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Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, identifiziert vor dem Hintergrund der Globalisierung Gesundheit als "ein
ökonomisches Gut" und als eine "Wachstumslokomotive des neuen Jahrhunderts". Wahr ist: Wer es sich leisten kann, lässt sich Gesundheit etwas kosten.
Die anderen aber hätten eine umfassende Gesundheitsversorgung oft um so nötiger. Denn diejenigen mit belastenden Arbeitsplätzen, bedrückenden
Wohnverhältnissen und ohne das Kleingeld für den Einkauf im Bioladen sterben durchschnittlich sieben Jahre früher.
Doch schrittweise und durchaus nicht schleichend wird bei unserer Gesundheit die breite Bedarfsdeckung
über die öffentliche Daseinsvorsorge abgelöst durch eine bloße Befriedigung der zahlungskräftigen Nachfrage über private Marktanbieter.
Privatversicherungen, Klinikketten und Pharmariesen stecken längst ihre Claims ab, nationale Startlöcher für den Sprung auf die Weltmärkte. Nach dem Handel
mit Medikamenten und Patenten sind nun Maschinen, Organe, Patienten, Fachpersonal und Versicherungen dran.
Das gesundheitliche Elend von Milliarden Menschen ist nicht einfach nur die Folge einer bedauerlichen medizinischen
Unterversorgung. Es ist das Ergebnis der krassen Ungleichheit selbst. Auf dem globalisierten Gefälle zwischen Reichtum und Armut wächst und gedeiht auch ein
Medizinmarkt, der zugleich kuriert und krank macht. Diese Ungleichheit macht die Menschen und Medizin zu Waren und treibt sie über Tausende Kilometer um den Globus.
So wird die Personalnot in den Gesundheitszentren der Metropolen kurzerhand gelindert mit Krankenschwestern aus
Korea oder den Philippinen, mit Ärzten aus Schwarzafrika oder Russland, mit Greencard-Pflegehilfen aus Polen oder Tschechien. Die Ärmsten verkaufen eine ihrer Nieren
oder ihr Blut an die internationalen Organhändler.
Wortwörtlich wie im Fluge tragen Sextouristen das AIDS-Virus zu den jungen Mädchen in die letzten
Winkel der Welt. Gesundheitskonzerne investieren in Kliniken für jene Privilegierten, die vor Ort an der Ausplünderung der ehemaligen Kolonien mitverdienen.
Die Pharmaindustrie benutzt Slums zunächst als billige Versuchslabors, danach als interessante
Absatzmärkte ihrer Überproduktion. Der EU-Anteil am weltweiten Medikamentenmarkt beträgt 25%. Patienten, die es sich leisten können, wechseln aus den
bereits hoffnungslos überfüllten Wartezimmern des englischen und norwegischen Gesundheitswesen zur Hüftoperation in deutsche Krankenhäuser.
Privatisierung, ein erblühender Markt, saftige Gewinne, damit kennt sich das Arbeitgeberlager aus. Und mit den Folgen: Die Kapitalseite sieht für die nahe Zukunft
massive Kostensteigerungen voraus, die sie selbst wegen der bislang noch weitgehend paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung mit auszubaden hätte.
Weil sich die Kapitalisten anders als die Parteien nicht selbst zur Bundestagswahl stellen, haben sie
bereits jetzt ihre rücksichtslosen Vorstellungen für das nächste Regierungsprogramm formuliert. Die Beschwichtigungsversuche von Gesundheitsministerin Ulla
Schmidt wirken dagegen wie der Versuch, mit Aspirin ein Krebsgeschwür zu bekämpfen. Nacheinander entließ sie die Pharmaforschung, die ambulante Pflege und nun
die städtischen Krankenhäuser in das "Haifischbecken Gesundheitswesen". Ihre Gesetze für anständige Tischmanieren blieben dort
erwartungsgemäß unbeachtet.
Überhaupt hat man den Eindruck, dass Schmidt wie eine hektische Ärztin durch die Flure des kranken
Gesundheitssystems hetzt, hier mal ein gutes Wort, da mal eine Pille austeilt, aber an eine ernsthafte Bekämpfung von Krankheiten nicht herangelassen wird bis nach den
Wahlen, wenn eine neue Ärztin angestellt wird. Solange werden Lügen und Halbwahrheiten auf das Wahlvolk losgelassen.
Vergleicht man die Entwicklung der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit jener des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) über die letzten 20 Jahre, so stellt man fest, dass sich das Verhältnis von Gesundheitsausgaben zum BIP seit 1980 kaum verändert hat.
Statt Explosion bleiben trotz wachsendem gesellschaftlichem Reichtum die Ausgaben für Gesundheit "gedeckelt".
Wirtschaftsstrategen wie der anfangs erwähnte Norbert Walter wollen für die nahe Zukunft die
Deregulierung, jedoch aus gänzlich anderen Motiven: "Es ist keine Aufgabe der Politik dem Wachstum des Gesundheitssektors die Fesseln dirigistischer
Kostendämpfungsprogramme anzulegen." Wettbewerb, Markt und Entsolidarisierung sollen denen, die es sich leisten können, Gesundheitsleistungen ohne Grenzen
anbieten. Damit wird klar, dass die Rede von der "drohenden" Kostenexplosion nichts weiter als neoliberale Propaganda ist.
Aber woher kommen dann die zurückliegenden Beitragssatzsteigerungen und Defizite in den Krankenkassen? Das
Problem liegt offensichtlich auf der Einnahmeseite. Die Einnahmen der GKV müssen die sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer aufbringen. Nur auf deren Bruttolöhne
werden die Beiträge erhoben, die je zur Hälfte von Beschäftigten und Arbeitgebern gezahlt werden.
Die Beiträge wären ja konstant geblieben, wenn die Summe aller Bruttolöhne in Deutschland genauso
gestiegen wären wie die Ausgaben der GKV. Das war aber nicht der Fall, denn die Lohnsteigerungen der Beschäftigten waren geringer als die Wachstumsraten der Wirtschaft,
aber vor allem: die Zahl der Arbeitslosen hat stark zugenommen.
Man erkennt diese Entwicklung sehr gut an der sogenannten Lohnquote, die den Anteil der Arbeitnehmereinkommen am
Volkseinkommen bezeichnet. Die Lohnquote ist seit 1980 drastisch gesunken, während umgekehrt der Einkommensanteil aus Unternehmertätigkeit und Vermögen
also Gewinne, Miet- und Zinseinnahmen in gleichem Maße gestiegen ist.
Attac und Ver.di lehnen eine Aufteilung in kassenfinanzierte Grundleistungen und privat finanzierte Wahlleistungen rundweg ab. Das forciert und erweitert die Zweiklassenmedizin,
für deren Auswirkungen auf weniger reiche Schichten der Bevölkerung es im Ausland, beispielsweise in den USA, eindrucksvolle Negativbeispiele gibt.
Sparen bei der Gesundheitsversorgung kann tödlich sein. Krankheit ist ein allgemeines Lebensrisiko, das jeden
Menschen treffen kann. Immerhin wurde das Recht auf Gesundheitsversorgung und Absicherung im Krankheitsfall 1948 von der UNO in der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte verankert. Deshalb muss die Gesundheitsversorgung umfassend garantiert und solidarisch finanziert werden. "Gesundheit ist keine Ware!" das wird
hoffentlich der Kern des Widerstands.
Das heißt aber auch, dass alle nach ihrer Leistungsfähigkeit für die Finanzierung aufkommen
müssen, unabhängig davon, ob sie selbstständig oder abhängig beschäftigt sind, Beamten-, Angestellten- oder Arbeiterstatus haben. Es ist außerdem
nicht einsichtig, warum nur Erwerbseinkünfte zur Finanzierung herangezogen werden sollen, während Bezieher anderer Einkünfte, bspw. Kapital- und
Mieteinkünfte, unberücksichtigt bleiben.
Noch weniger begründbar ist die willkürliche Begrenzung der Beiträge für Besserverdienende
und ihr Privileg, sich aus der GKV in die Privatversicherung zu verabschieden. Wenn aber alle Einkünfte von Versicherten zur Finanzierung der Krankenkassen herangezogen
werden, ist es auf der anderen Seite nötig, dass auch Unternehmensgewinne mit einbezogen werden. Auch das fordert Attac.
Die Luxusversorgung privater Krankenversicherungen ist dagegen nur für die Besserverdienenden
zugänglich. Genau diese Ungerechtigkeit aber wollen die privaten Krankenkassen noch weiter vertiefen. Deshalb haben sie in den vergangenen Tagen in großen Zeitungen
ganzseitige Anzeigen geschaltet. Darin beklagen sie eine fehlende "Wahlfreiheit im Gesundheitswesen". Es werden Lügen aufgetischt wie: "Weniger PKV gleich
weniger Geld für das Gesundheitssystem" oder "deshalb brauchen wir nicht weniger, sondern mehr private Vorsorge", ganz im Sinne der Riesterschen
Rentenreform.
Vor den angedrohten nächsten tiefen Schnitten, diesmal in die paritätisch finanzierte Krankenversicherung,
sollten wir uns auf genau die Patientenrechte besinnen, die wir vor jeder Operationen haben: Keine Amputation ohne vorherige ausführliche Aufklärung über die
gefährlichen Nebenwirkungen!
Im Rahmen von Attac gibt es eine Menge von Aktivitäten und Anknüpfungspunkte. Auch die
Beschäftigten des Gesundheitssystems merken die Entwicklung seit langer Zeit negativ. Streikaktionen wie bei den Privatkliniken Dr. Becker (Nümbrecht) oder bei den
Rhön-Klinikum AG in Attendorn (NRW) zeigen, dass es Widerstand gibt, der Solidarität braucht.
Tobias Michel / Rolf Euler