SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2002, Seite 24

‘Höre, Israel!‘

Erich Fried über den israelisch-palästinensischen Konflikt

Der deutsche Einmarsch nach Österreich 1938 verwandelte den damals 17-jährigen Oberschüler Erich Fried in einen verfolgten Juden. Fortan nahm sich Fried vor, "gegen Faschismus, Rassismus, Unterdrückung und Austreibung unschuldiger Menschen" zu schreiben und wurde einer der wichtigsten linken Dichter deutscher Sprache. Wer seine Gedichte zu Israel und Palästina heute liest, merkt, wie tief sich die politische Kultur in diesem Lande zum Nachteil verändert hat. Aus "Solidarität mit allen unschuldig Verfolgten und Benachteiligten" und dem Gefühl der "Mitverantwortlichkeit für das, was Juden in Israel den Palästinensern und anderen Arabern tun; auch für das, was sie in aller Stille jenen Juden antun, die dagegen kämpfen und protestieren", hat er die israelische Politik gegen die Palästinenser aufs schärfste angegriffen. Immer wieder zog er dabei auch Vergleiche zum Nationalsozialismus, wohl wissend, dass dies Empörung auslösen wird: "Auch in mir empört sich einiges, wenn ich solche Vergleiche ziehe. Israel hat keine Gaskammern gebaut; auch die Entstehung des Konflikts und die Zahl der bisherigen Opfer entziehen sich dem Vergleich. Aber weil viele Israelis, von einzelnen bis zu Regierungsstellen und militärischen Führungsgremien, deutliche Zeichen des Übernehmens und Weitergebens von Verhaltensmustern ihrer Todfeinde von gestern zeigen, drängt sich dieser hässliche Vergleich manchmal auf und kann auch in Gedichten nicht ganz fehlen, gerade weil sie verhindern helfen wollen, dass er in der Wirklichkeit immer gültiger und zwingender wird." Erich Fried starb am 22.November 1988.

Benennungen

Aus: Erich Fried, Höre, Israel! Gedichte und Fußnoten, Frankfurt am Main (Syndikat) 1983

1

Die gestern geschrien haben
"Die Juden sind schuld"
sollen heute nicht schreien
"die Zionisten"

Die geschrien haben
"Die Juden sind schuld"
sind schuld daran
dass die Zionisten schuldig werden konnten

Die geschrien haben
"Die Juden sind unser Unglück"
sind das Unglück der Juden
und der Palästinenser geworden

Das befreit nicht die Zionisten
von Schuld an den Palästinensern
und die Juden nicht
von Verantwortung für Zionisten

Aber nicht die sollen heute
die Juden verantwortlich machen
die gestern geschrien haben
"Die Juden sind schuld"

2


Es gibt Zionisten
die nennen Antizionisten Antisemiten
und es gibt Juden
die den Zionisten das glauben

Es gibt Antisemiten
die nennen Zionisten Bundesgenossen
wenn sie zu Juden sprechen
sonst nur nützliche Juden

Es gibt Sprecher des Westens
die nennen jüdische Antizionisten
rote Antisemiten
wenn sie zu Juden sprechen

Und wenn sie zu Nichtjuden sprechen
nennen dieselben Sprecher
dieselben jüdischen Antizionisten
dreckige rote Juden

3

Zionisten
mit linkem falschen Bewusstsein
Zionisten
mit rechtem falschen Bewusstsein

Antisemiten
mit rechtem falschen Bewusstsein
Antisemiten
mit linkem falschen Bewusstsein
und Antisemiten
mit zionistischem falschen Bewusstsein

Kein Bewusstsein
das den Antisemitismus
oder den Zionismus
rechtfertigen kann

Frage an den Sieger

Nach deiner Landnahme
als das Blut schrie von der Erde
und als man dich fragte
"Wo ist dein Bruder im Land?"
da sagtest du
"Ich weiß nicht"
und du fragtest
"Soll ich der Hüter meines Bruders sein?"
Nun sagst du
man muss dich vor der Rache
der Sippe deines Bruders von dem du nichts weißt
beschützen
Und du trägst ein Zeichen das sagt
wer dich totschlägt an dem soll
siebenfach Rache genommen werden
Wer bist du?
Aufforderung zum Vergessen
Sei nicht dumm
sagt der Wind
Die Welt dreht sich weiter
Alles ändert sich
Das Gewesene muss man vergessen
Wenn du dein Feld vergessen könntest
sagen vergiftete Halme
und wenn du dein weißes Haus vergessen könntest
sagt der Schutt
und wenn du den großen Krug vergessen könntest
sagen die Scherben
und wenn du den Ölbaum vergessen könntest
sagt der Baumstumpf
und die Orangenbäume
sagt der verbrannte Hain
und wenn du deine zwei Schwestern vergessen könntest
sagt der Weg zu den Gräbern
und wenn du vergessen könntest die Schreie zu hören
sagen die Ohren
dann könntest du aufhören dich in Gefahr zu begeben
dann könntest du weit wegfahren
wie die Dattel im Bauch eines Schiffes
die gepflückt wurde und die frei ist von ihrem Baum
dann könntest du frei sein wie ein Sandkorn im Wind
endlich frei von der Heimat
die du verloren hast

Die Welt dreht sich weiter
Das Gewesene muss man vergessen
Sei nicht dumm
sagt der Wind
der herweht von den Vertreibern

Nach einem Abkommen zwischen Sadat und den Zionisten

Der Friede der kein Friede ist
vermittelt
von einem Friedensstifter
der kein Friedensstifter ist
zwischen dem Erben Nassers
der kein Erbe Nassers ist
und einer Demokratie
die keine Demokratie ist
zum Wohl der Ägypter
das nicht das Wohl der Ägypter ist
und zum Wohl der Juden
das nicht das Wohl der Juden ist
bringt eine Versöhnung
die keine Versöhnung ist
und verspricht eine Zukunft
die keine Zukunft
und will eine Hoffnung erwecken
die keine Hoffnung ist
auf ein Palästina
das kein Palästina ist

Das Unrecht ist immer noch Unrecht
Der Rassismus der Zionisten
ist immer noch Rassismus
Die Vertriebenen
sind immer noch vertrieben
Ihre zerstörten Dörfer
sind immer noch zerstört
Ihre gerechte Sache
ist immer noch gerecht
und ihre Hoffnung
ist immer noch die Hoffnung

Zionistische Funktionäre nach 1945

Und sie fanden sechs Millionen Tote
"Sechs Millionen das ist eine runde Summe.
Wenn wir jetzt Profit aus den alten Galuth*-Leichen schlagen
werden die Mörder kein Wort zu sagen wagen.
Keiner mehr straft uns jetzt Lügen
höchstens vielleicht ein paar Rote
denn sechs Millionen Tote sind sechs Millionen Stumme"

Und sie gaben sich aus als die Erben der sechs Millionen
und sie strichen die Bußgelder ein für ihre eigene Sache
Und mit den Palästinensern begannen sie so zu verfahren
wie die Antisemiten Europas mit den Juden verfahren waren:
"Wir haben zuviel erlitten
um jetzt noch Feinde zu schonen —
und für jede Gegenwehr nehmen wir blutige Rache"

Und die Herren die einst ihre Mörder gefördert haben
die haben heut tiefes Verständnis für dieses Verhalten:
"Ein Volk ohne Raum darf im Kampf keine Schwäche kennen"
"Diese Araber sollen sie ruhig mit ihrem Kamelmist verbrennen"
"So ein faules dreckiges Pack
braucht man gar nicht erst zu begraben"
ARABER steht nun statt JUDE
und sonst bleibt da alles beim alten

Aber nicht die sind die besten Deutschen gewesen
die Deutschland verhasst gemacht haben
in allen benachbarten Ländern
sondern die man damals "Verräter am eigenen Volk" nannte
und die man so wie die Juden ermordete und verbrannte
Auch jüdische Geschichte wird man eines Tags anders lesen
Nichts was die Zionisten heut tun kann das ändern

aluth = Diaspora

Brief aus London nach Tel Aviv

Ich bin zu weit von euch fort —
Ich kann euer Unrecht
zwar beschreiben aber
ich weiß nicht die lustigen Namen
die ihr im gebt unter euch
und die euch so vertraut sind
dass ihr gar nicht mehr merkt
sie bezeichnen das Unrecht

Ihr seid im Unrecht zuhause
da könnt ihr leicht
ein zwei Stellen finden
an denen ich Fehler mache
wenn ich das Unrecht nachzeichne —
So beweist ihr
dass ich dem Unrecht
tatsächlich Unrecht tue

Jedenfalls könnt ihr mich leichter
abschütteln als euer Unrecht
Aber wohin wollt ihr gehen
wohin wollt ihr kommen
und mit wem
oder für oder gegen wen?
Oder wollt ihr das alles
gar nicht mehr fragen?

Vergesst nicht!

Die Türken waren
eure Unterdrücker
aber Nazim Hikmet war Türke
und war nicht euer Unterdrücker.
Vergesst nicht: es war kein Kampf
gegen alle Türken

Die Israelis
sind eure Unterdrücker
aber Mordechay Avi Shaul
und Israel Shahak
sind Israelis
und sind nicht eure Unterdrücker.
Vergesst nicht: es ist kein Kampf
gegen alle Israelis

Die Imperialisten
sind eure Unterdrücker
aber die Imperialisten
haben keinen Israel Shahak
keinen Mordechay Avi Shaul
und keinen Nazim Hikmet.
Vergesst nicht: es ist ein Kampf
gegen alle Imperialisten



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