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Stephen J. Gould, Harvard-Professor für Geologie, Paläontologe, Evolutionsforscher und überaus fruchtbarer und anregender
Popularisator, geboren 1941 in New York, ist im Alter von 60 Jahren an den Folgen einer seltenen Krebserkrankung gestorben. Die Diagnose wurde vor 20 Jahren gestellt, als er 40 Jahre
alt war. In der Fachliteratur hieß es, diese Krankheit sei unheilbar, und die mittlere Überlebenszeit betrage acht Monate. Gould verzweifelte nicht, sondern half sich mit der
kritischen Hinterfragung jenes Scheins, der auch in den Debatten zur natürlichen Evolution der falschen Interpretation statistischer Trends zugrunde liegt.
Zunächst sagte er sich, er sei nicht die Verkörperung eines statistischen Werts, sondern ein Individuum. Zum
zweiten sah er sich die einschlägige Statistik genauer an. Sie beruhte auf der Ermittlung des Medians, des Mittels in einem Spektrum abgestufter Werte. Die Hälfte der
Erkrankten war innerhalb der ersten acht Monate nach Stellen der Diagnose tot. Die andere Hälfte starb später, einige wenige lebten sogar noch sehr lange weiter. Grafisch
entsteht so eine Kurve, die zunächst steil ansteigt, um dann langsam zur x-Achse hin abzufallen. Mit dem ihm eigenen Humor bemerkte Gould, dass er als gut situiertes Mitglied der
US-amerikanischen weißen Mittelschicht, das zudem aufgrund seines inhaltsreichen Alltags besonders lebensfroh ist, wahrscheinlich irgendwo auf dem "rechten Ende des
Schwanzes" dieser Kurve angesiedelt sein dürfte, mithin also noch lange Jahre vor sich habe. (Vgl. hierzu die Besprechung seines Buchs "Illusion Fortschritt. Die
vielfältigen Wege der Evolution", in "Der Rote Planet" Nr.2, Frühjahr 2001; die erste Ausgabe des "Roten Planeten" widmete sich
übrigens der Verteidigung Darwins.) Gould behielt Recht, und dennoch ist es sehr schade, dass er es auf diesem "Schwanz" nicht noch viel weiter nach rechts geschafft
hat.
Gould konnte sich seine Gegner nicht aussuchen. Er lebte in einem Land, in dem fundamentalistische christliche Sekten
einen teils erschreckend erfolgreichen Kampf darum führen, den Darwinismus im Schulunterricht durch die Lehren der biblischen Schöpfungsgeschichte
("Kreationismus") zu ersetzen. Gegen sie verteidigte er die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Entwicklung des Lebendigen und der Einbettung des Menschen in die
Evolution der biologischen Arten. (Siehe hierzu unseren Artikel "Natürliche Evolution als Tatsache", SoZ 1617/1996.)
Gould verteidigte den Darwinismus auch gegen dessen zweifelhafte Versionen. Er zeigte die bedeutende Rolle der
Anpassung, vermittelte aber auch, dass dies nicht der einzige Mechanismus ist, der evolutive Veränderungen bedingt. Er stellte außerdem beredt die neue Synthese aus
Katastrophentheorie und Gradualismus vor: Es waren jene großen Einschnitte der Naturgeschichte "Lokomotiven der Evolution", denen jeweils ein großer Teil
der Arten zum Opfer fiel, von deren Restbestand ausgehend sich eine neue Artenvielfalt entwickelte. Zwischen diesen Perioden jedoch blieben die einzelnen Arten über erstaunlich
lange Perioden hinweg weitgehend unverändert.
Gould bezeichnete sich nicht als Sozialist. Gleichwohl leistete er viel zugunsten der emanzipatorischen Werte und
Bestrebungen, indem er scheinwissenschaftliche Rechtfertigungen sozialer Ungleichheit zerpflückte angefangen bei den Schädelvermessungen über die
staatlich veranstalteten Intelligenztests bis hin zum falschen genetischen Reduktionismus der modernen Soziobiologie. Gegen die Behauptung von Rassenunterschieden zeigte er die enge
Verwandtschaft aller lebenden Menschen auf, mit dem für ihn bezeichnenden Zusatz, diese sei ein "entwicklungsgeschichtlich kontigentes Faktum" mit anderen
Worten: Es ist eine Tatsache, dass es heute nur noch eine menschliche Art gibt, und dass alle Menschen biologisch eng miteinander verschwistert sind aber es hätte auch
anders kommen können, und auch dann müsste man gegen den Rassismus sein.
In der natürlichen Evolution, betonte Gould, gibt es keine zielgerichteten Trends "zum Höheren"
oder "zu mehr Komplexität". Die Rolle des Zufalls ("der Kontingenz") darf nicht unterschätzt werden. Die Entwicklung von komplexeren neben den
einfacher gebauten Lebewesen im Zuge der naturgeschichtlich eruptiven "Radiation", der raschen Entwicklung neuer Artenvielfalt nach einer vernichtenden Katastrophe, liegt
einfach daran, dass eine solche Radiation eine größere Variationsbreite mit sich bringt, und da es eine untere Schwelle der Komplexität gibt, unterhalb derer nicht
sinnvoll von Leben gesprochen werden kann, entstehen dann Arten mit komplexeren Strukturen (wenn man dies ähnlich dem obigen Beispiel grafisch darstellt, erhält man
wieder das "lange rechte Ende des Schwanzes"). Etwas "Höheres" ist das nur von einem sehr beschränkten anthropozentrischen Standpunkt aus
"bewährt" im Sinne des Überlebens etwa sind eher viel einfachere Organismen wie die Bakterien.
Es gibt Berührungspunkte der naturgeschichtlichen Thesen Goulds mit der Problematik des marxistischen
Geschichtsverständnisses besonders in der Frage des Verhältnisses von "Gesetzmäßigkeit", "Gerichtetheit" und
"Kontingenz". Es wäre interessant, Ernest Mandels Ansatz eines "parametrischen Determinismus" damit zu konfrontieren, der von einer begrenzten Zahl
unabhängiger Variablen ausging und die Frage der Diagnose sozialgeschichtlicher Prozesse auf jene Knotenpunkte der Entwicklung konzentrierte, in der es nur wenige Auswege
gibt, und in denen verhältnismäßig kleine Verschiebungen der Kräfteverhältnisse zu völlig entgegengesetzten weiteren Verläufen
führen können.
Kurz vor Goulds Tod ist sein monumentales Werk "Die Struktur der Evolutionstheorie" erschienen. Es
gehört zu den Aufgaben der sozialistischen Linken, anhand dieses Werkes und der Vielzahl der Beiträge und Schriften Goulds, dessen geistige Hinterlassenschaft
aufzuarbeiten und für die selbstkritische Weiterentwicklung der marxistischen Theorie fruchtbar zu machen.
Manuel Kellner/Hans-Günter Mull