SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2002, Seite 16

Demokratische Reform

Edward Said für eine Erneuerung der palästinensischen Politik

Für Edward Said haben die Palästinenser nie einen schlimmeren historischen Moment erlebt, und doch biete er zugleich die Chance, aus der gegenwärtigen Sackgasse herauszukommen. Man muß sie nur mit einer entsprechenden Initiative nutzen.

Sechs verschiedene Aufrufe für eine Reform und für Wahlen in Palästina werden gegenwärtig diskutiert: fünf davon sind für die palästinensische Sache ebenso nutzlos wie irrelevant.
Sharon will Reformen mit dem Ziel, weiterhin eigenständiges palästinensisches gesellschaftliches Leben zu unterbinden, seine gescheiterte Politik permanenter Intervention und Zerstörung fortzusetzen. Er möchte Yasser Arafat loswerden, die Westbank in umzäunte Kantone aufteilenteilen, wieder eine Besatzungsbehörde installieren — vorzugsweise mit einigen Palästinensern, die ihm helfen, die Siedlungspolitik fortzusetzen und die israelische Sicherheitspolitik in gewohnter Weise aufrecht zu erhalten. Er ist von seinen eigenen ideologischen Halluzinationen und Obsessionen zu verblendet um zu sehen, dass dies weder Frieden noch Sicherheit bedeutet und sicher auch nicht die "Ruhe" bringen wird, die er will. Palästinensische Wahlen sind in Sharons Schema völlig unwichtig.
Die USA, zweitens, wollen Reformen vor allem als Methode des Kampfes gegen den "Terrorismus" — ein Wortungeheuer, das weder Geschichte, Kontext, Gesellschaft noch irgend etwas anderes berücksichtigt. George Bush mag Arafat nicht und versteht die palästinensische Situation auch nicht ansatzweise.
Drittens gibt es die Forderung der arabischen Regierungen die, soweit ich es beurteilen kann, eine Kombination verschiedener Elemente darstellen, von denen keines den Palästinensern helfen würde.
Zunächst ist da die Furcht vor ihrer eigenen Bevölkerung, die erleben mußte, dass die israelischen Zerstörung keine wirkliche Opposition, keine arabischen Versuche hervorrief, Einhalt zu gebieten. Der Friedensplan von Beirut bietet Israel genau das, was Sharon abgelehnt hatte — Land für Frieden. Er hat keinen Biss und enthält keinen Zeitplan. Auch wenn die Existenz eines solchen Friedensplans als Gegengewicht zu Israels nackter Kriegspolitik positiv sein mag, sollten keine Illusionen gehegt werden über die wahren Absichten bestehen, die dahinterstehen — wie auch die Reformforderungen, dient der Plan vor allem dazu, die arabische Bevölkerung zu beruhigen, die die laue Passivität ihrer Herrscher satt hat.
Zweitens ist er auch Ausdruck der schieren Verzweiflung der arabischen Regime am Palästina-Problem. Sie scheinen mit der Existenz Israels als eines jüdischen Staates ohne klare Grenzen, der seit 35 Jahren Jerusalem, den Gazastreifen und die Westbank illegal militärisch besetzt hält, keine ideologischen Probleme zu haben, und auch nicht mit der israelischen Vertreibungspolitik. Sie würden sich damit gut abfinden können, wenn nur endlich Arafat und seine Leute sich "benehmen" oder einfach still weggehen würden.
Drittens gibt es den seit langem gehegten Wunsch der arabischen Führer, sich mit den USA ins Benehmen zu setzen sowie ihr Wetteifern untereinander um die Rolle des wichtigsten Verbündeten der USA. Sie sind sich wahrscheinlich nicht bewusst, wieviel Misstrauen die meisten Amerikaner ihnen gegenüber hegen, und wie wenig sie und ihr politischer und kultureller Status in den USA verstanden werden.
Die vierten im Reformchor sind die Europäer. Aber die schicken nur eifrig Emissäre umher, machen großartige Erklärungen in Brüssel, sponsoren einige wenige neue Projekte — und belassen es mehr oder weniger dabei, so dass sie im Schatten der USA bleiben.
Fünftens sind da Yasser Arafat und seine Leute, die plötzlich — zumindest theoretisch — die Vorzüge der Demokratie entdeckt haben.
Ich weiss, dass ich aus der Entfernung urteile, und ich kenne auch die Argumente über den belagerten Arafat als wirksames Symbol palästinensischen Widerstands gegen die israelische Aggression, aber ich bin gelangt zu denken, dass all das nicht mehr wichtig ist. Arafat ist nur daran interessiert, sich selbst zu retten.
Er hatte beinahe zehn Jahre, um sein kleines Königreich zu betreiben, und hatte vor allem Erfolg damit, sich selbst und die meisten seiner Mannschaft mit Schimpf und Schande zu beladen. Seine "Autorität" ist zum Synonym geworden für Brutalität, Autokratie und unvorstellbare Korruption.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum irgendjemand auch nur für einen Augenblick daran glauben sollte, dass er — oder sein neues, stromlinienförmiges Kabinett (das von denselben alten Figuren beherrscht wird, die für Niederlage und Inkompetenz stehen) — fähig sei, eine echte Reform durchzuführen.
Er ist der Führer eines Volkes, das seit langem leidet, das er im vergangenen Jahr unerträglichen Schmerzen und Leiden ausgesetzt hat — alles wegen einer Kombination aus mangelnder Strategie und seinem unentschuldbaren Vertrauen auf die Gnade Israels und der USA via Oslo. Führer von Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen dürfen ihr unbewaffnetes Volk nicht der Willkür von Kriegsverbrechern wie Sharon aussetzen — gegen den keine wirkliche Verteidigung vorbereitet wurde.
Warum dann einen Krieg vom Zaun brechen, dessen Opfer zumeist unschuldige Leute sind, wenn man weder die militärische Ausrüstung zum Kampf hat noch die diplomatischen Möglichkeiten, ihn zu beenden? Nachdem er dies nun dreimal betrieben hat (in Jordanien, im Libanon, in der Westbank) sollte er nicht die Möglichkeit bekommen, ein viertes Desaster anzusteuern.
Arafat hat angekündigt, die Wahlen würden zu Beginn des Jahres 2003 stattfinden, aber seine eigentliche Sorge gilt der Reorganisierung seiner Sicherheitsdienste. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass Arafats Sicherheitsapparat vor allem ihm selber und Israel dient, weil Grundlage der Osloer Verträge sein Deal mit der israelischen militärischen Besatzung war.
Israel kümmerte sich nur um seine eigene Sicherheit, für die es Arafat verantwortlich machte — im Übrigen eine Rolle, die er bereits 1992 gerne akzeptierte. In der Zwischenzeit benutzte Arafat die 15 oder 19 oder wieviele Gruppen auch immer, um sie gegeneinander auszuspielen — eine Taktik, die er in Fakahani perfektionierte und die dann besonders kontraproduktiv ist, wenn das Gemeinwohl auf dem Spiel steht.
Er beherrschte die Hamas und den Islamischen Jihad niemals wirklich — was Israel perfekt als stets verfügbare vorgefertigte Rechtfertigung für die eigenen Taten nutzte, indem die sog. Märtyrer, die hirnlosen Selbstmordattentate zum Vorwand dafür genommen werden, weiterhin das ganze Volk zu bestrafen und zu demütigen.
Wenn uns außer Arafats ruinösem Regime etwas noch mehr geschadet hat, dann diese wahnsinnige Politik, israelische Zivilisten zu töten, was der Welt einmal mehr beweist, dass wir Terroristen sind und eine unmoralische Bewegung. Niemand kann Vorteile einer solchen Politik benennen.
Da er jenen Deal mit der Besatzung qua Oslo gemacht hat, war Arafat niemals in der Lage, eine Bewegung wirklich zu ihrem Ziel hin zu führen. Ironischerweise versucht er nun einen neuen Deal, und will den USA, Israel und den anderen Arabern beweisen, dass er eine neue Chance verdient.
Ich meinerseits kümmere mich keinen Deut darum, was Bush, die arabischen Führer oder Sharon sagen: Mich interessiert, was wir als Volk von unserem Führer denken, und da müssen wir ganz klar sein ganzes Reformprojekt samt Wahlen, Regierungsumbildung und Geheimdienstreform ablehnen. Seine Versagensbilanz ist zu groß und seine Führungsqualitäten sind zu schwach, und er ist zu inkompetent, zu geprägt, als dass er eine neue Chance erhalten sollte, sich zu retten.
Sechstens schließlich, ist es das palästinensische Volk, das Wahlen und Reformen fordert. Ich denke, diese ist die einzig legitime der sechs Lösungsansätze die ich hier skizziert habe. Es ist wichtig hervorzuheben, dass sowohl Arafats gegenwärtige Verwaltung, wie auch der gesetzgebende Rat ihre ursprüngliche Amtszeit überzogen haben, die mit neuen Wahlen 1999 enden sollte.
Die Wahlen 1996 beruhten auf der Grundlage der Vereinbarungen von Oslo, die Arafat und seine Leute einfach dazu ermächtigten, Teile der Westbank und des Gazastreifens für Israel zu organisieren, ohne wirkliche Souveränität oder Sicherheit, da Israel die Kontrolle über Grenzen, Sicherheit und Land, über Wasser und Luft behielt (und auf diesem Land seither die Zahl der Siedlungen verdoppelte oder verdreifachte). Mit anderen Worten: Die alte Grundlage für Wahlen, die Oslo gewesen war, ist nunmehr null und nichtig.
Jeder Versuch von da aus weiter zu machen, ist nur ein nutzloser Trick und wird weder Reformen noch wirkliche Wahlen bringen. Von daher kommt die gegenwärtige Verwirrung, die den Palästinensern nur Kummer und Frustration bringt.
Was soll denn geschehen, wenn die alte Grundlage der palästinensischen Legitimität nicht mehr existiert? Sicher gibt es kein Zurückgehen zu Oslo, noch zu jordanischen oder israelischen Gesetzen. Als jemand, der Perioden wichtiger historischer Veränderungen studiert, würde ich gerne unterstreichen, dass immer, wenn ein einschneidender Bruch mit der Vergangenheit stattfand (wie in der Zeit nach dem Sturz der Monarchie in der Französischen Revolution oder in der Zeit der Überwindung der Apartheid bis zu den Wahlen 1994 in Südafrika), eine neue Basis für Legitimität geschaffen werden musste, von der einzigen und letztinstanzlichen Quelle der Autorität, vom Volk selbst.
Die entscheidenden Interessen in der palästinensischen Gesellschaft, jene, die das gesellschatliche Leben aufrecht erhalten, von den Gewerkschaften bis zu den Beschäftigten im Gesundheitswesen, den Lehrern, Bauern, Anwälten, Ärzten bis hin zu denvielen NGOs — alles das muss jetzt zur Quelle der palästinensischen Selbstreform werdene palästinensische Reform vollzogen wird — trotz der israelischens Einmischung und Besatzung.
Es scheint mir nutzlos zu sein, auf Arafat, Europa, die USA oder die arabischen Regierungen zu warten, um dies zu verwirklichen — es muss von den Palästinensern selbst organisiert werden, mit einer Verfassunggebenden Versammlung, in der alle wesentlichen Elemente der palästinensischen Gesellschaft vertreten sind.
Nur eine solche Bewegung vom Volk selbst organisiert — und nicht durch die Überbleibsel der Osloer Abkommen und sicher auch nicht durch die schäbigen Reste der diskreditierten Autorität Arafats —, kann eine Perspektive eröffnen, die Gesellschaft zu reorganisieren, und den ruinösen, katastrophal chaotischen gegenwärtigen Zustand zu überwinden. Das grundlegende Ziel einer solchen Versammlung ist es, ein Notsystem zu etablieren, das vor allem zwei Aufgaben hat.
Erstens das palästinensische Leben in vernünftiger Weise aufrecht zu erhalten, mit der vollen Beteiligung aller Betroffenen. Zweitens ein Notexekutivkomitee zu wählen, das die Besatzung beendet, nicht mit ihr verhandelt. Es ist leicht ersichtlich, dass wir militärisch für Israel kein Gegner sind — Kalaschnikows sind beim gegebenen militärischen Kräfteverhältnis keine Hilfe.
Was Not tut, ist eine kreative Art zu kämpfen, die alle uns zur Verfügung stehenden menschlichen Ressourcen mobilisiert, um die Hauptbestandteile der israelischen Besatzung sichtbar zu machen, zu isolieren und schrittweise zu untergraben — also Siedlungen, Straßen dorthin, Straßensperren und das Zerstören der Häuser.
Die gegenwärtige Gruppe um Arafat ist hoffnungslos unfähig, eine solche Strategie auch nur zu denken, geschweige denn, sie umzusetzen. Sie ist zu bankrott, zu sehr in korrupter Selbstsucht gefesselt, zu sehr mit dem Versagen der Vergangenheit belastet.
Damit eine solche palästinensische Strategie funktioniert, muss auch eine israelische Komponente existieren, die aus Personen und Gruppen bestehen muss, mit denen eine gemeinsame Basis im Kampf gegen die Besatzung erreicht werden kann — und muss.
Dies ist die große Lehre des südafrikanischen Kampfes: Er hat die Vision einer gemischtrassigen Gesellschaft vorgeschlagen, aus der weder Gruppen noch Führer ausgeschlossen sein sollten.
Die einzige Vision, die heute aus Israel kommt, ist Gewalt, erzwungene Trennung und fortgesetzte Unterwerfung der Palästinenser unter die Idee einer jüdischen Suprematie. Natürlich glaubt nicht jeder Israeli an diese Vorstellung: Aber es ist unsere Aufgabe die Idee der Koexistenz in zwei Staaten zu verbreiten, die auf der Basis von Souveränität und Gleichheit normale Beziehungen miteinander unterhalten.
Die Hauptströmungen des Zionismus waren bisher nicht fähig, eine solche Vision zu entwickeln, deswegen muss sie vom palästinensischen Volk kommen und seinen neuen Führungen, deren Legitimität jetzt geschaffen werden muss, in dem Augenblick, da alles zusammenbricht und jeder gerne Palästina getreu seinen Vorstellungen und Ideen wieder aufbauen möchte.
Wir haben nie einen schlimmereren historischen Moment erlebt, der aber zugleich die Chance für einen Neuanfang bietet, die man nur beim Schopf packen muss. Die arabische Ordnung ist in voller Auflösung, die US Regierung ist in Wahrheit unter der Kontrolle der christlichen Rechten und der proisraelischen Lobby; und unsere eigene Gesellschaft ist durch armselige Führung und die Wahnvorstellung, Palästina würde durch Selbstmordattentate zu einem islamischen Staat, nahezu ein Trümmerhaufen. Es gibt immer Hoffnung für die Zukunft — aber man muss in der Lage sein zu sehen, woher sie kommt.
Es ist klar, dass in Ermangelung jeglicher ernsthafter arabischer oder palästinensischer Informationspolitik in den USA (vor allem im Kongress) wir uns nicht einen Augenblick lang der Vorstellung hingeben können, dass Powell und Bush es sind, die Schritte für eine palästinensische Rehabilitation einleiten werden. Deshalb beharre ich darauf, dass diese Anstrengung von uns, durch uns, für uns kommen muss. Wenigstens versuche ich, einen anderen Weg dahin vorzuschlagen.
Wer — außer dem palästinensischen Volk — kann jene Legitimität schaffen, die es braucht, um die Besatzung mit Waffen zu bekämpfen, die nicht Unschuldige töten und uns dadurch noch mehr isolieren als je zuvor?
Eine gerechte Sache kann ganz leicht durch üble, unangemessene oder korrupte Praktiken desavouiert werden. Je früher wir das begreifen, desto größer ist unsere Chance, uns aus der Sackgasse zu befreien, in der wir jetzt stecken.

Gekürzt aus: Al Ahram Weekly (Kairo) (Übersetzung: Helmut Weiss/mke).




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