunistischen Gesellschaft "als jener Motor wirken (werden), der als Konkurrenz und Eigenliebe die bürgerliche Gesellschaft antrieb".
Während Kollontais eigene Fassung menschlicher Beziehungen heterosexuell war (sie sprach nur über Beziehungen zwischen den Geschlechtern), sind ihre Ansichten postpatriarchalischer, gleichberechtigter Beziehungen offen für eine radikale postheterosexuelle Gesellschaft. Intime Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Individuen schließen sich keineswegs aus, sondern sind Teil einer solch offenen, mehrdimensionalen und nicht auf Ausschluss beruhenden "Moralität". Ein egalitäres Kollektiv von Arbeiterinnen und Arbeitern auf der Grundlage von kommunistischen Produktionsverhältnissen — in denen, wie Karl Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms feststellt, alle ihre Bedürfnisse stillen werden — werde die Ausbeutung der Differenzen beseitigen. Differenzen (im Hinblick auf Sexualität, auf Ethnizität) werden zwar nicht "verschwinden", sie werden aber nicht mehr die Grundlage von Ungleichheit, Privilegien und Ausbeutung anderer sein — und nicht mehr die Grundlage der Trennung von Begehren und Arbeit.
Solch radikale Veränderungen werden nicht automatisch kommen — sie erfordern, wie Kollontai sehr deutlich gemacht hat, einen hartnäckigen, allumfassenden sozialen und ideologischen Kampf als integralem Teil des Klassenkampfs um eine neue Sozialordnung.
Alexandra Kollontais Theorie der Sexualität zeigt den Weg zur Entwicklung einer emanzipatorischen Theorie auf, einer roten Theorie der Sexualität. Sie ist heute um so bedeutsamer, als führende postmoderne linke Kritiker und "Queer"-Feministinnen versuchen, die historisch- materalistischen Theorien von Sexualiät als "linken Konservatismus" zu diskreditieren.

Teresa L. Ebert

Teresa Ebert lehrt Kulturwissenschaften an der State University of New York in Albany und hat zu Feminismus, Postmodernismus und Marxismus veröffentlicht. Der hier stark gekürzte und leicht bearbeitete Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in der US-amerikanischen Zeitschrift Against the Current (Juli/August 1999). Im März jährten sich sowohl der 130.Geburtstag wie der 50.Todestag der russischen Revolutionärin Alexandra Kollontai.



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