SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 11

Für die Sozialisierung des Staates

Emanzipatorische und demokratische Antworten gegen Privatisierungen entwickeln

Im Zuge der Privatisierungen und Umstrukturierungen von Post, Telekom, Stromversorgung, Gesundheitsversorgung und zahlreichen kommunalen Versorgungsbetrieben entwickelt sich in der gewerkschaftlichen Linken und in Attac endlich eine Diskussion, wie diese unsozialen Angriffe abgewehrt werden können.
Viele, die den Privatisierungen kritisch gegenüberstehen, lassen sich allerdings weitgehend auf die Prämissen der Privatisierungspropagandisten ein. Sei es, dass sie ein betriebswirtschaftliches Effizienzverständnis übernehmen oder sei es, dass sie die Legende des öffentlichen Finanznotstands akzeptieren. Als Reaktion darauf verteidigen andere schlicht das Staatseigentum, ohne weitergehende Perspektiven zu entwickeln.
Der konsequente Widerstand gegen Privatisierungen muss jedoch mit einer Perspektive verbunden werden, die die sozialen Bedürfnisse und demokratischen Ambitionen der Menschen in einer emanzipatorischen Perspektive in den Mittelpunkt rückt. Anstatt vermeintlichen Sachzwängen zu folgen, gilt es zunächst, die ökonomische Logik der Privatisierungen und die politischen Machtverhältnisse zu erkennen. Die folgenden sieben Thesen sollen zu einer Diskussion bei Attac, Gewerkschaften und Verbraucherverbänden anregen.

1. Privatisierungen sind Bestandteil des neoliberalen Gesellschaftsumbaus
Der Kapitalismus geriet Mitte der 70er Jahre in eine Strukturkrise, die vor allem durch ein Absinken der Profitabilität und eine gebremste Akkumulationstätigkeit gekennzeichnet war. Die Regierungen in Europa und Nordamerika reagierten zunächst mit den bekannten keynesianischen Rezepten einer Nachfragestimulierung.
Seit Ende der 70er Jahre haben sie zunehmend erkannt, dass sie die Verwertungsbedingungen für das Kapital mit radikaleren Methoden verbessern müssen. Die konservative Regierung Thatcher hat in Großbritannien ab 1979 als erste ein umfassendes neokonservatives Programm umgesetzt. Die US-Regierung unter Reagan kombinierte die antisoziale Offensive mit einem gigantischen Rüstungsprogramm im Sinne eines Militärkeynesianismus.
In den meisten Ländern Europas konnte sich eine vergleichbare Politik zunächst nur zögerlich durchsetzen. Der Aufschwung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in den USA und in Europa schwächte die Brisanz der Auseinandersetzung vorübergehend ab.
Im Zuge der Krise 1991/92 startete das Bürgertum in allen kapitalistischen Ländern mit dem erpresserischen Argument der Verbesserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit und im Namen der Anpassung überkommener Strukturen eine breit angelegte Offensive.
Seither wurden zahlreiche soziale Errungenschaften abgeschafft und weitere werden laufend in Frage gestellt. Die umfassenden Privatisierungswellen, die sowohl von den sozialliberal-grünen wie bürgerlichen Regierungen in Europa vorangetrieben werden, ordnen sich in einen umfassenden Kontext ein.

2. Verbilligung der Arbeit
Die industriellen Restrukturierungen sind mit neuen Formen der internationalen Arbeitsteilung und der Arbeitsorganisation verbunden. Zentrales Anliegen bleibt immer noch, den Mehrwert, also den Anteil der Arbeit, der den Lohnabhängigen nicht entgolten wird, zu vergrößern, die Lohnstückkosten zu senken und somit die Profitrate zu erhöhen.
Mit der Verweigerung des Inflationsausgleichs und der Nichtbezahlung von Überstunden wird ein direkter Lohnabbau betrieben. Die Schaffung hochflexibler und spezialisierter Produktionsstrukturen senkt die Kosten. Parallel dazu erfolgt die Flexibilisierung der Arbeit und der Lohnverhältnisse.
Aufgrund der hohen Arbeitsproduktivität sind Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer in den strategischen Branchen ein marginales Phänomen. Die angestiegene Erwerbslosigkeit und die Beschneidung der Rechte der Erwerbslosen bewirken einen zusätzlichen Lohndruck.

3. Verringerung der Sozialisierung der Gewinne
Das Steuersystem trägt je nach Ausgestaltung zu einer sozialen Umverteilung des Reichtums bei. Direkte Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Unternehmenserträge führen zu einer gewissen Sozialisierung der Gewinne. Genau das wurde in den 80er und 90er Jahren geändert. In zahlreichen Ländern wurden Steuerreformen durchgeführt, die die Unternehmen begünstigten. Zu nennen sind die Abschaffung der Vermögensteuer (durch die Kohl-Regierung) sowie die steuerlichen Begünstigungen großer Unternehmen und von Firmenzusammenschlüssen (durch die Schröder-Regierung).
Den bürgerlichen und sozial-liberal-grünen Regierungen geht es jedoch weniger um die wirkliche Sanierung der Haushalte als um die Zurückdrängung des Staates aus der Wirtschaft. Ihre Politik entspricht einem leicht verständlichen Muster: Sobald Defizite erscheinen, verlangen sie Ausgabenreduktionen.
Führen diese zu einem ausgeglicheneren Haushalt, fordern sie sofort Steuerreduktionen. Diese wiederum bewirken neue Defizite. Die Defizite dienen wiederum als Vorwand, erneute Ausgabensenkungen zu fordern. Diese Politik verfolgt das Ziel, zuerst mit Steuersenkungen die teilweise Vergesellschaftung der Gewinne zu reduzieren und dann mit Sparprogrammen und Gebührenerhöhungen mehr Geld aus den Taschen der Lohnabhängigen zu ziehen.
Gleichzeitig kann die Handlungsfähigkeit des Staates auf der wirtschaftlichen Ebene verringert werden. Privatisierungen dienen also nicht der Verminderung der Staatsschulden, sondern die Staatsschulden werden provoziert, um den Staat in den Bereichen Infrastruktur und Soziales zurückzudrängen.

4. Neue Verwertungsmöglichkeiten für das Kapital: Privatisierungen
Die Privatisierungen wurden in den achtziger Jahren in Europa mit Ausnahme von Großbritannien eher zaghaft realisiert, ideologisch wurden sie bereits zielstrebig vorbereitet. In den 90er Jahren setzte dann die Zerstückelung und Privatisierung einiger zentraler Sektoren ein (Telekom, Post, verschiedene kommunale Dienste).
Neue Technologien (z.B. im Bereich der Telekommunikation) kamen sogleich unter die Kontrolle privater Konzerne. Jetzt läuft eine weitere Welle in den Bereichen Bahn, Gesundheitswesen, Altersversorgung , Bildung und Arbeitsvermittlung.

5. Privatisierungen befördern die Entstehung globaler Oligopole
Die Entwicklung im Telekommunikationsbereich zeigt es: Zwar wurden auf nationaler Ebene staatliche Monopole abgeschafft. Aber bereits jetzt vollzieht sich eine zunehmende Konzentration, nun aber auf internationaler Ebene. Einige wenige Global Players greifen sich gegenseitig in ihren Heimmärkten an.
Ähnliches geschieht in anderen Bereichen. So agiert die Deutsche Post mittlerweile als zentrale Kraft in den internationalen Logistikmärkten. Der französische Konzern Vivendi hat sich der öffentlichen Infrastruktur in zahlreichen Städten auch außerhalb Frankreichs bemächtigt. Zentrale Infrastruktureinrichtungen werden damit jeglicher öffentlichen und demokratischen, ja sogar parlamentarischen, Kontrolle entzogen.

6. Privatisierungen schaffen Bürgerrechte ab
Die bürgerlichen, sozialdemokratischen und grünen Parteien bedienen sich demagogisch der Parole "Abbau von Bürokratie". Im Namen von "individuellen Freiheiten" und des Marktes stellen sie die ohnehin bescheidene soziale Ausgleichsrolle des Staates in Frage. In diesem neoliberalen Sinne bedeutet "weniger Staat" nichts anderes als ein Angriff auf die Erfüllung öffentlicher Bedürfnisse.
Die neoliberalen Ideologen und ihre sozialliberal-grünen Nachbeter geben vor, die öffentlichen Dienste und die soziale Sicherheit seien als Waren zu betrachten, für die das Gesetz von Angebot und Nachfrage spielen solle: Wer bezahlen kann, hat Anrecht auf das Beste. Infolgedessen wollen sie die Dienstleistungen im Gesundheitswesen, im Verkehr, in der Telekommunikation und sogar im Bildungswesen im Zuge von Verwaltungsreformen und Privatisierungen in die Zwangsjacke betriebswirtschaftlicher Effizienz und Rentabilität stecken.
Diese führen volkswirtschaftlich zu Verschwendung und steigern die soziale Ungleichheiten. Die Bürgerrechte an öffentlichen Diensten werden damit abgeschafft. Die Bürgerinnen und Bürger werden zu Kunden oder im Falle mangelnder Kaufkraft zu Almosenempfängern.

7. Neue und weitergehende Antworten entwickeln
Sicherheit, die internationalen Finanzmärkte sowie die Aufrüstung sind als miteinander verflochtene Probleme zu betrachten.
Demzufolge kann auch eine alternative Politik nicht einzelne Teile isolieren und scheinbar pragmatisch realisierbare Lösungen anbieten. Bei allen Brennpunkten ist es erforderlich, Bündnisse, insbesondere zwischen den betroffenen Beschäftigten und Benützern, zu entwickeln.

• Sozialisierung statt Privatisierung der öffentlichen Dienste
Die herkömmliche, rein betriebswirtschaftlich orientierte Idee der Effizienz ist grundsätzlich abzulehnen. Es ist eine Effizienz, die dazu führt, dass das ein breites öffentliches Angebot umso kleiner wird, je mehr das Angebot an Spezialdiensten zunimmt, die zwar einen hohen Qualitätsstandard aufweisen, aber nur von Leuten mit großer Kaufkraft beansprucht werden können.
Die Altersvorsorge und die Krankenversicherungen sind zu modernisieren und unter öffentlicher Kontrolle zu vereinheitlichen um aus dem Dschungel von privaten Vorsorgeeinrichtungen und den damit verbundenen Abzockereien hinauszutreten.
Durch eine Verbreiterung der Bemessungsbasis und eine progressive Gestaltung der Prämien kann der "Finanzierungsnotstand" behoben werden. Das Gesundheitswesen soll auch den Rentnerinnen und Rentnern einen würdigen Lebensabend als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft garantieren.
Die Verwirklichung der oben erwähnten Rechte setzt entsprechende öffentliche Dienstleistungen voraus. Gratiseinrichtungen basieren auf einem Verständnis von "gleiche Rechte für alle". Diese Idee steht im Zentrum einer solidarischen Konzeption der öffentlichen Dienste. Selbstverständlich reicht es nicht, den Ist-Zustand zu verteidigen.
Dennoch können die öffentlichen Dienste Ansätze einer Alternative zu den Bereicherungsmechanismen des Marktes darstellen. Die öffentlichen Dienste weiterentwickeln heißt: Die Lohnabhängigen sind in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Das erleichtert die Bewertung der Arbeit, weil andere Bewertungskriterien angewendet werden als diejenigen der traditionellen "Unternehmenskultur".
Hierarchische Strukturen sollen abgebaut werden. Denn sie haben nur den Sinn, das Personal ohne Eigenverantwortung zu kontrollieren und die bürokratischen Administrationsmechanismen zu erhalten, anstatt die Qualität der zu leistenden Dienste zu gewährleisten.
Ein echter Dialog zwischen Benutzern/Bürgern — die bis jetzt nur als passive Konsumenten wahrgenommen worden sind — und Personal soll entwickelt werden. Dadurch können die Angebote sozial gestaltet und gleichzeitig deren Vielfalt garantiert werden.
Angesichts der internationalen Verflechtungen, der stark angestiegenen Mobilität der Lohnabhängigen in Europa und des europaweiten und globalen Agierens großer Konzerne sind Alternativen auf europäischer Ebene zu formulieren. Welche Bahnen wollen wir in Europa, welche Sozialversicherungen, welche Telekommunikation? Wie können die europäischen mit den nationalen, regionalen und lokalen Strukturen verschränkt werden? Ein Zurück zur nationalen Perspektive ist ausgeschlossen.
Weit davon entfernt, die Gesellschaft verstaatlichen zu wollen, ist vielmehr die Sozialisierung des Staates anzustreben. Das heißt, die BürgerInnen nehmen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand. In diesem Sinne ist ein grundsätzlicher Widerstand gegen die Privatisierung der Krankenhäuser, der Altersvorsorge, der Krankenversicherungen, der öffentlichen Verkehrs und anderer Teile der öffentlichen Verwaltung die Voraussetzung für die Formulierung kohärenter Alternativen.

• Für eine radikale Arbeitszeitverkürzung
Widerstand gegen die Privatisierungen muss mit einer aktiven Politik gegen die Erwerbslosigkeit verknüpft werden. Alleine die Verwirklichung der oben genannten Schritte schafft mehr Arbeitsplätze. Mehr noch, eine neue, solidarische Konzeption der öffentlichen Dienste ist mit einer Politik zur Umverteilung der Arbeit zu verknüpfen.
Voraussetzung für eine Umverteilung der Arbeit ist eine radikale Arbeitszeitverkürzung: die 35-Stunden- Woche auf dem Weg zur 32-Stunden-Woche auf europäischer Ebene bei Erhaltung der Kaufkraft für die Mehrheit der Lohnabhängigen. Die radikale Arbeitszeitverkürzung ist das wirksamste Mittel gegen die Erwerbslosigkeit und ist angesichts der enormen Produktivitätsfortschritte ökonomisch gerechtfertigt.
Doch es geht um ein umfassenderes Problem. Es sind Vorstellungen für eine Neuverteilung der Arbeit, der eingesparten Arbeit und der Freizeit zu entwickeln. Ein solches Herangehen wirft unmittelbar auch die Frage nach der Neuorganisierung der Arbeitsverhältnisse, der Umverteilung der reproduktiven Arbeiten und der Neugestaltung der internationalen Arbeitsteilung auf.
Eine radikale Arbeitszeitverkürzung ist ein wesentliches Instrument zur Neugestaltung der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern. Im Rahmen einer Neuorganisation der Arbeit ist schließlich die Frage aufzuwerfen, wo zusätzliche Arbeit dringend nötig ist. In vielen Bereichen unserer Gesellschaft, hauptsächlich bei der Bildung und im Sozialwesen können zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Damit sind wir wieder bei der Frage der öffentlichen Dienste.
Christian Zeller


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