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Bereits ein Jahr nach der rot-grünen Regierungsübernahme wurde eine Steuerreform (mit einem
Einsparungsvolumen von ca. 20 Milliarden Mark) zugunsten der Unternehmen verabschiedet (siehe S.6). Erst allmählich bekommen wir deren Folgen zu
spüren, so bspw. durch die Finanznot der Kommunen. Hinzu kommt der Druck durch die EU-Kommission auf die "Hochlohnländer",
die Lohnnebenkosten weiter zu senken und die Sozialleistungen zu kürzen.
Dies bedeutet nicht nur einen Angriff auf die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung,
sondern auch die Entlastung der Unternehmen. Die "Rentenreform" war in diesem Umverteilungskontext der Anfang, mit der die paritätisch
finanzierte Sicherung aufgegeben wurde.
Für eine höchstmögliche Kapitalverwertung ist der Sozialstaat schon immer
ein Hindernis. Auch unter dieser Regierung werden all die Planungen, sozialstaatliche Leistungen auf ein Minimum zu reduzieren oder gänzlich
einzustellen, in die Praxis umgesetzt. Mit Widerstand ist in der Bevölkerung kaum zu rechnen, nicht zuletzt, weil eine ununterbrochene
Propagandamaschinerie den Bürgerinnen und Bürgern Grundrechtsverletzungen als schmerzliche, aber notwendige Maßnahmen zumutet, als
alternativlose Strategie, die den Staat nicht mehr als Zwangsapparatur erkennen lässt.
Der Verfassungsrechtler Winfried Hassemer beklagte schon 1997, dass die Bereitschaft,
Grundrechtspositionen aufzugeben, auch in der Bevölkerung steige. Der Staat nutze diese Haltung wiederum, um sich neue Befugnisse zu schaffen.
Der Privatisierung der Alterssicherung, die als Reform ausgegeben wird, folgt nun mit großen Schritten die Zurücknahme von Leistungen
der Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Gerade bei letzterer wird dabei auf unterschiedlichen Ebenen strategisch operiert, um die Lohnnebenkosten und
damit die Beitragszahlungen der Arbeitgeber zu senken.
Über die Lohnsubventionierung, insbesondere den Kombilohn, werden Löhne
tatsächlich gesenkt. Löhne werden von staatlicher Seite nur befristet subventioniert. Danach bilden sie das Niveau der "neuen"
Niedriglöhne, das 2030% unter dem bisherigen Niedriglohntarif liegt.
Der vormalige Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstags, Hans Peter Stihl,
wollte denn auch den Kombilohn bereits 1997 als "trojanisches Pferd" verstanden wissen, da er gesellschaftliche Akzeptanzprobleme
befürchtete, wenn die Lohnnebenkosten und damit einhergehend die Löhne abrupt gekürzt würden. Mit der
Lohnsubventionierung ist es dann unter Berufung auf das Lohnabstandsgebot möglich, auch den Regelsatz der Sozialhilfe abzusenken.
Parallel dazu geht die Bundesregierung auch bei der Senkung der Sozialleistungen für
Erwerbslose in die Offensive. In ihrem Konzept soll die Arbeitslosenhilfe ganz abgeschafft und ca. 1,6 Millionen Beziehende sollen in die Sozialhilfe
überführt werden. Die Bundesanstalt für Arbeit hätte dann eine andere Funktion: sie verwaltet die Beziehenden von Arbeitslosengeld,
von denen viele erfahrungsgemäß relativ schnell wieder eine Erwerbsarbeit finden.
Darüber hinaus wird sie, da Vermittlung und Qualifizierung so weit wie möglich
privatisiert werden, zur bloßen Ordnungsinstanz, indem sie darauf reduziert wird, Leistungen zu verteilen oder zu sperren. In dieser Strategie werden die
grundrechtlichen Einschnitte besonders deutlich:
Sie führt zu einer erheblichen Verarmung großer Teile der Erwerbslosen.
Die Kontrollen von Konten, von Einkünften von Verwandten und
Lebenspartnern, von Wohnungen u.ä. können auf einen weit größeren Personenkreis ausgedehnt werden.
Der Berufsschutz ist für Arbeitslosenhilfebeziehende ohnehin vollständig
eliminiert, da sie unabhängig von der erworbenen Qualifikation vermittelt werden. Bislang aber können sie noch eine Tätigkeit ablehnen, die
unter der Höhe ihrer bezogenen Leistung liegt. Wird die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, gelten für sie die Regelungen der sog.
"Gemeinnützigen Arbeit", d.h. die Beschäftigung für 50 Cent bis 2 Euro die Stunde in Parks, auf Friedhöfen oder bei
Wohlfahrtsverbänden.
Damit einher geht der umfassende Arbeitszwang, der zwar schon immer die
Arbeitsmarktpolitik bestimmt, inzwischen aber nie da gewesene Ausmaße erreicht hat. So resümiert der Deutsche Städtetag, dass im Jahr
2000 im Rahmen der "Hilfe zur Arbeit" 403000 Sozialhilfebeziehende bundesweit zur Arbeit verpflichtet wurden.
Auch bei den Erwerbslosen hat der Druck zugenommen. Diese Entwicklung lässt sich an
der Zunahme der Leistungssperren erkennen. Zukünftig werden sich z.B. durch das neue Job-Aqtiv-Gesetz eine Unzahl von Möglichkeiten
erschließen, Erwerbslose zu sperren, indem neue, gesetzlich sanktionierte Hürden aufgebaut werden. Über Jahre addiert, haben inzwischen
Millionen von Menschen derartige Maßnahmen durchlaufen, ohne dass sich ihre Perspektive erkennbar verbessert hätte. Es fehlen existenzsichernde
Arbeitsplätze, daran kann auch der "aktivierende Sozialstaat" kaum etwas ändern.
Die Arbeitslosenversicherung wird demnach nicht nur durch die Auslagerung der
Arbeitslosenhilfebeziehenden erheblich entlastet, sondern auch durch die Anstrengungen der Arbeitsämter, bspw. sinnlose "Qualifizierungen"
und Trainingsmaßnahmen zu erzwingen, aus denen viele Erwerbslose voraussehbar wieder aussteigen, weil sie keine Beschäftigungswirkung
zeitigen und weil es als Demütigung empfunden wird, dass eigene Interessen und die erworbene Qualifikation überhaupt keine Rolle spielen.
Auch zuvor war unübersehbar, dass die Verletzung von Grundrechten konstitutiv sowohl
im Bundessozialhilfegesetz als auch im Sozialgesetzbuch III angelegt ist. Inzwischen ist in den Planungen und "Reform"vorschlägen eine
gewisse Unbekümmertheit zu beobachten, so z.B. wenn Roland Koch vorschlägt, dass auch Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosenhilfe
"Gemeinnützige Arbeit" verrichten sollen. Wo die gegenwärtige Gesetzgebung noch zu liberal erscheint, wird schlicht erwogen, dann
eben die Gesetze zu ändern.
Während SPD-Experten die stufenweise Annäherung des Arbeitslosengeldes an
die Sozialhilfe planen, versucht das CDU-Modell einen Schritt weiter zu gehen. Es ist an den Entwürfen zu einer veränderten Regelung des
Krankenversicherungssystems orientiert. Eine Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen wird vorgeschlagen, bei der man sich durch höhere
Versicherungsbeiträge weniger Zwang und mehr Leistungen der Arbeitsämter erkaufen kann. In beiden Modellen wird die Arbeitslosenhilfe
abgeschafft.
Die Tendenz ist eindeutig. Die schon eingeleiteten und die geplanten "Reformen"
des Arbeitsmarkts zielen auf ein neues Gesellschaftsmodell ab, in dem die Kosten sozialer Sicherung zunehmend privatisiert werden. Die bloße
Armenfürsorge würde zukünftig an die Stelle sozialstaatlicher Verpflichtung treten. Das System der sozialen Sicherung wäre damit
gekippt.
Die Voraussetzungen für die allseitige Verfügbarkeit von Erwerbsfähigen wurden in den letzten Jahren auf vielfältige Weise
geschaffen. Die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Abschaffung des Berufsschutzes und die Ausweitung der Spielräume für Zeit- bzw.
Leiharbeit haben den Boden für eine allgemeine Lohnabsenkung bereitet.
Viele Menschen, die ihre Arbeit "verlieren", können inzwischen gewiss sein,
dass sie sich bei einem neuen Job auf eine schlechtere Bezahlung einstellen müssen. Die Nähe zu Hungerlöhnen (d.h. der Lohn beträgt
höchstens zwei Drittel des regional gezahlten Durchschnittslohns) wird immer häufiger erreicht, weil selbst die Arbeitsämter in Stellen
vermitteln, die sittenwidrig unterhalb dieses Durchschnittsniveaus entlohnt werden.
Auch die ohnehin geringen Sozialleistungen geraten unter Druck, nicht nur durch die oben
aufgeführten Planungen zur Kürzung des Arbeitslosengeldes und zur Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Auch die Sozialhilfe selbst wird in Angriff
genommen. Bislang noch müssen Sozialleistungen und sog. "Einmalige Beihilfen" individuell nach dem tatsächlichen Bedarf ausgezahlt
werden, wobei die Praxis der Kommunen und einzelner Sachbearbeiter z.T. stark differiert. Verweigerung oder Kürzung von Leistungen sind an der
Tagesordnung und beschäftigen seit Jahren Sozialgerichte.
Jetzt aber schreiben die gegenwärtig laufenden Modellprojekte in einzelnen Kommunen
die Pauschalierung von Miete, Heizung u.a. fest, die die realen Kosten nicht mehr abdeckt, wie erste Ergebnisse in Kassel zeigen. Damit wird das
Sozialhilfeniveau schleichend abgesenkt. Für die Kommunen führt dies zwar zu Einsparungen, für die Betroffenen allerdings bedeutet es
drohende Obdachlosigkeit.
Besonders in Ostdeutschland toben anarchische Zustände auf dem Arbeitsmarkt, wenn es um die Verteilung der wenigen Arbeitsplätze
geht. Die Situation für die Menschen dort ist sowohl materiell als auch sozial weitaus widersprüchlicher und prekärer.
Aufgrund der für die DDR konstitutiven Erwerbszentrierung hat Lohnarbeit eine sehr
starke soziale und psychische Dimension, sie war eingebunden in soziale Kontakte, Freizeit und Sinnstiftung. Diese historisch gewachsenen psychosozialen
Verhältnisse werden häufig schamlos ausgebeutet durch sinnlose, entwürdigende Dauerzuweisungen in Trainingsmaßnahmen und
ABM-Stellen, manchmal unterbrochen durch befristete Jobs mit Gehältern, die nur noch als Lohndumping bezeichnet werden können und ein Leben
in Würde trotz Arbeit nicht mehr zulassen.
Diese Entwicklung breitet sich sukzessive auch im Westen aus und bestimmt zunehmend die
Lebensrealität. Sozialleistungen, die auch ohne die geplanten Kürzungen nicht oder kaum zum Leben reichen, gepaart mit extensiv praktiziertem
Arbeitszwang bereiten den Boden für eine Lohnstruktur, wie sie noch vor einigen Jahren kaum vorstellbar war.
Mit staatlichen "Mobilitätshilfen" wird die absurde Situation geschaffen,
dass vor allem jüngere Erwerbsfähige Regionen Ostdeutschlands verlassen, um im Westen nach Arbeit zu suchen. Gefördert wird auf diese
Weise die schleichende Verödung von Kommunen und Landstrichen, so als habe man sie aufgegeben.
Die Voraussetzung dafür, diese Praxis durchzusetzen und Akzeptanz in der
Bevölkerung herzustellen, besteht in der unentwegten, propagandistischen Offensive. Die organisierte Verantwortungslosigkeit und der Weg in den
"autoritären Staat" sind nur durchsetzbar, wenn die bürgerliche Mitte sich als Profiteure der Gesellschaftsordnung wahrnimmt und Wege
findet, sich von der Armutsbevölkerung abzugrenzen.
Dazu gehört eine Apparatur, die Meinungen formt und Begriffe entweder als antiquiert
entwertet oder sie inhaltlich neu besetzt. Redewendungen und Begriffe wie "mehr Eigenverantwortung" (die in Wahrheit die Verlagerung der
sozialen Aufwendungen nach unten meint) oder "Fördern und Fordern" (womit real der Ausbau des Arbeitszwangs intendiert ist) sind
täglich zu vernehmende eingängige Worthülsen, die man inzwischen selbst von Menschen hören kann, die ansonsten eigentlich eine
kritische Perspektive gegenüber der umfassenden Ökonomisierung des Sozialen haben. Im Zentrum steht der Mensch mit seiner allseitigen
Verwertbarkeit und Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt.
Christa Sonnenfeld