SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2002, Seite 14

Wahlen in Frankreich

Die rosa Welle ist vorbei

Kaum vier Jahre ist es her, dass 13 von 15 Ländern der EU sozialdemokratisch geführte Regierungen oder Koalitionen mit sozialistischer Beteiligung aufwiesen. Spätestens seit dem Wahlsieg von Silvio Berlusconi vor einem Jahr hat sich das Blatt europaweit gewendet. Auch Frankreich hat nun scheinbar eine stramme Rechtswende vollführt. Am Wahlsonntag blieben nach dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl nur noch der bürgerliche Staatspräsident Jacques Chirac (19,7%) und sein rechtsextremer Herausforderer Jean-Marie Le Pen (17%). Die Stichwahl wird am 5.Mai sein.
Bei näherem Hinsehen besteht die Haupttendenz heute nicht darin, dass die Rechte oder die Neofaschisten so sehr gewonnen hätten — das zentrale Phänomen ist vielmehr, dass die etablierten Linksparteien die Wahl verloren haben. Keiner der 16 Bewerbungen auf das französische Präsidentenamt hat die 20%-Marke erreicht, und Jacques Chiracs Ergebnis liegt unterhalb seiner Resultate im ersten Wahlgang der Präsidentenwahlen von 1988 (19,9%) und 1995 (20,8%).

Gewinne der extremen Rechten

Die extreme Rechte ihrerseits hat unbestreitbar hinzugewonnen, denn zu den 17% von Jean-Marie Le Pen muss man noch die für seinen geschassten ehemaligen Chefideologen Bruno Mégret abgegebenen 2,4% hinzuzählen. Damit trennt die Neofaschisten nur mehr ein halber Prozentpunkt von der 20%-Marke.
Teilweise erklärt sich das Phänomen auch daraus, dass bei den vorigen Wahlgängen noch eine nationalkonservative Rechte (Graf Philippe de Villiers & Charles Pasqua) eine Art Puffer zwischen dem konservativ-liberalen Lager und den Neofaschisten gebildet hatte. Beide Rechtsaußen-Konservativen waren in diesem Jahr nicht zur Präsidentschaftswahl angetreten.
Allerdings kam nur ein Teil dieser nationalkonservativen Stimmen dem Altfaschisten Le Pen zugute, denn in dessen Wählerschaft sind die sozial schlechter gestellten Schichten deutlich überrepräsentiert. Das trifft auf die Anhänger von Pasqua und de Villiers nicht gleichermaßen zu. Das Votum für die rechtsextremen Kandidaten nährt sich zum Teil aus sozialer Unzufriedenheit und pervertiertem Protest — kombiniert diesen aber mit einem massiven Rassismus, der für einen Teil dieser Wähler bis in die Erinnerung an den Algerienkrieg zurückreicht.

Die Regierungslinke verliert

Das Hauptmerkmal der Wahl bleibt aber, dass die regierenden Linksparteien ihre großen Verlierer sind. Für die französische KP, deren Kandidat Robert Hue nur noch 3,4% erhielt, kommt das Verdikt der Wahlurnen nahezu einem Todesurteil gleich. Denn durch das Verfehlen der 5%-Marke bleibt ihr das Recht auf volle Erstattung ihrer Wahlkampfkosten nunmehr vorenthalten. Damit wird sie enorme Probleme haben, ihren bereits heute überdimensionierten Apparat zu finanzieren. Noch nie seit den 30er Jahren des 20.Jahrhunderts hatte die Partei unterhalb der 5% gelegen. Sie bezahlt damit bitter die Bilanz ihrer Regierungsbeteiligung. Denn trotz ihrer Präsenz im Kabinett und gelegentlichen symbolischen Meckerns der KP-Spitze hat die Jospin-Regierung faktisch eine neoliberale Politik wie andere EU-Regierungen auch betrieben.
Die Rechnung dafür bezahlt natürlich auch der scheidende Regierungschef Lionel Jospin, der mit nur 16,1% hinter Jean-Marie Le Pen zurückfiel. Einige Medien hatten in den Tagen vor der Wahl vor einer Stichwahl Le Pen — Chirac gewarnt und eine "Kleineres- Übel"-Kampagne zugunsten Jospins betrieben. Es hat nichts genützt. Eine Regierung, die in den ersten vier Jahren ihrer Amtszeit mehr privatisiert hat als ihre konservativen Vorgängerkabinette, und die die seit langem durch die Linke versprochene 35-Stunden-Woche lediglich als Türöffner für die Flexibilisierung der Arbeitszeiten nutzte, konnte nicht begeistern. Jospin hat vor allem auf seiner Linken verloren, aber auch an die Nichtwähler, die mit über 28% einen Zuwachs um über sieben Punkte erfuhren.

Durchbruch der radikalen Linken

Das eigentlich Neue an dieser Wahl ist zugleich der Durchbruch der radikalen Linken. Die langjährige trotzkistische Präsidentschaftskandidatin Arlette Laguiller von Lutte Ouvrière (LO — Arbeiterkampf) erhielt mit 5,8% nur ein knappes halbes Prozent mehr als beim letzten Mal. Doch neben ihr haben dieses Mal auch andere radikale Kräfte Erfolge erzielt. Die LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire/IV.Internationale) war in diesem Jahr durch den jüngsten und unkonventionellsten unter den Präsidentschaftskandidaten vertreten. Olivier Besancenot, der drei Tage vor der Wahl seinen 28.Geburtstag feierte, ist im Zivilleben Postangesteller und Briefträger. Er profilierte sich als Kandidat der Protestgeneration von Seattle und Genua, bezog sich aber auch eindeutig auf die Traditionen des revolutionären Marxismus — freilich auf recht undogmatische Weise.
Mit 4,3% erhielt auch er einen in dem Ausmaß unerwarteten Erfolg. Ein weiterer Kandidat der radikalen Linken, Daniel Gluckstein von der autoritären Politsekte "Partei der Arbeiter" (PT), erhielt knapp unter 0,5%. Das ergibt zusammen knapp 11% für die radikale Linke.
Eine Woche vor der Wahl forderte Besancenot die prominentere Mitkandidatin Arlette Laguiller zur gemeinsamen Gründung einer "nicht sektiererischen, aber klar antikapitalistischen", pluralen Partei der radikalen Linken auf. Diese schlug das Angebot zunächst aus, erklärte aber am Tag darauf, im Fall eines ausreichenden Wahlergebnisses selbst die Initiative dazu ergreifen zu wollen. Das hatte sie allerdings auch schon bei der letzten Präsidentschaftswahl 1995 angekündigt.
Doch ihre Partei LO blieb einer aus der Ära des Kalten Krieges der 50er Jahre ererbten, ziemlich abgeschotteten Funktionsweise verhaftet. In den letzten Jahren aber hat LO sich sozialen Bewegungen gegenüber dennoch in gewissen Grenzen öffnen müssen.
Dass Arlette auf der radikalen Linken nun nicht mehr allein steht, und die Krise der KP sich verschärft hat, könnte dem Projekt einer pluralen radikalen linken Kraft neuen Schwung geben. Ungefähr so, wie Arlette Laguiller es angekündigt hat: Eine neue kommunistische Kraft, "die in den Unternehmen präsent ist, aber auch in den Wohngebieten, die dort überall dem Rassismus und dem Chauvinismus entgegentritt, aber auch dem Kommunitarismus und dem Fundamentalismus aller Couleur Einhalt gebietet."
Für die revolutionäre Linke stellt sich nunmehr die Frage des Verhaltens in der Stichwahl in einem völlig neuen Licht. Bisher hatten LO und LCR angekündigt, nicht zur Wahl Jospins gegen Chirac aufzurufen, sondern ihrer Wählerschaft die Entscheidung zu überlassen. Die Präsenz des Rechtsextremen Le Pen hat die Ausgangslage nunmehr verändert.
Am Wahlabend erklärte Arlette Laguiller, den sozialen Widerstand gegen den höchstwahrscheinlichen Sieger der Stichwahl — Jacques Chirac — organisieren zu wollen. Ein Wahlaufruf zu dessen Gunsten komme für ihre Formation nicht in Frage. Zu Le Pen verlor sie unterdessen kein Wörtchen.
Anders war die Reaktion der LCR: Obwohl von ihrem Wahlergebnis beglückt, löste sie ihren Wahlabend noch vor 22 Uhr auf, um sich der Spontandemonstration gegen Le Pen anzuschließen, zu der das Antifa-Netzwerk RLF aufrief. Noch in der Nacht demonstrierten mindestens 15000 Menschen vom Odéon-Theater über die Place de la République bis zur Bastille. Die letzten Demonstrantengruppen lösten sich nicht vor 4 Uhr früh auf. In der Menge fanden sich Jospin-Poster enttäuschter Jungsozialisten ebenso wie schwarz-rote Fahnen der Anarchosyndikalisten, das Rot der LCR und die Sonnenblume der Grünen.
Die Frage, wie es so weit kommen konnte und welche Verantwortung Jospin an der Entwicklung trägt, konnte in der Nacht nicht mehr ausdiskutiert werden.
Bernhard Schmid (Paris)


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