SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2002, Seite 9

Wird Europa ‘haiderisiert‘?

Aufstieg von Rechtsextremismus und Rechtspopulismus

Der Aufstieg des Rechtsextremismus und Rechtspopulismus im heutigen Europa verbindet sich mit einem fundamentalen Paradigmenwechsel. Rechtsextremismus und Rechtspopulismus haben aufgehört, ein historisches "Überbleibsel", etwas "Exotisches" zu sein. Aus einem relativen gesellschaftlichen Randphänomen ist eine zentrale politische Frage geworden.
Rechtsextremisten und Rechtspopulisten fahren bei Wahlen wahre Spitzenresultate ein. Der Vlaams Blok kam in Antwerpen auf 33%, die "Liste Pim Fortuyn" in Rotterdam gar auf 35%. Le Pen erreichte die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahlen.
Rechtspopulisten sitzen in Österreich, Dänemark und Portugal in der Regierung. Im italienischen Kabinett sind sie gleich mit zwei Parteien vertreten: der Alleanza Nazionale und der Lega Nord.
In Norwegen stützt die Fortschrittspartei die Mitte-Rechts-Regierung von außen. In Ungarn war es der rabiate Antisemit Csurka, der Vorsitzende der "Wahrheits- und Lebenspartei" MIEP, der dem inzwischen abgewählten früheren Minsterpräsidenten Orban Flankenschutz gewährte.
In der BRD hat Möllemann — die meiste Zeit mit Unterstützung von Westerwelle — versucht, die FDP rechtspopulistisch umzupolen. Und die europäischen Rechtsextremisten und Rechtspopulisten unternehmen Anstrengungen sich zu koordinieren. Das wichtigste Ereignis auf diesem Gebiet war ein Treffen in Österreich im November 2001, organisiert von dem unverdaulichen rechten Kampfblatt Zur Zeit.
Der schwarz-blauen österreichischen Regierung war das reaktionäre Stelldichein eine Subvention in Höhe von 60000 Euro wert. Dabei agierte die FPÖ aus taktischen Gründen eher zurückhaltend. Aber die "christliche" ÖVP wollte sich nicht lumpen lassen. Von der FPÖ über den Le-Pen-Konkurrenten Mégret bis hin zu Csurka war nahezu alles vertreten.
Der Wille, gemeinsam zu agieren, ist da, Haider hat in einem Profil-Interview auch die inhaltliche Stoßrichtung umrissen: "Ein Gegenprogramm gegen den bürokratischen Wahnsinn von Brüssel." Man muss allerdings festhalten, dass bisher daraus nichts Konkretes gefolgt ist.

Das Ensemble der Verhältnisse

Jeder Versuch den Aufstieg des Rechtsextremismus und Rechtspopulismus monokausal zu erklären, ist zum Scheitern verurteilt; ebenso eine bloß oberflächliche, phänomenologische Betrachtungsweise, wie etwa: "Die Modernisierungsverlierer gehen nach rechts" oder "Die Osterweiterung der EU führt zu grassierenden Ängsten". Was vielmehr nottut, ist die konkrete Erklärung eines "Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse" (Marx). Die wichtigsten Elemente dieses Ensembles sind:
• Die dramatische Verschärfung der ökonomischen, sozialen und politischen Situation. Um nur einige Stichworte zu nennen: steigende Arbeitslosigkeit und Anwachsen der prekären Arbeitsverhältnisse, Abbau des Sozialstaats, Neoliberalismus und Globalisierung, zunehmende Unsicherheit der Lebensverhältnisse in allen Bereichen, Aufbau der "Festung Europa".
• Diese Vorgänge sind an sich schlimm genug. Aber sie wirken deswegen so zersetzend, weil sie die traditionelle Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften, die Linke insgesamt weitgehend unvorbereitet, "ideologisch entwaffnet", treffen. Als die neoliberale Wende einsetzte, war man im Geist der "Sozialpartnerschaft" gefangen. Die sozialdemokratischen Regierungen — auch Rot- Grün in der BRD — lehnten sich argumentativ und real stark an den Neoliberalismus an.
Der Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa und in der Sowjetunion führte zur Diskreditierung eines jeglichen gesellschaftlichen Alternativentwurfs.
All diese Faktoren in ihrer gegenseitigen Verschränkung und Verdichtung bewirken eine umfassende gesellschaftliche Sinnkrise — im materialistischen, nicht esoterischen Sinn.
Rechtsextremismus und Rechtspopulismus können auf dieser Basis üppig ins Kraut schießen. Dies gelingt umso leichter, als sie einen Formwandel durchgemacht haben: Der aktuelle Rechtspopulismus ist nicht identisch mit dem klassischen Rechtsextremismus. Er hat sich — teilweise und von Land zu Land verschieden — "modernisiert". Pointiert gesagt: Mit Haken- und Mutterkreuz-Parolen und Slowenen-Hatz käme die Haider-FPÖ nie auf 27% der Stimmen. So schreiben die Rechtspopulisten in Wirtschaftsfragen von den Neoliberalen ab. Folgendes Zitat ist nicht von Hayek, sondern von den deutschen REPs: "Es ist unzweifelhaft, dass marktwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaften ihre unbestrittenen Vorteile bei der effektiven Allokation der Produktionsfaktoren haben." Vom einstigen faschistischen "Primat der Politik" ist kaum noch etwas übriggeblieben; ebenso vom braunen Gerede von der "Volksgemeinschaft" und der Notwendigkeit einer "organischen Wirtschaft".
Dieser "Modernisierungsprozess" ist weder abgeschlossen, noch irreversibel. Der Kanon traditioneller rechtsextremer Politik kann unter Umständen wieder die Oberhand gewinnen.
Wie reagieren nun die etablierten politischen Kräfte auf das Anwachsen der Rechtsextremisten und Rechtspopulisten? Das "offizielle" Europa driftet weiter nach rechts — siehe die Ergebnisse des jüngsten EU- Gipfels in Sevilla.
Die Konservativen machen vermehrt Anleihen bei ganz rechts. Chirac übernimmt zu einem Gutteil die "Sicherheits"-Vorstellungen Le Pens. Österreichs Bundeskanzler Schüssel warnt davor, dass man "wegen eines Populisten [gemeint ist Möllemann] eine ganze Wählergruppe ächtet" (Focus, Nr.28, 2002). Orban organisiert einen "Aufstand der Unanständigen". Bei der kürzlichen Brückenbesetzung seiner Anhänger in Budapest wurden Kritiker mit Sprechchören "Juden! Juden!" niedergeschrien.
Die Sozialdemokratie liefert ein mehr als trauriges Schauspiel. Blair bildete mit dem Konservativen Aznar eine Achse und machte sich für Kriegsschiffe (!) gegen "illegale" Immigranten stark. Die französische Sozialdemokratie lernte nichts aus ihrer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen und bekam bei den Parlamentswahlen erneut einen auf den Deckel. Und der Vorsitzende der SPÖ, Gusenbauer, der an einem Strategiepapier für alle sozialdemokratischen Parteien Europas arbeitet, sagt lapidar: "Meine Antwort auf den stärker werdenden Nationalismus und Rechtspopulismus ist mehr Europa" (Kurier, 25.5.). Da werden sich die Arbeitslosen oder die "Beitrittskandidaten" aber etwas von abbeißen können…

Gegenkräfte

Es gibt auch Anlass zu vorsichtiger Hoffnung — vor allem bei Teilen der Gewerkschaften. Es kam zu Generalstreiks in Italien, Spanien und Griechenland. Diese Entwicklung findet auch auf politischer Ebene einen gewissen Niederschlag. Der CGIL-Führer Sergio Cofferati hat dem "Linksbündnis" um die Linksdemokraten (DS) den Rang abgelaufen. Rifondazione Comunista hat sich weiter nach links entwickelt.
Bertinotti hat den traditionellen Volksfront-Antifaschismus grundsätzlich kritisiert und plädiert für neue kämpferische Linksparteien in engem Kontakt mit den Gewerkschaften und Bewegungen. In einigen — ehemaligen — Kommunistischen Parteien gewinnen Strömungen an Boden, die von Rifondazione "lernen" wollen.
Wie können sich in dieser Situation die Bewegungen, die radikale Linke einbringen? Sicher kann es nicht darum gehen, die Schublade aufzumachen und fix und fertige "Konzepte" anzubieten. Drei Dinge sind aber möglich:
• Dem rechtsextremen/rechtspopulistischen Diskurs gilt es sich zu stellen. Vor allem ist die Diskrepanz zwischen den realen gesellschaftlichen Problemen, die der Rechtsextremismus/ Rechtspopulismus aufgreift, und seinen demagogischen "Antworten" aufzuzeigen.
• Es ist unerlässlich, Aufklärung mit realen Kämpfen — etwa der Frauen, der Umweltbewegung, der Gewerkschaften — zu verbinden. So kann punktuell und schrittweise verlorengegangenes Selbstvertrauen wiedergewonnen werden.
• Einzelne Kämpfe müssen untereinander vernetzt werden. Es ist gut, "da zu sein", wenn sich die "Großen dieser Welt" bei G8- und sonstigen Gipfeln treffen und ihnen die rote Karte zeigen. Das allein reicht aber nicht aus. Entscheidend ist, eigene Projekte zu entwickeln. Einerseits müssen wir — ausgehend von konkreten Erfahrungen — eine andere, bessere, hoffentlich sozialistische Welt andenken. Andererseits sind politische Kampagnen dazu geeignet, Plattformen zu schaffen, die die zerstreuten Kräfte bündeln, bei gleichzeitigem Respekt der Pluralität.
Es wäre nicht schlecht, wenn bei den Wahlen zum Europaparlament 2004 die Bewegungen und die radikale Linke — in welcher Form auch immer — sich kräftig einmischen würden.

Hermann Dworczak (Wien)



zum Anfang