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Schon im Vorfeld der Konferenz hatten Aussagen von Klaus Zwickel, man wolle mit den Inhalten des Manifests in die Mitte der
Gesellschaft vorstoßen, für Unruhe gesorgt, die auch seine nachgeschobene Korrektur, damit habe er die Mehrheit der Gesellschaft gemeint, nicht
aus der Welt schaffen konnte. Im Vorfeld hatte das Vorstandsmitglied Horst Schmitthenner im Freitag eine gründliche Kritik am Modernisierungskurs der
Mehrheit des IG-Metall-Vorstands geübt.
Bevor sich die Delegierten mit den Inhalten des Manifests auseinandersetzen konnten, wurde
ihnen der Blick von außen auf die IG Metall präsentiert. Der ehemalige Berater der CDU, Warnfried Dettling, verdeutlichte aus Sicht eines
aufgeklärten Konservativen die Notwendigkeit einer gewerkschaftliche Politik, die der Individualisierung der Beschäftigten entgegenkommt und sie
dort in ihrer Eigenverantwortlichkeit, etwa bei der beru?ichen Quali?zierung, bestätigt.
Die Textilunternehmerin Britta Steilmann sprach sich für den Aufbau der
Gewerkschaften in Osteuropa und ihre Befähigung aus, Tarifabschlüsse zustande zu bringen, die das Abwandern quali?zierter Fachkräfte
nach Westeuropa verhindern.
Barbara Lochbihler forderte als Generalsekretärin von Amnesty International
Deutschland nicht nur die Verteidigung verfolgter Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, sondern auch den Einsatz der IG Metall für die internationale
Wissen Durchsetzung kollektiver, sozialer Menschenrechte etwa auf Gesundheit, Nahrung, Bildung, Wohnung.
Die BUND-Vorsitzende Angelika Zahrnt hielt der IG Metall vor, sie habe ihre fortschrittlichen
Positionen in Fragen Umweltschutz zunehmend revidiert. In der Verkehrspolitik etwa habe es eine Verschiebung weg von der Verkehrsvermeidung hin zum
höheren Einsatz technologisch verbesserter industrieller Produkte gegeben.
Demgegenüber mahnte der Politikwissenschaftler Claus Offe, die IG Metall sei kein
Weihnachtsbaum, an den man alle gutgemeinten Wünsche anhängen könne, die Aufgabe der Gewerkschaften bleibe das Tarifgeschäft.
Die eigentliche Debatte um das Manifest fand am zweiten Tag in fünf Foren statt. Genereller Tenor war, der vorgelegte Text sei in der Analyse zu
unverbindlich, schlagwortartig und gleichzeitig widersprüchlich und in der handlungsorientierten Zielsetzung zu unkonkret.
Zum Themenkomplex "Industrielle Arbeit sichern" wurde begrüßt,
dass die Quali?zierung breiten Raum einnimmt, allerdings die Verwendung eines reduzierten Bildungsbegriffs kritisiert, der auf die unmittelbare Verwertung der
Arbeitskraft zielt und unhinterfragt eine lebenslange Vermarktung der Quali?kation beinhaltet, die auch noch eigenständig ?nanziert werden soll. Kritisiert
wurde auch die Betonung der Eigenverantwortung, die in der Konsequenz Solidarität zerstören muss.
Generell bemängelten die Delegierten, der Entwurf nehme die gesellschaftlichen
Verhältnisse nahezu als naturnotwendig hin, die Systemfrage werde erst gar nicht gestellt wird und auch unterhalb von ihr gebe es keinen Gegenentwurf
zum Neoliberalismus.
Das Verhältnis von "Arbeit und Leben" war Themenschwerpunkt des
zweiten Forums. Viele Diskussionsbeiträge hielten dem Manifestentwurf vor, er unterschätze die Wucht der Flexibilisierung in der Arbeitswelt
vollkommen und überschätze damit die Möglichkeiten, Arbeit und Freizeit im Sinne der Beschäftigten individuell zu gestalten. Die
Gefahr des Verlusts kollektiver Freizeiten sei riesig, um so unverständlicher, dass die Verteidigung des freien Wochenendes im Manifest fehle.
Unter den Teilnehmenden des Forums gab es jedoch nur wenige, zumeist Jüngere, die
sich für weitere kollektive Arbeitszeitverkürzungen in Richtung einer 32- oder 30-Stunden-Woche aussprachen. Allgemeine Tendenz war die
Verteidigung der 35-Stunden-Woche da, wo sie vor allem im Angestelltenbereich unterlaufen wird und es schon zum persönlichen
Imagegewinn gehört, Vierzigstündler zu sein. Als nächster Schritt solle die 35-Stunden-Woche auf Ostdeutschland ausgeweitet werden.
Die wachsweichen Aussagen des Manifests zum Sozialstaat hatten für einigen Unmut
unter den Debattierenden gesorgt. Im Manifest ist zwar von einer Wertschöpfungsabgabe zur Finanzierung der Sozialversicherungen die Rede, direkt
daneben wird allerdings wiederum von Eigenverantwortlichkeit gesprochen. In der Erkenntnis, dass die Errungenschaften des Sozialstaats zu einem der
wesentlichen Kampfplätze der Gewerkschaften werden müssen, wurde beim Thema Gesundheitsreform die Aufspaltung in Grund- und
Wahlleistungen abgelehnt und eine negative Bilanz der riesterschen Rentenreform gezogen.
In der Debatte um die Reform des Flächentarifvertrags wurde mit heißem Herzen gestritten, oder wie der Berichterstatter des Forums anmerkte: Hier
ist Feuer im Haus.
Klaus Zwickel hatte sich mit seiner Initiative im Vorfeld der Tarifrunde, einen Teil der
Erhöhung ergebnisabhängig zu machen, innergewerkschaftlich eine Abfuhr geholt. Aber schon in der Juni-Ausgabe von Metall hatte Berthold
Huber nachgesetzt und eine sofortige Diskussion um tari?iche Öffnungsklauseln gefordert, ansetzend am Frust in den kampf- und ertragsstarken
Großbetrieben über das Tarifergebnis.
Die Teilnehmenden des Forums konnten sich höchstens eine Öffnung nach oben
vorstellen. Aber im Allgemeinen überwog die Ablehnung, über das heute schon vorhandene Maß hinaus die Allgemeinverbindlichkeit von
Tarifverträgen aufzuweichen, weil damit in der Regel eine Absenkung der Standards nach unten einhergehe. Sie verwiesen auf die verstärkte
Tendenz, den Betriebsräten Regelungsaufgaben zuzuweisen, ohne dass diese über eigene Durchsetzungsmittel zu verfügten; sie würden
dem Druck des einzelnen Unternehmers ausgesetzt und auch in Tarifangelegenheiten erpressbar gemacht.
Zwickels Antwort darauf: die Großen können die Kleinen nicht immer mitziehen.
Zwickel ist es ernst damit, zu Differenzierungen beim Flächentarifvertrag zu kommen; er kündigte an, nicht erst bis zum Gewerkschaftstag im
Herbst 2003 mit entsprechenden Entscheidungen warten zu wollen. Die Positionierung zur nächsten Tarifrunde müsse schon jetzt statt?nden.
Die Gewerkschaftsjugendlichen, die schon auf dem DGB-Kongress in Berlin mit einer
Bühnenaktion während der Kanzlerrede ihre Forderung nach Umverteilung des Reichtums unterstrichen hatten, besetzten auch bei der IG Metall
kurzfristig die Bühne und überbrachten dem Star des Tages, Gerhard Schröder, einen Fußball mit der Forderung, der Kanzler
müsse den politischen Ball einer anderen Politik endlich ins Tor bringen, sonst werde er ausgewechselt. Der Chef von Rot-Grün konterte mit einem
süf?santen Lächeln: So nett sei er empfangen worden.
Seine programmatische Rede schloss er mit dem Hinweis, die Gewerkschaften hätten
nicht so viele Verbündete, als dass sie auf einen verzichten könnten, und das gelte umgekehrt auch für ihn. Dafür bekam er einigen
Beifall, aber Euphorie machte sich nicht breit.
So war die Stimmung auf dem Kongress: Der Offensive 2010 begegneten die Delegierten ob
der angebotenen Antworten mit Skepsis; viele Fragen sind offen, aber schlüssige Alternativen zu der angebotenen Linie des IG-Metall-Vorstands sind
noch zu schwach entwickelt.
Udo Bonn