SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 8

Deutsche Afghanistan-Politik einst und heute

Kolumne von Winfried Wolf

Eine wesentliche Erkenntnis der politischen Entwicklung seit 1990 lautet: Es gibt kein "Ende der Geschichte". Im Gegenteil: Mit dem Wegfall der "Systemkonkurrenz" wird die kapitalistische Entwicklung wieder weit unvermittelter von ihren naturwüchsigen Triebkräften — Profitmaximierung, Konkurrenz, Expansion und Krieg — bestimmt. Gleichzeitig greift die bürgerliche Politik auf Projekte zurück, die der Vergangenheit anzugehören schienen. Teilweise wiederholt sich Geschichte — in der berüchtigten Form der Karikatur.
Kaum hatte sich die "Berliner Republik" etabliert, übte sie sich in Weltpolitik. Ende 2001 hatte das deutsche Außenministerium in einer Blitz-Diplomatie eine "Petersberger Konferenz" ins Leben gerufen, dort die Vertreter des greisen afghanischen Königs Zahir Schah als Schlüsselfiguren und zur Stärkung der neuen Regierung unter Karsai und sich selbst als "ehrlichen Makler" präsentiert. Die historische Parallele bildete die Balkankonferenz von 1878. Damals war das erst sieben Jahre zuvor gegründete Deutsche Reich imperialistischer Absichten noch wenig verdächtig. Nach einer Reihe von Kriegen auf dem Balkan, an denen das Deutsche Reich nicht beteiligt war, begann am 13.Juni 1878 in Berlin die Balkankonferenz, auf der sich Reichskanzler Bismarck als "ehrlichen Makler" präsentierte. Die von Leo Trotzki 1912, 25 Jahre später, vor dem Hintergrund der neuen Balkankriege vorgenommene Bilanz dieser Konferenz könnte sinngemäß auch auf die Petersberger Konferenz von 2001 zutreffen: "Auf der Berliner Konferenz wurden alle Maßnahmen ergriffen, um die nationale Vielfalt des Balkans in einen ständigen Kampf zwischen den Kleinstaaten übergehen zu lassen." Wobei das Wort "Kleinstaaten" im Fall Afghanistans in "ethnische Gruppierungen" und "Stämme" zu übersetzen wäre.
Am 17.April 2002 startete eine Boeing 707 vom italienischen Luftwaffenstützpunkt Pratica di Mare, um den 87 Jahre alten afghanischen König nach Kabul zu bringen. Zahir Schah soll in Afghanistan die Stammeskonferenz Loya Jirga eröffnen, die eine Machtbalance zwischen den unterschiedlichen Kräften aushandeln soll. Für die Sicherheit des Königs ist gesorgt; 50 Carabinieri flogen mit ihm als neue Leibwache; darüber hinaus werden 400 neu ausgebildete afghanische Polizisten als sein Schutz bereit gestellt. Die Loya Jirga und die Ausbildungshilfe für die Polizei werden von Berlin finanziert. Ansonsten sind die Verhältnisse im Land alles andere als befriedigend. In den Worten der Stuttgarter Zeitung: "Das Land ist ein Trümmerhaufen. Das Recht des Stärkeren bricht sich längst wieder die Bahn. Mehr als zwei Millionen Afghanen sind zum Überleben auf westliche Hilfe angewiesen. Die westlichen Soldaten versuchen, mit allen Kräften in Kabul die zivile Ordnung zu bewahren. Jenseits der Stadt sind alle Bemühungen aussichtslos."
König Zahir Schah wird der westlichen Öffentlichkeit als Vertreter der Zivilisation vorgestellt. Der Mann fungierte zwischen 1933 und 1973 bereits als König in Kabul. Zu seiner Politik während des Zweiten Weltkriegs schrieb der Spiegel: "Der Monarch steuerte im Zweiten Weltkrieg aber einen Kurs strikter Neutralität." Das liest sich in den Akten des Auswärtigen Amtes anders.
Dort findet sich unter dem Datum vom 3.Oktober 1940 der folgende Bericht: "Geheim. Nr.287 ... Afghanischer Gesandter (Allah Nawaz Khan) besuchte mich am 3. September und übermittelte Grüße seines Ministerpräsidenten und seines Kriegsministers sowie deren Wünsche für einen günstigen Kriegsverlauf. Er erkundigte sich, ob deutsche Absichten und afghanische Hoffnungen in Afghanistan sich deckten; anspielte auf Unterdrückung arabischer Staaten und hinwies auf 15 Millionen Afghanen, die auf indischem Boden zu leiden hätten. Ich erklärte ihm, daß deutsches Ziel Befreiung unter britischem Joch stehender Völker in besprochenem Raum... sei, was Afghanischer Gesandter mit Befriedigung aufnahm. Er erklärte, Gerechtigkeit für Afghanistan sei erst geschaffen, wenn Grenze (des) Landes bis zum Indus reiche, was auch dann gelte, wenn Indien sich vom Britischen Imperium löse." Der Brief ist vom damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ulrich von Weizsäcker, unterzeichnet.
Von "strikter Neutralität" konnte demnach keine Rede sein. Richtig ist vielmehr, dass sich damals die Achse Berlin—Kabul nicht entwickeln konnte, weil die Kräfte der NS-Armee nicht ausreichten, um die britische Kolonialmacht in Indien zu bedrohen. Die Kräfte der Bundesregierung werden auch heute nicht ausreichen, um in Kabul in relevantem Umfang eine eigene Politik zu betreiben. Dort geben weiterhin die US-amerikanischen und die britischen Militärs den Ton an. Bemerkenswert ist jedoch die Kontinuität der Politik, in der sich das Auswärtige Amt unter Fischer bewegt.
Nachdem zu den von SPD und Grünen gesponserten "Werten der Zivilisation" auch Stammesversammlungen und monarchische Schirmherrschaft zählen, fehlt nur noch das Plädoyer für die Wiedereinführung des Absolutismus in der Bundesrepublik Deutschland selbst. Auch das ist nicht völlig auszuschließen. Auf die Frage "Sind Ihre Erkenntnisse von der Notwendigkeit von Bundeswehr- Einsätzen in Afghanistan mehrheitsfähig in Deutschland?", antwortete seine Majestät, Kanzler Gerhard I.: " Das ist noch nicht alles vollständig gelernt, am ehesten wohl in der politischen und ökonomischen Klasse akzeptiert."


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