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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2002, Seite 6

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Der rot-grüne Angriff auf die sozialen Grundrechte hat System

Nicht erst seit der bekannt gewordenen Datenmanipulation der Bundesanstalt für Arbeit ist der ohnehin zurückgenommene Sozialstaat unter erheblichen Druck geraten. Schleichend und stetig wird das System der sozialen Sicherung Bismarck‘scher Prägung geschliffen. Soziale Grundrechte werden weiter und nachhaltiger denn je verletzt. Der "Skandal" der Bundesanstalt aber hat nachgerade Schleusen und Schubladen geöffnet, in denen schon lange abrufbereite Konzepte lagen, die das System sozialer Sicherung endlich in Angriff nehmen sollten. Es scheint, als hätten politische Funktionäre und intellektuelle Zuarbeiter nur auf die Eröffnungen des Bundesrechnungshofs gewartet oder den Prozess sogar in Gang gesetzt.

Bereits ein Jahr nach der rot-grünen Regierungsübernahme wurde eine Steuerreform (mit einem Einsparungsvolumen von ca. 20 Milliarden Mark) zugunsten der Unternehmen verabschiedet (siehe S.6). Erst allmählich bekommen wir deren Folgen zu spüren, so bspw. durch die Finanznot der Kommunen. Hinzu kommt der Druck durch die EU-Kommission auf die "Hochlohnländer", die Lohnnebenkosten weiter zu senken und die Sozialleistungen zu kürzen.
Dies bedeutet nicht nur einen Angriff auf die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, sondern auch die Entlastung der Unternehmen. Die "Rentenreform" war in diesem Umverteilungskontext der Anfang, mit der die paritätisch finanzierte Sicherung aufgegeben wurde.
Für eine höchstmögliche Kapitalverwertung ist der Sozialstaat schon immer ein Hindernis. Auch unter dieser Regierung werden all die Planungen, sozialstaatliche Leistungen auf ein Minimum zu reduzieren oder gänzlich einzustellen, in die Praxis umgesetzt. Mit Widerstand ist in der Bevölkerung kaum zu rechnen, nicht zuletzt, weil eine ununterbrochene Propagandamaschinerie den Bürgerinnen und Bürgern Grundrechtsverletzungen als schmerzliche, aber notwendige Maßnahmen zumutet, als alternativlose Strategie, die den Staat nicht mehr als Zwangsapparatur erkennen lässt.
Der Verfassungsrechtler Winfried Hassemer beklagte schon 1997, dass die Bereitschaft, Grundrechtspositionen aufzugeben, auch in der Bevölkerung steige. Der Staat nutze diese Haltung wiederum, um sich neue Befugnisse zu schaffen.

Lohnsenkung und Arbeitslosenversicherung

Der Privatisierung der Alterssicherung, die als Reform ausgegeben wird, folgt nun mit großen Schritten die Zurücknahme von Leistungen der Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Gerade bei letzterer wird dabei auf unterschiedlichen Ebenen strategisch operiert, um die Lohnnebenkosten und damit die Beitragszahlungen der Arbeitgeber zu senken.
Über die Lohnsubventionierung, insbesondere den Kombilohn, werden Löhne tatsächlich gesenkt. Löhne werden von staatlicher Seite nur befristet subventioniert. Danach bilden sie das Niveau der "neuen" Niedriglöhne, das 20—30% unter dem bisherigen Niedriglohntarif liegt.
Der vormalige Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstags, Hans Peter Stihl, wollte denn auch den Kombilohn bereits 1997 als "trojanisches Pferd" verstanden wissen, da er gesellschaftliche Akzeptanzprobleme befürchtete, wenn die Lohnnebenkosten — und damit einhergehend die Löhne — abrupt gekürzt würden. Mit der Lohnsubventionierung ist es dann — unter Berufung auf das Lohnabstandsgebot — möglich, auch den Regelsatz der Sozialhilfe abzusenken.
Parallel dazu geht die Bundesregierung auch bei der Senkung der Sozialleistungen für Erwerbslose in die Offensive. In ihrem Konzept soll die Arbeitslosenhilfe ganz abgeschafft und ca. 1,6 Millionen Beziehende sollen in die Sozialhilfe überführt werden. Die Bundesanstalt für Arbeit hätte dann eine andere Funktion: sie verwaltet die Beziehenden von Arbeitslosengeld, von denen viele erfahrungsgemäß relativ schnell wieder eine Erwerbsarbeit finden.
Darüber hinaus wird sie, da Vermittlung und Qualifizierung so weit wie möglich privatisiert werden, zur bloßen Ordnungsinstanz, indem sie darauf reduziert wird, Leistungen zu verteilen oder zu sperren. In dieser Strategie werden die grundrechtlichen Einschnitte besonders deutlich:
Sie führt zu einer erheblichen Verarmung großer Teile der Erwerbslosen.
Die Kontrollen von Konten, von Einkünften von Verwandten und Lebenspartnern, von Wohnungen u.ä. können auf einen weit größeren Personenkreis ausgedehnt werden.
Der Berufsschutz ist für Arbeitslosenhilfebeziehende ohnehin vollständig eliminiert, da sie unabhängig von der erworbenen Qualifikation vermittelt werden. Bislang aber können sie noch eine Tätigkeit ablehnen, die unter der Höhe ihrer bezogenen Leistung liegt. Wird die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, gelten für sie die Regelungen der sog. "Gemeinnützigen Arbeit", d.h. die Beschäftigung für 50 Cent bis 2 Euro die Stunde in Parks, auf Friedhöfen oder bei Wohlfahrtsverbänden.
Damit einher geht der umfassende Arbeitszwang, der zwar schon immer die Arbeitsmarktpolitik bestimmt, inzwischen aber nie da gewesene Ausmaße erreicht hat. So resümiert der Deutsche Städtetag, dass im Jahr 2000 im Rahmen der "Hilfe zur Arbeit" 403000 Sozialhilfebeziehende bundesweit zur Arbeit verpflichtet wurden.
Auch bei den Erwerbslosen hat der Druck zugenommen. Diese Entwicklung lässt sich an der Zunahme der Leistungssperren erkennen. Zukünftig werden sich z.B. durch das neue Job-Aqtiv-Gesetz eine Unzahl von Möglichkeiten erschließen, Erwerbslose zu sperren, indem neue, gesetzlich sanktionierte Hürden aufgebaut werden. Über Jahre addiert, haben inzwischen Millionen von Menschen derartige Maßnahmen durchlaufen, ohne dass sich ihre Perspektive erkennbar verbessert hätte. Es fehlen existenzsichernde Arbeitsplätze, daran kann auch der "aktivierende Sozialstaat" kaum etwas ändern.
Die Arbeitslosenversicherung wird demnach nicht nur durch die Auslagerung der Arbeitslosenhilfebeziehenden erheblich entlastet, sondern auch durch die Anstrengungen der Arbeitsämter, bspw. sinnlose "Qualifizierungen" und Trainingsmaßnahmen zu erzwingen, aus denen viele Erwerbslose voraussehbar wieder aussteigen, weil sie keine Beschäftigungswirkung zeitigen und weil es als Demütigung empfunden wird, dass eigene Interessen und die erworbene Qualifikation überhaupt keine Rolle spielen.
Auch zuvor war unübersehbar, dass die Verletzung von Grundrechten konstitutiv sowohl im Bundessozialhilfegesetz als auch im Sozialgesetzbuch III angelegt ist. Inzwischen ist in den Planungen und "Reform"vorschlägen eine gewisse Unbekümmertheit zu beobachten, so z.B. wenn Roland Koch vorschlägt, dass auch Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosenhilfe "Gemeinnützige Arbeit" verrichten sollen. Wo die gegenwärtige Gesetzgebung noch zu liberal erscheint, wird schlicht erwogen, dann eben die Gesetze zu ändern.
Während SPD-Experten die stufenweise Annäherung des Arbeitslosengeldes an die Sozialhilfe planen, versucht das CDU-Modell einen Schritt weiter zu gehen. Es ist an den Entwürfen zu einer veränderten Regelung des Krankenversicherungssystems orientiert. Eine Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen wird vorgeschlagen, bei der man sich durch höhere Versicherungsbeiträge weniger Zwang und mehr Leistungen der Arbeitsämter erkaufen kann. In beiden Modellen wird die Arbeitslosenhilfe abgeschafft.
Die Tendenz ist eindeutig. Die schon eingeleiteten und die geplanten "Reformen" des Arbeitsmarkts zielen auf ein neues Gesellschaftsmodell ab, in dem die Kosten sozialer Sicherung zunehmend privatisiert werden. Die bloße Armenfürsorge würde zukünftig an die Stelle sozialstaatlicher Verpflichtung treten. Das System der sozialen Sicherung wäre damit gekippt.

Absenkung des Sozialhilfeniveaus

Die Voraussetzungen für die allseitige Verfügbarkeit von Erwerbsfähigen wurden in den letzten Jahren auf vielfältige Weise geschaffen. Die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Abschaffung des Berufsschutzes und die Ausweitung der Spielräume für Zeit- bzw. Leiharbeit haben den Boden für eine allgemeine Lohnabsenkung bereitet.
Viele Menschen, die ihre Arbeit "verlieren", können inzwischen gewiss sein, dass sie sich bei einem neuen Job auf eine schlechtere Bezahlung einstellen müssen. Die Nähe zu Hungerlöhnen (d.h. der Lohn beträgt höchstens zwei Drittel des regional gezahlten Durchschnittslohns) wird immer häufiger erreicht, weil selbst die Arbeitsämter in Stellen vermitteln, die sittenwidrig unterhalb dieses Durchschnittsniveaus entlohnt werden.
Auch die ohnehin geringen Sozialleistungen geraten unter Druck, nicht nur durch die oben aufgeführten Planungen zur Kürzung des Arbeitslosengeldes und zur Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Auch die Sozialhilfe selbst wird in Angriff genommen. Bislang noch müssen Sozialleistungen und sog. "Einmalige Beihilfen" individuell nach dem tatsächlichen Bedarf ausgezahlt werden, wobei die Praxis der Kommunen und einzelner Sachbearbeiter z.T. stark differiert. Verweigerung oder Kürzung von Leistungen sind an der Tagesordnung und beschäftigen seit Jahren Sozialgerichte.
Jetzt aber schreiben die gegenwärtig laufenden Modellprojekte in einzelnen Kommunen die Pauschalierung von Miete, Heizung u.a. fest, die die realen Kosten nicht mehr abdeckt, wie erste Ergebnisse in Kassel zeigen. Damit wird das Sozialhilfeniveau schleichend abgesenkt. Für die Kommunen führt dies zwar zu Einsparungen, für die Betroffenen allerdings bedeutet es drohende Obdachlosigkeit.

Anarchie im Osten

Besonders in Ostdeutschland toben anarchische Zustände auf dem Arbeitsmarkt, wenn es um die Verteilung der wenigen Arbeitsplätze geht. Die Situation für die Menschen dort ist sowohl materiell als auch sozial weitaus widersprüchlicher und prekärer.
Aufgrund der für die DDR konstitutiven Erwerbszentrierung hat Lohnarbeit eine sehr starke soziale und psychische Dimension, sie war eingebunden in soziale Kontakte, Freizeit und Sinnstiftung. Diese historisch gewachsenen psychosozialen Verhältnisse werden häufig schamlos ausgebeutet durch sinnlose, entwürdigende Dauerzuweisungen in Trainingsmaßnahmen und ABM-Stellen, manchmal unterbrochen durch befristete Jobs mit Gehältern, die nur noch als Lohndumping bezeichnet werden können und ein Leben in Würde — trotz Arbeit — nicht mehr zulassen.
Diese Entwicklung breitet sich sukzessive auch im Westen aus und bestimmt zunehmend die Lebensrealität. Sozialleistungen, die auch ohne die geplanten Kürzungen nicht oder kaum zum Leben reichen, gepaart mit extensiv praktiziertem Arbeitszwang bereiten den Boden für eine Lohnstruktur, wie sie noch vor einigen Jahren kaum vorstellbar war.
Mit staatlichen "Mobilitätshilfen" wird die absurde Situation geschaffen, dass vor allem jüngere Erwerbsfähige Regionen Ostdeutschlands verlassen, um im Westen nach Arbeit zu suchen. Gefördert wird auf diese Weise die schleichende Verödung von Kommunen und Landstrichen, so als habe man sie aufgegeben.
Die Voraussetzung dafür, diese Praxis durchzusetzen und Akzeptanz in der Bevölkerung herzustellen, besteht in der unentwegten, propagandistischen Offensive. Die organisierte Verantwortungslosigkeit und der Weg in den "autoritären Staat" sind nur durchsetzbar, wenn die bürgerliche Mitte sich als Profiteure der Gesellschaftsordnung wahrnimmt und Wege findet, sich von der Armutsbevölkerung abzugrenzen.
Dazu gehört eine Apparatur, die Meinungen formt und Begriffe entweder als antiquiert entwertet oder sie inhaltlich neu besetzt. Redewendungen und Begriffe wie "mehr Eigenverantwortung" (die in Wahrheit die Verlagerung der sozialen Aufwendungen nach unten meint) oder "Fördern und Fordern" (womit real der Ausbau des Arbeitszwangs intendiert ist) sind täglich zu vernehmende eingängige Worthülsen, die man inzwischen selbst von Menschen hören kann, die ansonsten eigentlich eine kritische Perspektive gegenüber der umfassenden Ökonomisierung des Sozialen haben. Im Zentrum steht der Mensch mit seiner allseitigen Verwertbarkeit und Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt.

Christa Sonnenfeld



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