SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 5

Nicht auf der Höhe der Empirie

Peter von Oertzen über das Scheitern von "Rot-Grün" und die Notwendigkeit einer neuen Euro-Linken. Peter von Oertzen, in Hannover lebender emeritierter Professor für Politikwissenschaften, 1970—1974 Kulturminister in Niedersachsen, war jahrzehntelang einer der prominenten Führungsfiguren der SPD-Linken. Das Interview für die SoZ führte Christoph Jünke.

Rot-Grün hat im Wahljahr 1998 zwar kein gesellschaftliches Reformprogramm formuliert, wohl aber die klassenpolitische Basis für ein solches — die berühmt-berüchtigte "Neue Mitte". Was muss man darunter genau verstehen und wie bilanzierst du vor diesem Hintergrund, was in den letzten vier Jahren Rot- Grün passiert ist?
Ich muss die deiner Frage zugrunde liegende Behauptung ein wenig modifizieren. Die SPD hatte erstens objektiv eine Klassenbasis, an die sie mehr oder weniger bewusst appelliert hat und zweitens eine nicht völlig mit der Realität übereinstimmende Vorstellung von derselben. In beiden Fällen aber war dies eine durchaus gespaltene Basis.
Einmal nämlich die traditionalistischen oder traditionell orientierten Arbeitnehmerschichten in den sog. Stammgebieten und Stammsektoren der SPD, vor allem durch die Gewerkschaften repräsentiert. Und zweitens die "Neue Mitte", eine durch ökonomische Interessen und auch Lebensstilelemente zusammengehaltene Verbindung moderner, nicht direkt kapitalistischer Mittelschichten, kleine und mittlere Selbstständige, mit modernen Fraktionen dessen, was man früher Arbeiterklasse nannte, also der Arbeitnehmerschaft. Die qualifizierten Facharbeiter kommen in beiden vor. Die gesamten Angestellten und Beamten aber, die aufgrund ihrer Fachqualifikation lohnabhängig sind, doch dem Einkommen nach eine gewisse privilegierte Stellung einnehmen, werden zur "Neuen Mitte" geschlagen.
Die ganzen sozialpolitischen Re-Reformen der ersten Monate adressierten sich gar nicht an die Neue Mitte, nicht an die modernisierte Arbeitnehmerfraktion, sondern an die ältere, traditionellere. Es ist also nicht ganz richtig — ich habe das früher vielleicht auch nicht ganz korrekt interpretiert —, dass die Sozialdemokratie sich ausschließlich an die Neue Mitte adressierte. Sonst hätten sie die Wahlen auch nicht gewinnen können.
Beide Orientierungen, die "traditionalistische" wie die "modernistische" wurden in der Kategorie der "Neuen Mitte" im Grunde in einer völlig unreflektierten und sachlich unstimmigen Art und Weise zu einem ideologischen Brei zusammengerührt. De facto hat aber die alte Arbeitnehmerfraktion von den ersten Monaten sozialdemokratischer Regierungspolitik viel mehr profitiert als die sogenannte Neue Mitte.

Und nach den ersten Monaten?
Danach hat überhaupt niemand mehr von dieser Regierung profitiert.

Also trägt die Idee einer "Neuen Mitte" als gesellschaftlichem Reformweg nicht sehr weit?
Nein, so wie sie von der Sozialdemokratie formuliert wurde, nicht.
Man muss hierbei immer die Grünen mitdenken wurden, deren Wählerschaft viel mehr dem programmatischen Bild von der Neuen Mitte entsprechen. Ich habe in früheren Zeiten immer wieder versucht, gerade auch an die Adresse der Grünen, darauf hinzuweisen, dass die Grünen von ihrer Wählerschaft her — nicht von ihrer Funktionärsschicht — eine Partei der Lohnabhängigen war, wenn auch von relativ jüngeren und höher qualifizierten Lohnabhängigen mit einem überproportionalen Angestelltenanteil.
Dass Arbeiter nie grün gewählt haben, ist einfach nicht war. Als ein großer Teil der Wählerschaft von der SPD zu den Grünen gegangen ist, haben sie ihren Arbeitnehmer-, ihren Lohnarbeiterhabitus nicht aufgegeben, sie haben ihn nur modernisiert.
Die Entstehungsgeschichte des Konglomerats "Neue Mitte" und die Wandlungen innerhalb der Lohnarbeiterschaft sind sehr komplexe Prozesse. Und leider ist hier die traditionelle Linke, "traditionell" nicht abwertend gemeint, nicht auf der Höhe der Empirie. Wir leben in einer Gesellschaft mit mehr als 90% Lohnabhängigen, von denen sich ein knappes Drittel im Sozialversicherungsstatus des Arbeiters befinden. Von denen wiederum sind ein gutes Drittel Ausländer ohne Wahlrecht, zählen also schlicht nicht und sind auch keine Mitglieder welcher Partei auch immer. Es müsste doch klar sein, dass der Klassenaspekt in einer solchen Gesellschaft anders aussieht als 1950, als 70% der bundesdeutschen Bevölkerung Lohnabhängige waren, 50% von denen Arbeiter und 20% Angestellte und Beamte. Das ist offensichtlich noch nicht bei uns angekommen, abgesehen von Versuchen, wie bspw. dem von Max Koch. Gerade die Habitustheorien werden in der heutigen Klassenanalyse noch nicht genug berücksichtigt. Und das macht auch die politische Analyse und deren Anwendung so schwer.

Welche Bilanz ziehst du denn vor diesem Hintergrund nach vier Jahren Rot-Grün?
Das, was mir vor langer Zeit als rot-grünes Projekt vorschwebte und was ich "eine soziale Basis für Rot-Grün" nannte, ist gescheitert. Gescheitert ist der Versuch, die grünen Lohnabhängigen und die mit den Grünen sympathisierenden lohnabhängigen Wähler der Sozialdemokratie — zusammen etwa ein Drittel des gemeinsamen rot-grünen Potenzials, dass sich in ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft überschneidet und eine Schlüsselposition einnimmt — in eine gemeinsames Projekt zu bündeln. Die Formulierung eines solchen Konzeptes hätte viel Vorarbeit und Führung erfordert. Dazu waren nicht nur die Grünen, dazu war auch die Sozialdemokratie offensichtlich und entgegen meiner skeptischen Hoffnung nicht mehr in der Lage.
Das heißt zweierlei. Dieses Projekt ist gescheitert, da es keine programmatische Ausformulierung und auch keine politische Führung gefunden hat. Und da dies die letzte Chance der Sozialdemokratie als einer früher mal lohnabhängigen Partei war, ist damit, zweitens, auch das Ende der Wirksamkeit der Sozialdemokratie erreicht.
Die Sozialdemokratie wird aufhören, auch nur indirekt oder auf Umwegen ein Teil der auf tiefgreifende Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaft zielenden sozialen Bewegungen — früher nannte man das revolutionäre Arbeiterbewegung — sein. Sie wird das werden, was viele schon vor 40 Jahren beim Godesberger Programm viel zu früh vermutet hatten, sie wird eine kleinbürgerliche prokapitalistische Partei des auf Zusammenarbeit und Konsens orientierten Flügels der neoliberal reorganisierten Gesellschaft.
Die Konsequenz ist, dass sich eine sozialistische Linke nur in scharfer Abgrenzung gegen und außerhalb der Sozialdemokratie organisieren kann.

Und die Grünen, die du mal eine kleinbürgerliche Kulturbewegung genannt hast?
Die sind auch nicht der Ort. Diese über den Pazifismus und die Ökologie grün anpolitisierten Teile des selbständigen Mittelstands haben niemals begriffen, wer sie gewählt hat und aus welchem Grund.
Es hat niemals eine wirklich antikapitalistische Kritik der politischen Ökonomie gegeben, die sich auf die praktische Politik der Grünen ausgewirkt hat. Und dieser dogmatische, teils arbeitertümelnde, teils stalinistische Antikapitalismus dieses komischen Trabergespanns Ebermann und Trampert — seitdem die vor über 15 Jahren ihr Buch geschrieben haben, ist denen doch nichts wieder eingefallen. Die suchen überall nur Leute, die sie anpinkeln können, weil sie "Verräter" sind. Genauso wie der Gremliza und sein Scheißhaufen um Konkret ja nur die Gelegenheit suchen, andere linke Richtungen, die nicht ihre speziellen Vorurteile teilen, des Verrats zu bezichtigen. Irgendjemand hat mal geschrieben, das sei die zynische Linke, deren Aufgabe nur darin besteht, andere Linke nieder zu machen, ohne dass sie selbst irgend etwas produktives zu leisten vermögen.

Spätestens nach Lafontaines Rücktritt, mit dem Zerfall dessen, was mal die SPD-Linke war, sahen sehr viele ihre allgemein emanzipativen wie spezifisch sozialistisch-klassenpolitischen Hoffnungen in der PDS. Mir scheint, dass die PDS von Klassenpolitik im besten Falle spricht, wenn es um ihre Rentner oder die spezifischen Probleme der Ex-DDR-Intelligenz geht.
Die PDS ist ein Ansatzpunkt für die Neuentwicklung dessen, was man früher orthodox als Linkszentrismus bezeichnet hat. Ich habe gerade mal wieder in den Briefen von Trotzki gelesen, und er schreibt über denselben, dass er eine Bewegung von Leuten ist, die sich vom Reformismus noch nicht haben korrumpieren lassen, aber die Kraft und den Mut für den revolutionären Weg nicht besitzen. Die Position einer ernsthaften linksreformistischen Kraft, die nicht jeder streitigen Auseinandersetzung mit den herrschenden Klassen und dem System der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft aus dem Wege geht, um sofort auf den bequemen Weg des Kompromisses zuzusteuern, diesen Raum besetzt die PDS unter den gegebenen Bedingungen.
Das Wählerpotenzial dafür ist da, es liegt in ganz Europa schätzungsweise bei 10—15%. Diesen Platz hält die PDS gewissermaßen frei und symbolisiert die Möglichkeit einer solchen Politik, ohne in der Lage zu sein, diese Politik selber zu betreiben. Es ist doch kein Zufall, dass kein herausragender Gewerkschafter oder Betriebsrat eines Großbetriebs glaubt, er könne seiner Sache dadurch dienlich sein, dass er sich in der PDS organisiert. Am ehesten noch unser alter Freund Hermann Dierkes in Duisburg und der steht als Parteiloser auf der kommunalen PDS-Liste. Alle anderen zucken nur die Achseln, wenn die Sprache auf die PDS kommt.
In jenen neuen Bundesländern, für die die Klassenanalyse noch nicht den treffenden Namen gefunden hat, repräsentieren die PDS‘ler dagegen keineswegs die arbeitende Bevölkerung. Sie repräsentieren überwiegend die abgewickelten Kader des alten Regimes mit deren Klienteln. Und sie haben mit den Leuten, die auf der örtlichen Ebene tätig waren auch die Kader für eine gute Kommunalpolitik, die wahrscheinlich sozialer und weniger korrupt als die der anderen sind, die aber überhaupt nichts systemüberwindendes an sich haben. Die Programmatiker wie Dieter Klein und die Gebrüder Brie glauben, dass der Marxismus gescheitert ist, weil sie den Marxismus nur kennen gelernt haben in der völlig verkommenen und entstellten Form des ML-Dogmatismus in der alten DDR. Deswegen glauben sie, einen neuen entwickeln zu müssen, aber dafür reichen ihre theoretischen Ressourcen nicht aus. Deswegen ist das Programm eines modernen Reformsozialismus so dünnblütig und inkonsistent und für die westdeutsche Linke in gar keiner Weise interessant.

Bereits in einem Interview von 1998 hast du gesagt: "Nur noch in einem breiten Bündnis von sozialen und kulturellen Organisationen kann heute jene politische Bewegung entstehen, über die ein neues sozialreformerisches Gesellschaftsprojekt mehrheitsfähig wird." Ist Peter von Oertzen also ein Anhänger der neuen globalisierungskritischen Bewegungen geworden?
Ich verbreite im Augenblick nicht zufällig gerade euer Sozialistisches Heft, erstens wegen des klugen Aufsatzes von Leo Panitch und zweitens wegen der resümierenden und einen Zusammenhang herstellenden Artikel von Gerhard Klas und dir.
Die Bewegung, die schließlich die Stütze einer linksreformistischen Strömung in der Gesellschaft sein wird, soviel ist klar, wird weit über das hinausgehen, was man traditionellerweise als Arbeiterbewegung bezeichnet. Aber wo ist der organisierende Hebel, den ich bewegen kann? Der einzige organisierte Zusammenhang, der noch besteht, von dem aus eine erneuerte antikapitalistische, reformistische Arbeitnehmerlinke geschaffen werden könnte, ist die Linke in den Betrieben und Gewerkschaften — solange es sie noch gibt.

Aber wie muss eigentlich eine zeitgenössische Klassenpolitik heute aussehen, wo muss sie inhaltlich-theoretisch ansetzen?
Wenn meine organisationspolitische Analyse zutrifft, muss sie natürlich bei den zentralen Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung ansetzen, die zur Zeit ihren organisatorischen Niederschlag in den Gewerkschaften findet. Bei den Problemen, die für aktive Gewerkschaftsarbeit von entscheidender Bedeutung sind. Da gibt es mehrere Kampffelder.
Einmal die theoretische Auseinandersetzung mit der ganzen Deformation des individuellen Denkens durch die Hegemonie dieser neoklassischen, neoliberalen Dogmen. Was wir brauchen, ist eine einigermaßen funktionsfähige Organisation — Organisation im ganz wörtlichen Sinne — linker Sozialwissenschaftler, v.a. linker Ökonomen — und wenn es nur drei Dutzend sind —, damit die sich nicht in ihren kleinen linken Krautgärtchen und universitären Hinterhöfen verschanzen, sondern Erfahrungen austauschen und miteinander reden und öffentlich Partei ergreifen. Da gibt es erste Versuche.
Dann muss der Versuch gemacht werden, Konzepte für öffentliche Unternehmen zu entwickeln, die modernisiert, demokratisiert, enthierarchisiert und entbürokratisiert sind, nicht aber privatisiert. Das ist ja nicht dasselbe. Wenn man den öffentlichen Sektor den Kapital-Haien vorwirft, müssen nicht nur die tatsächlichen Kosten erarbeitet werden, sondern auch noch der private Profit.
Es geht auch um die klein- und großteilige Regionalisierung und vielleicht auch Lokalisierung des Kampfes gegen Arbeitslosigkeit und Armut und deren permanente Desintegrationsprozesse — auch um den rechten Rattenfängern entgegenzusteuern. Und es bedarf einer internationalen Perspektive für die Wiederherstellung eines entbürokratisierten und demokratisierten, ökonomisch gesehen: keynesianisch begründeten Wohlfahrtsstaats in Europa. Auch auf nationaler Ebene lässt sich mehr tun. Dafür ist Lafontaine ein Zeugnis. Er ist aber auch ein Zeugnis dafür, mit wem man sich da anlegt. Da muss man wissen, was man tut. Wir brauchen eine funktionsfähige sozialreformerische Eurolinke.
Natürlich muss, schließlich, der Versuch gemacht werden, die verschiedenen zersplitterten Zusammenhänge zu einem rationalen, nicht nur emotional pöbelhaft schimpfenden Standpunkt gegen den Imperialismus speziell in Gestalt der US-amerikanischen Regierungspolitik zusammenzuschließen. Es geht dabei nicht um Antiamerikanismus, sondern um Antiimperialismus. Die US-amerikanische Demokratie ist ja von ihren Ursprüngen, Traditionen und Institutionen kein imperialistisches Gewächs, das ist sie erst Ende des 19.Jahrhunderts geworden, Schritt für Schritt mit bitteren inneren Auseinandersetzungen. Da brauchen wir eine differenzierte Sichtweise, keine Platitüden.


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang