SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 20

Wertvolle Aufklärungsarbeit

Über die Triebkräfte im Anti-Terror-Krieg

Winfried Wolf, Afghanistan, der Krieg und die neue Weltordnung, Hamburg: Konkret Literatur Verlag, 2002, 208 Seiten, 15 Euro

Eines schönen Morgens im Vorfrühling 2002 wachen Sie nichtsahnend auf, stellen das Radio an und hören, Bundeswehreinheiten seien vor wenigen Stunden in Kenia gelandet. In Kenia? Wieso jetzt auch noch in Kenia? Was hat Kenia uns getan? Oder muss Kenia etwa dringend geschützt werden? Vor wem? Im Radio geht niemand auf diese Fragen ein. Und auch in der Tagespresse finden Sie kaum Aufklärung. Die Meldung kehrt auch selten wieder — als wäre sie unwichtig, und als wäre die Stationierung deutscher Truppen in fernen Ländern längst zur Selbstverständlichkeit geworden.
Im Berliner "Tagesspiegel" stand einige Wochen zuvor: "Ebenso wenig wie der Umstand, dass gelogen, gestohlen, gemordet wird, die Gültigkeit der diesbezüglichen Verbote widerlegt, können Kriegsverbrechen ein Einwand gegen die Lehre vom gerechten Krieg sein." Wie ist der Satz zu verstehen? Müsste er nicht richtig lauten, dass Kriegsverbrechen kein Einwand gegen die Genfer Konventionen seien — die z.B. Splitterbomben und Urangeschosse und das Bombardieren von Chemiewerken und andere in jüngster Zeit von der NATO begangene Kriegsverbrechen verbieten?
Nach welcher Logik kommt der Autor Malte Lehmig in diesem Satz auf den "gerechten Krieg"? Etwa einfach nur deswegen, weil er unbedingt darauf kommen will? Die Lehre vom gerechten Krieg, so Lehmig weiter, basiere auf derart "fundamentalen Werten unserer Gesellschaft", dass man sie ohne Übertreibung "zur moralischen Identität unserer Kultur" rechnen könne. Lese ich richtig: Kultur? Moralische Identität? Fundamentale Werte? Was ist im Kopf dieses Autors durcheinander geraten? Oder etwa in meinem Kopf? Oder in "unserer Kultur"?
Der sozialdemokratische Kanzler spricht stolz von der "Enttabuisierung des Militärischen" und legt uns nahe, uns über solche "Normalisierung" zu freuen. Was ist da vorgefallen? Wie ist es zu erklären, dass das 3.Jahrtausend mit derartiger Barbarisierung des politischen Redens und Handelns beginnt? Dass die USA die Weltöffentlichkeit fröhlich über neu entwickelte "Mini"atomwaffen informieren und gleich auch einige Länder nennen, gegen die sie diese einzusetzen gedenken?
Dass sie den Rüstungsetat innerhalb eines Jahres von 300 auf 380 Mrd. Dollar erhöhen und dass auch Deutschland immer mehr Geld für Waffen ausgibt? Was ist in die Welt gefahren, dass hart erkämpftes Völker- und Menschenrecht als störend beiseite geschoben, Demokratie und Sozialstaatlichkeit im Geschwindtempo demontiert werden?
Wen solche Fragen bewegen und wer darauf Antwort sucht, dem empfehle ich das vor wenigen Wochen erschienene Buch Afghanistan, der Krieg und die neue Weltordnung von Winfried Wolf. Die Leserinnen und Leser der SoZ kennen Wolf als Autor vieler kluger Beiträge. Im Bundestag scheint er mir einer der wenigen Abgeordneten zu sein, deren Verstand noch nicht durch eitle Träume vom Mitregieren verdorben ist.
Ich schätze sein vielseitiges Engagement — bspw. für eine ökologische Verkehrspolitik, um die sich die Grünen kaum noch kümmern. Zu seinen dankenswerten Aktivitäten gehört die Herausgabe der Zeitung gegen den Krieg (gemeinsam mit Tobias Pflüger). Und auch mit seinen vorausgegangenen Büchern Bombengeschäfte und Fusionsfieber hat er wertvolle Aufklärungsarbeit geleistet, die er nun in dem neuen Buch fortsetzt.
Er zeigt: Der 11.September 2001 hat die Welt nicht verändert — auch wenn jetzt viele abscheuliche politische Entscheidungen mit den Anschlägen auf das Welthandelszentrum und das Pentagon begründet werden, was um so fragwürdiger ist, als die Verbrechen bis heute nicht aufgeklärt sind. Die politische Propaganda macht sie sich zu nutze, um inhumane, asoziale, antidemokratische, rechtsbrecherische Entscheidungen zu rechtfertigen.
Aber die entscheidungsleitenden Interessen, aus denen sich diese Politik erklärt, in den USA wie in Deutschland, haben eine lange Kontinuität. Mit diesen Interessen, die sich nicht etwa nach dem 11.September plötzlich wegen einer Person namens Osama Bin Laden auf Afghanistan richteten, befasst sich Wolf: mit imperialistischen Interessen, die lange vor dem 11.September danach strebten, Zugang zu den zentralasiatischen Ölvorräten zu erlangen, sich zwischen Russland, China und Indien militärisch festzusetzen und ohne viel Rücksicht auf UNO, NATO oder andere Vertragssysteme Weltherrschaft auszubauen.
Wolf trägt viele Informationen über die "Triebkräfte" und die "Strippenzieher" zusammen und verbindet sie zu einem überzeugenden politisch-ökonomischen Gesamtbild. Aber oft sind es doch gerade die Details, die unserem Denken auf die Sprünge helfen — z.B. die von Wolf mitgeteilte Tatsache, dass am 14.September 2001, sechs Tage bevor George Bush vor beiden Häusern des US-Kongresses das Programm für den weltweiten Krieg "gegen den Terror" verkündete, das Wall Street Journal ihm genau vorgeschrieben hatte, was er sagen sollte, woran er sich auch brav hielt.
Dieses Buch schafft Durchblick. Man sollte es nicht nur selber lesen, sondern jeder und jedem in die Hand drücken, die sich das Fragestellen und Antwortsuchen noch nicht haben abgewöhnen lassen.

Eckart Spoo


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